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Fantasien über meine Vaterstadt L.

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Halten Sie sich nicht das Näschen zu, mein Fräulein, wenn Sie, zum ersten Mal die Straßen meiner geliebten Vaterstadt durchschreitend, durch den in einigen derselben herrschenden, Fremde mehr oder weniger beleidigenden Unwohlgeruch unangenehm berührt werden sollten. Das ist nämlich kein gewöhnlicher Gestank, das ist ein Gestank, wie ihn nicht jede Stadt besitzt, das ist ein Millionengestank.

Sie schauen mich mit Ihren schönen Augen fragend an?

Oh, mein Fräulein, ich muß suchen, Ihnen verständlich zu werden. Wenn ein Mensch nach Petroleum oder Leder duftet, so werden Sie sicher neben andern, weniger liebenswürdigen Gedanken auch den haben, dieser Mensch handle mit Petroleum oder Leder.

Wenn dieser Mensch stark nach den erwähnten Handelsartikeln duftet, werden Sie die gewiß nicht unbegründete Vermutung aufstellen, er mache gute Geschäfte; wenn er aber nun sehr stark, sehr eindringlich jene merkantilen Gerüche ausströmt, – werden Sie nicht willkürlich zu der Annahme gelangen, dieser Mensch müsse sehr, ja außerordentlich reich sein, vielleicht Millionär – – mein Fräulein, Sie verstehen jetzt den Ausdruck »Millionengestank«. Mit einer Stadt liegen die Sachen natürlich gerade so wie mit dem einzelnen Manne, – und ich kann es zur Ehre meiner Vaterstadt sagen – dieselbe riecht wahrhaft wohlhabend, stinkt sozusagen behäbig .

Immerhin gibt es selbst in L. einige Straßen, welche an einer wahrhaft armseligen Geruchlosigkeit leiden, so besonders die Straße, in welcher das Theater liegt. Welch ein bedauerliches Institut! Wer verdient denn etwas dabei? Kaum der Direktor; denn die weit einträglicheren und erfolgreicheren Geschäfte, welche gewisse Damen vom Theater zuweilen mit wohlaccreditierten L.’er Herren eingehen, sind viel zu diskreten – Geruches um hier erwähnt zu werden. Aber das Theater mitsamt der ganzen pöbelhaft geruchlosen Straße sind eigentlich nur ein großes Siegesdenkmal, ein Denkmal des siegreichen Verstandes der unübertrefflichen L.’er.

Oder ist es nicht ein wahrhaft genialer Gedanke, gerade in diese Straße und in unmittelbarster Nähe des Theaters ein Institut zu legen, welches die schlechten und geruchlosen Eigenschaften der Kunsthalle wenigstens einigermaßen zu heben im Stande ist? – ich meine nämlich die Börse. »Welch’ ein genialer Gedanke!« muß ich wiederholen, wenn ich zur Mittagsstunde die meist schon aus der Ferne einen recht behäbigen Eindruck machenden Kaufherrn daherkommen sehe; einen Eindruck, der in der Nähe durch den lieblichsten Geruch bedeutend erhöht wird. Und mit diesem Duft, der unauslöschlich an ihnen haftet, mit diesem Duft von Käse, Petroleum, Schmalz, Leder etc. etc. schwängern und – bereichern sie die Luft, und dieser Duft – –

Oh, mein Fräulein, die Worte versagen mir, und in überströmender Bewunderung vermag ich nur auszurufen: »Welch’ ein genialer Gedanke!«

Es ist doch gut, daß L. nur ein Theater besitzt. Man denke sich, es seien etwa ein halbes Dutzend Straßen von derartiger fataler Geruchlosigkeit zu befreien: – ich fürchte, ich fürchte, selbst den L.’er gingen auf die Dauer die genialen Gedanken aus. Aber Gott sei Dank, L. hat nur ein Theater.

(1889) Essay. Posthum veröffentlicht in Sinn und Form 1/1963, hier: Klein, W. Hg. u. a., Essays und Publizistik, Bd. 1., S. 389f.

Anfang und Ziel ist der Mensch

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