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Antisemitismus im Geist der Zeit *
ОглавлениеDenn von einer »Religion« kann wohl auch bei den gebildeten »Reformjuden« kaum die Rede sein, die sich in »Freien Gemeinden« zusammenfinden, wie solche auch von Christen begründet werden, die der Kirchlichkeit dadurch zu widersprechen meinen, daß sie neue Sekten bilden. Es wird dort eine Freimaurermoral gelehrt, die von jeder Autorität losgelöst, gerade so willkürlich und unverbindlich ist, wie etwa die der »Ethischen Kultur«. Und einen, immerhin platonischen Sinn für Ethik mögen ja auch die Mitglieder der jüdischen Aristokratie besitzen, die noch erübrigt: die Hochfinanz.
Da ist der Typus des Mitbürgers, der mit einem Haufen schmutziger Wäsche (in mehrfacher Bedeutung) von Osten bei uns eingefallen ist. In Wien schien sich ihm die Kerkertür ein wenig weit zu öffnen, so entschließt er sich, den schon erworbenen Ruf hoher Begabung bei den »Glaubensgenossen« in Berlin zu verwerthen. Durch einige diskrete Hilfeleistungen, die ihm zugleich ein wenig, nicht für die Oeffentlichkeit bestimmtes Material über die Größe des Weltmarktes in die Hände liefern, weiß er sich unentbehrlich zu machen. Man betheiligt ihn einigemal an, wenigstens in Betreff des Erfolges, zweifellosen »Operationen«. Und plötzlich kann er seinen Gönnern die Zähne weisen. Er ist jetzt selbst eine Macht geworden und befindet sich auf der Höhe, wo der Diebstahl diesen Namen verliert, weil er sich nach Millionen berechnet. Um diese Zeit ist er beinahe ehrlich, da die kleinen Gaunereien das Risiko nicht mehr lohnen, das mit ihnen verknüpft ist. Man ahnt ihn jetzt regelmäßig hinter Vorgängen, die ein großes, nicht mehr zu zählendes und zu berechnendes Unglück (gegen das sich darum auch Niemand auflehnen kann) im Volke hervorbringen. Jeder Krach exotischer Werthe bringt seinen Namen auf alle Lippen, jede durch einen »Ring« vollzogene Vertheuerung eines notwendigen Verbrauchmittels trägt ihm tausend Verwünschungen ein. Aber was thut das, wenn ihn die Geschäftswelt fürchtet, wenn ihm die Presse dient und vielleicht sogar die politischen Gewalten ihn berücksichtigen! Im Übermut seines Glanzes oder auch in der Verlegenheit einer allzu gewagten Situation kann ihm wohl einmal eine kleine Unvorsichtigkeit passiren, von der Art, daß sie beim besten Willen nicht mehr zu übersehen ist. Er lernt den Undank des Menschengeschlechts kennen. Aber wenn selbst seine Freunde über ihn herfallen, die ihm Alles verdanken, so findet sich ein neuer Freund, den er gerade durch sein Unglück verpflichtet. Der berühmte Anwalt, vor dem alle Staatsanwälte zittern, reißt ihn mit sicherm Griff heraus. Und sollte er doch einmal mit der Nachtseite des Lebens Bekanntschaft machen müssen, so hat er rechtzeitig sein Haus bestellt und etwa auf den Namen der Frau ein paar Grundstücke übertragen – o, nur eine Kleinigkeit von zwei Millionen oder drei allerhöchstens. Diese sind dann doch aus dem Zusammenbruch gerettet und können, sobald die lächerliche Formalität der Gefängnisbuße überstanden, in Paris als Grundstock eines neuen Vermögens dienen. Aber zu diesem Aeußersten kommt es fast nie, und inzwischen kann er ruhig dem Haß trotzen, dessen Blick ihm folgt, wenn er überall in der Oeffentlichkeit seinen lärmenden Prunk ausbreitet, um sich auch so von anderer Rasse zu zeigen als diejenige unserer Großkaufleute es ist, deren ruhiger Wohlstand sich von jeher nur im Behagen ihrer Häuslichkeit bekundet hat. Wenn er mit seinem Tibury und seiner Cocotte die Linden lang fährt, sieht ihm verwundert der zu Fuß gehende Gardeleutnant nach, der den kleinen, schwarzborstigen, fahlen, schwammigen Menschen natürlich nur grotesk finden kann. Aber je bescheidener sein Dasein und je unkritischer sein Sinn, desto stärker muß das Volk, das gleichwohl noch lange nicht sozialistisch verführt ist, um die Notwendigkeit des Reichthums zu leugnen, diesen Fremdling hassen, dem es dunkel etwas Unheimliches ansieht, als rollten seine Räder über Tausend Leichen. Und hat nicht wirklich dieser Mann auf tausend vernichtete Existenzen seine Macht aufgerichtet wie eine unheilvolle Bestie, die einfach weil sie da ist, weil sie im Haushalte der Natur vorgesehen ist, den Tod um sich her verbreiten muß! Aber was allein den Menschen vom Tier unterscheidet, ihn von seiner Tierheit befreien kann, das ist der Ausgleich oder die Milderung des Kampfes ums Dasein. Jede andere »Kultur« ist hinfällig, so lange man die wilden Thiere im »freien Spiel der Kräfte« duldet, anstatt sie auszurotten oder in Käfige zu sperren! Dieser Mann hat, wie kein Anderer, die moralischen Werthungen verwirrt, das Bewußtsein der sozialen Pflichten und Gesetze geschwächt, verzweifelten Unglauben und haltlose Anarchie ringsum in den Geistern gesäet: – und dann stelle man ihn sich vor, wie er zwischen einem vortheilhaften »Abschluß« und einem diner fin zufällig einen antisemitischen Zeitungsartikel in die Hand bekommt und sich traurig wundert, warum man ihn denn seines Glaubens wegen verfolge!
(1895) Essay. »Jüdischen Glaubens«, zuerst in: Das Zwanzigste Jahrhundert. Blätter für deutsche Art und Wohlfahrt, hg. v. H. Mann, Heft v. August 1895, hier: Klein, W. Hg. u. a., Essays und Publizistik, Bd. 1, S. 195–202, hier S. 198ff.