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Geist und Tat
ОглавлениеEine zentrale Figur in Nietzsches Philosophie ist der zur Tat schreitende, geistige Mensch und die »Verachtung der dumpfen, unsauberen Macht«, wie es in Heinrich Manns Essay Geist und Tat heißt. Doch bevor Heinrich Mann von 1910 an mehr und mehr in die Rolle des intellektuellen Wortführers zur Gestaltung einer besseren Gesellschaft hineinwuchs, verfasste er mit Professor Unrat, Zwischen den Rassen und vor allem dem Roman Die kleine Stadt, der 1909 erschien, gesellschaftskritische Werke, die sich vom Kult des Individualismus und Ästhetizismus abwandten und mit kritischem Blick auf die Gegenwart schauten. In seinem Roman Die kleine Stadt inszenierte er am Beispiel italienischer Lebenskultur einen Gegenentwurf zur wilhelminischen Untertanengesellschaft. In Gestalt der Mitglieder einer fahrenden Theatertruppe und der Bürger der kleinen italienischen Stadt, in der die Schauspieler gastieren, treffen zwei Welten aufeinander, sind Kunst und Leben Teil eines vielfältigen Reigens. Die Kultur, besonders deren musikalische Form, spielt im Roman wie in Heinrich Manns Leben eine zentrale Rolle; sie wird für ihn nicht nur im Roman zum prägenden Element des gesellschaftlichen Fortschritts. Von ihr geht der Impuls zu einer demokratischen Lebensform aus. Heinrich Mann selbst schrieb über Die kleine Stadt: »Was hier klingt ist das hohe Lied der Demokratie. Es ist da, um zu wirken in einem Deutschland, das ihr endlich zustrebt.« Den Weg zur demokratischen Lebensweise zeigte er in dem Zola gewidmeten Essay auf. In der Spiegelung von dessen Lebensgeschichte erklärte er auch seine eigene. Der Essay Zola erschien 1915. Er ist ein wahres Kunstwerk des Versteckens und Anklagens. Zolas Leben und das des Autors, deren Gedanken fließen hin und her und verschränken sich, sodass die Vergangenheit in die Gegenwart rückt und umgekehrt. Allein diese kunstvolle Form der Verhüllung ermöglichte es, dass diese Anklageschrift während des Krieges erscheinen konnte. Am Scheidepunkt des Wilhelminischen Reiches sprach Heinrich Mann sich darin im Namen Émile Zolas gegen die Monarchie, den Krieg und für die Republik, ihre Ideale der Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit aus. Zwei Schlüsselsätze aus diesem Manifest der Freiheit lauten: »Die Wahrheit und die Gerechtigkeit siegen trotz allem, nur darf es nicht verlauten. Der Sieg muß zweifelhaft bleiben.« Er musste zweifelhaft bleiben, weil die Stunde des Tages es erforderte. Die Stunde der Wahrheit und Gerechtigkeit war im Wilhelminischen Reich noch nicht gekommen, aber sie kündigte sich für kritische Zeitgenossen wie Heinrich Mann an. Da es zu den Eigenschaften der Vernunft gehört, zeitweilig zu ermüden, muss ständig um sie gerungen werden. Nur dann kann sie sich auch nach einer Phase der Erschlaffung kraftvoll zurückmelden. Sie ist mehr Hoffnung als Erfüllung. Dies erklärt der zweite Schlüsselsatz: »Wir können nichts tun, als kämpfen für die Ziele, die nie erreicht werden, aber von denen abzusehen schimpflich wäre, – kämpfen und dann dahingehn.«
Als er diese Zeilen schrieb, hatte er bereits sein nach dem Ersten Weltkrieg Furore machendes satirisches Meisterwerk Der Untertan abgeschlossen, das zunächst 1914 der Zensur zum Opfer fiel. Darin thematisiert er die fatale Neigung der Deutschen nach oben zu buckeln und nach unten zu stoßen. Oberflächlich betrachtet schien dieser menschenverachtende Untertanengeist mit dem Ende der Monarchie und der Niederlage des deutschen Militarismus 1918 überwunden. Doch Heinrich Mann zweifelte nicht daran, dass er in Wahrheit in den Tiefenstrukturen der Weimarer Republik fortleben würde. In dem Essay Kaiserreich und Republik entwickelte er, in welchem Maße die noch junge Demokratie auf den Trümmern des Kaiserreiches und seines missratenen Geistes fußte. Ihm war bewusst, dass es nicht ausreiche, die Republik auszurufen und in der Verfassung zu verbriefen; die Republik brauche Zeit, damit sie im Innern der Bürger wachsen könne.