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Reaction

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Doch alles ist Reaction! Mit diesem Schlagwort wird jede vernünftige Bestrebung, die Zukunft zu bessern, niedergeschlagen. Werden wir uns doch über die Begriffe klar. Die, welche den freien Gedanken zu vertheidigen vorgeben, vergessen gern die erste größte Wahrheit, die uns die Philosophie mitzutheilen hat: die Begriffe sind relativ. Der Begriff »Fortschritt« ist ebenso wenig absolut wie ein anderer; er kann also auch nicht dauernd derselben Partei wie derselben Geistesrichtung angehören. Die bürgerliche Revolution, die den heutigen Liberalismus zur Macht erhoben hat und auf die er sich beruft, bedeutete einst den Fortschritt. Sie ist mit aufrichtigen und hohen Idealen vom Gelehrtenthum und der lernenden Jugend angestrebt, vom Bürgerthum errungen worden, und sie hat wenigstens auf der einen Seite Erfolge erzielt, die niemand von uns entbehren möchte. Wir danken ihr ein großes Maaß bürgerlicher Freiheit, einen freieren Athem des öffentlichen Lebens, einen regeren Austausch der geistigen Erzeugnisse, zum Theil sogar die Machtstellung, welche Deutschland heute behauptet.

Auf der anderen Seite aber haben jene edlen und vertrauensseligen Bestrebungen, die dauernden politischen und wirtschaftlichen Ausgleich und Zufriedenheit bezwecken, keine andere als die geradezu und dennoch natürliche Folge gehabt, das Nationalvermögen und damit auch den politischen Einfluß in den Händen Weniger anzusammeln, die ohnehin zumeist mit unserem Volksthum wenig oder nichts gemein haben und ihm auf alle Weise zur Last fallen. Eine namenlose Verbitterung der besitzlosen Stände ist daraus hervorgegangen, so drohend und so stark, wie sie keiner der revolutionären Staatengebilde je gekannt hat. Für uns muß es sich darum handeln, daß dieser Verbitterung keinerlei neue Nahrung zugeführt und daß ihr die alte entzogen werde; daß die kapitalistische Ungerechtigkeit so viel wie möglich ihren Ausgleich erhalte. Wir wünschen die Ideale von 48 auch in dem Theile verwirklicht zu sehen, in welchem sie bisher fehlgeschlagen sind. Das ist in Wirklichkeit der Weg des Fortschrittes.

Läßt man alles in dem Sinne wie bisher weiter gehen, so werden wir nur bald am Ziele sein. Die Vielen, die unserer Kultur fremd geblieben sind, die an unsren Genüssen nicht theilgenommen haben, von unserer Kunst nichts und von unserer Wissenschaft nur das kennen, was ihnen den Verstand raubt – sie werden über diese gehaßte Cultur herfallen und das Ende wird eine Barbarei sein, von der wir keine Vorstellung haben. Dann, nur leider zu spät, wird Jeder wissen, daß Alles, was man heute Fortschritt nennt, Reaction war.

Es ist heute Reaction, für die unbeschränkte politische Freiheit, für Gewerbefreiheit und freie Konkurrenz einzutreten. Es ist eine rückständige und überlebte Meinung, Wissenschaft und Aufklärung für die Förderer der Zivilisation im unwissenden und armen Volk zu halten. Es ist ein reactionäres Verbrechen, Gott und die Unsterblichkeit zu leugnen.

Gleichwohl wird die Presse, die den Geschäftemachern und Spekulanten dient, fortfahren, dies alles Fortschritt zu nennen. Und leider wird man ihr bis tief in die staatserhaltenden Schichten hinein Glauben schenken. Die große Menge wird ihren ehrlichen aber unzeitgemäßen Idealen blindlings folgen und dadurch zu zahllosen Gimpeln werden, die sich von wenigen nüchternen Interessen leicht einfangen lassen. Je größer aber diese Menge ist, desto weniger vertritt sie den Fortschritt. Wann wäre dieser je bei der Menge gewesen? Er hat sich noch stets bei der Minorität befunden, die am Ende dennoch Recht behält.

(1895) Essay. Reaction, zuerst in: Das Zwanzigste Jahrhundert. Blätter für deutsche Art und Wohlfahrt, hg. v. H. Mann, Heft v. April 1895, hier: Klein, W. Hg. u. a., Essays und Publizistik, Bd. 1, S. 119–125, hier S. 124f.

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