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Lehrmeister der Demokratie
ОглавлениеZu Beginn des Großen Krieges sorgte sich Heinrich Mann, ob er nach dessen Ende – er rechnete mit einer Niederlage der Mittelmächte –die Familie als Schriftsteller ernähren könne. Doch seine düsteren Vorahnungen trafen nicht ein. Er wurde einer der einflussreichsten und angesehensten Intellektuellen im Land. Sein Bruder Thomas nannte Gerhart Hauptmann anlässlich dessen 60. Geburtstags »König der Republik«. Heinrich Mann wurde ihr Lehrmeister. In zahlreichen politischen Essays, die manches Mal die Titelseiten der großen Tageszeitungen zierten, warb er für ihren Erhalt. Zugleich zählte er aber auch zu ihren engagiertesten Kritikern. Am vierten Verfassungstag hielt er in der Dresdner Semperoper im August 1923 eine flammende Rede zur Weimarer Verfassung. Die Zeiten waren schwierig; die Inflation führte zur Verarmung der Gesellschaft, die Ruhrkrise stellte die Einheit der Republik in Frage, politische Morde von Rechtsextremisten und Putsche von links und rechts forderten die Wehrhaftigkeit der Republik heraus. Ihr Zerfall drohte. In dieser schweren Stunde rief Heinrich Mann den Verantwortlichen in Politik, Wirtschaft und Medien entgegen: »Anfang und Ziel ist der Mensch. Der Staat, die Wirtschaft sind tauglich oder verfehlt, je nachdem sie den Menschen fördern oder hemmen. Humanität im Sinne Weimars sollte der Kern der Politik sein.« In diesem Sinne plädierte er für Vernunft, Gerechtigkeit und Frieden. Er trat dafür ein, die Weimarer Verfassung in Ehren zu halten. Reichskanzler Gustav Stresemann riet er in einem offenen Brief zu einer Diktatur des Rechts und der Vernunft, um die Republik vor ihren Feinden zu schützen. Er sah sie durch Kommunisten und Nationalsozialisten in ihrem Inneren bedroht. Zum deutschen Volk sagte er: »Dieses Volk ist immer dort, wo nichts zu holen ist als Wahnsinn, wo nichts zu finden ist als Nacht.« Ein Menetekel für alle Deutschen, ein Warnruf, dessen Berechtigung erst zehn Jahre später in seiner ganzen Tragweite erkennbar wurde. Auf dem Parteitag der Deutschen Demokratischen Partei 1927 in Hamburg appellierte er als Festredner an alle Demokraten, im Kampf des Tages den Gemeinsinn nicht aus dem Auge zu verlieren. Denn Demokratie heißt Güte, heißt Zusammenhalt, alle sind für einander verantwortlich. Ihr Gegenteil sei Ideenhass und die Verweigerung des Rechts.
Heinrich Mann trat für eine Versöhnung der europäischen Staaten ein. Dabei wies er Frankreich und Deutschland eine Führungsrolle zu, weil ohne sie Europa nicht zusammenwachsen könne. Er plädierte für eine deutsch-französische Konföderation. Sie sollte den Nukleus für die Vereinigten Staaten von Europa bilden. Im europäischen Gedanken erkannte er die Chance, dem aufkommenden Nationalismus die Stirn zu bieten und einen nochmaligen europäischen Bürgerkrieg wie die Heimsuchung von 1914 zu verhindern. Seine politischen und kulturellen Essays in der Weimarer Republik weisen ihn als einen Brückenbauer zwischen den Nationen und Friedensstifter zwischen den gesellschaftlichen Kräften aus, die die Republik erhalten wollten. Zugleich wies er die geistigen Brandstifter, die Kommunisten und Nationalisten, aber auch die skrupellosen Wirtschaftsbosse in die Schranken. Er war bis zur Machtergreifung der Nationalsozialisten 1933 davon überzeugt, dass die sittliche Idee der Republik, ihr geistiges Fundament und ihre in der Verfassung garantierte politische Ordnung den Stürmen der Zeit standhalten würden. Zunächst als Mitglied der Akademie der Künste und später als Präsident der Sektion Dichtkunst in Berlin versuchte er, die Demokratie vor ihren Feinden zu schützen. In den Dreißigerjahren erlebte er, wie der Verfassungskonsens von den widerstreitenden zentrifugalen Kräften ausgezehrt wurde. Die Republik zerfiel, weil die staatstragenden Kräfte vom Reichspräsidenten, über den Reichstag bis zu den Parteien der Mitte kurzsichtige Interessen über das nationale Wohl stellten. Hitler hatte deshalb leichtes Spiel, die Macht an sich zu reißen und die Verfassung außer Kraft zu setzen.
Seit 1926 lebte Heinrich Mann überwiegend in Berlin. Ihn zog es in die Hauptstadt, weil dort die Kultur aufblühte. Immer mehr namhafte Künstler, Maler, Musiker, Schriftsteller und Schauspieler verließen die Großstädte in den Ländern, um in dem gärenden Musentempel Berlin dabei zu sein, wenn nahezu täglich eine neue Sensation die Gemüter erregte. Berlin schickte sich an, zum Babylon der Moderne zu werden und Paris als europäische Kulturmetropole den Rang abzulaufen. Einen Beitrag dazu leistete auch die Verfilmung seines 1905 erschienenen Romans Professor Unrat. Er wurde unter dem Titel Der blaue Engel mit Marlene Dietrich und Emil Jannings in den Hauptrollen zu einem Welterfolg und machte Heinrich Mann zum Star der frühen Dreißigerjahre. Aber nicht nur die Produktion dieses Films erforderte seine Anwesenheit in Berlin. Vor allem war es sein neues Amt in der Preußischen Akademie der Künste in der Sektion Dichtkunst. Hier prallten die wachsenden geistigen und politischen Auseinandersetzungen in der zweiten Hälfte der Zwanzigerjahre in wachsender Härte aufeinander. Trotzdem wurde er 1931 zu ihrem Präsidenten gewählt. Seine Bekanntheit und seine Persönlichkeit halfen den Mitgliedern der Sektion offensichtlich dabei, über seine ebenso entschiedene wie streitbare Haltung zur Weimarer Republik hinwegzusehen. Er wurde einvernehmlich per Akklamation gewählt. Seine häufige Anwesenheit in Berlin ließ ihm immer weniger Zeit, sich um seine Familie in München zu kümmern.
Seine Ehe ging in die Brüche. Zuerst verliebte er sich in die Kabarettistin und Filmschauspielerin Trude Hesterberg, danach in die Bardame Nelly Kröger, die er 1939 im Exil zu Beginn des Zweiten Weltkrieges heiratete. Seine vielfältigen Verpflichtungen hinderten ihn nicht, neben seiner umfangreichen essayistischen Tätigkeit auch weiterhin Romane zu schreiben. Zeit für Novellen fand er nur noch selten. Hervorzuheben ist vor allem seine Generalabrechnung mit dem Kaiserreich in dem Roman Der Kopf, der 1925 erschien. Immer wieder kommt Heinrich in seinen Romanen auf die schmerzhafte Kontroverse mit seinem Bruder zu sprechen. Nirgendwo geschieht dies jedoch so ausführlich und unverhüllt wie hier. In den Figuren Terra und Mangolf schilderte er die Hintergründe und Rivalitäten. Terra, dem selbstlosen Gesellschaftskritiker steht Mangolf gegenüber, der Strebsame, Erfolgshungrige, dem es nicht schwerfällt, mit der Zeit zu gehen.
Von dieser Kontroverse ist in den darauf folgenden sogenannten »Republik-Romanen« Mutter Marie, Eugénie oder Die Bürgerzeit und Die große Sache nichts mehr zu spüren. Darin ging es Heinrich vor allem darum, der entgleisenden Gesellschaft den Spiegel vorzuhalten. Seine moralische Lehre lautete: »Lernt verantworten«, »lernt ertragen« und »lernt euch freuen«. Dieser Dreiklang verbindet die ansonsten thematisch sehr unterschiedlichen Handlungen und Begebenheiten der Romane.
An seinem 60. Geburtstag 1931 befand er sich auf dem Höhepunkt seiner Karriere. Er wurde in den Medien als Intellektueller gefeiert, der die Abgründe der Zeit aufgreift. Er schilderte sie, ermutigte die Zeitgenossen aber auch, nicht in sie hinabzusinken, sondern sich ihrem Sog zu erwehren.
Eine Ausnahmestellung seiner Romane in der Weimarer Republik nimmt das Sozialdrama Ein ernstes Leben ein. Darin erzählt er die schillernde Lebensgeschichte seiner späteren Frau Nelly Kröger, die aus einfachsten Verhältnissen kommend ein Leben zwischen familiärer Fürsorge, Kriminalität und Bordell führt. Der Roman erschien am Ende der Republik; ihm blieb es nicht zuletzt deshalb versagt, eine Breitenwirkung zu erzielen. Mit Beginn des Nationalsozialismus fiel er in Vergessenheit. Heinrich Mann stellte mit Marie Lehning eine Frau in den Mittelpunkt der Handlung, die es wegen ihrer Authentizität, Originalität, Menschlichkeit und Ausstrahlungskraft verdient mit anderen großen Frauengestalten der Weltliteratur verglichen zu werden. Im Geist seines großen Lehrmeisters Honoré de Balzac inszenierte er mit Marie eine Frauenfigur, deren Kriminalität nicht einer Charakterschwäche, sondern den Zumutungen einer entgleisenden Gesellschaft entspringt, einer Gesellschaft, die den Armen die Möglichkeit nimmt, ein Leben in Anstand und Würde zu führen. In keinem anderen Roman gelingt es dem Autor eine ebenso plastische, authentische und ergreifende weibliche Romanfigur zu schaffen, die gerade in ihrer Widersprüchlichkeit zu überzeugen weiß und die Möglichkeit wertvoller Menschlichkeit trotz Kleinkriminalität aufzeigt. Wie bei Balzac ist es auch hier eine magische Macht in Gestalt eines Polizeikommissars, die Marie vor dem Abgrund rettet.
Fast zeitgleich zu diesem Roman erschien der Essayband Das öffentliche Leben. Nach Macht und Mensch, Diktatur der Vernunft, Sieben Jahre und Geist und Tat war es der fünfte und letzte in der Weimarer Republik. Geist und Tat nimmt unter ihnen insofern eine Sonderstellung ein, da in ihm biografische Portraits französischer Schriftsteller vorgestellt werden. Das öffentliche Leben vereinigt politische und kulturelle Beiträge der letzten Jahre unterschiedlicher Art. Rückblickend sticht seine Auseinandersetzung mit dem aufkommenden Nationalsozialismus hervor. Heinrich Mann mutmaßte, dass der Nationalsozialismus zur Herrschaft gelangen könne, weil die Deutschen wieder einmal in sich den »Ruf des Abgrunds hören«. »Die Deutschen hören ihn reichlich oft«, stellte er fest. Doch noch schien es offen, ob sie ihm wirklich folgen würden. Heinrich Mann hoffte, dass die vorangegangenen Katastrophen das Volk belehrt hätten. Er hoffte vergebens, wie wir heute wissen.
Im Februar 1933 wurde er von den Nazis aus der Akademie der Künste ausgestoßen, ebenso wie unter anderen auch Käthe Kollwitz. Nach einem mahnenden Hinweis des französischen Botschafters und wohl auch anderer verließ er wenige Tage später das »Dritte Reich«. Er glaubte an eine Abreise auf Zeit, nicht an einen Abschied für immer.