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Jahre der Selbstfindung

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Nach dem Tod seines Vaters führte er ein rastloses Leben. Von einer systematischen schriftstellerischen Arbeit konnte zunächst nicht die Rede sein. Aber er bereitete sich darauf vor; er las viel, hörte den einen oder anderen Vortrag und vertiefte sich in die Lektüre zeitgenössischer Autoren. Besonders Friedrich Nietzsche, dieser »Aufwühler des Zeitgeistes«, hatte es ihm angetan. Seine Werke wurden zu seiner Hauptlektüre. Hinzu kam der aufregende Prophet der Moderne, Hermann Bahr. Er nahm einen nachhaltigen Einfluss auf sein Denken und Schreiben. Bahr beschäftigte, wie die Hektik der Tage, die Industrialisierung und Landflucht, auf die innere Verfassung der Menschen einwirke, wie die rastlose Zeit deren Nerven und Seele bestimme, sodass schließlich sie – nicht die Vernunft – zum bestimmenden Wesenszustand des Menschen würde. Nach einem Blutsturz musste Heinrich sein Volontariat beim S. Fischer Verlag aufgeben und zu seiner Genesung längere Zeit in Sanatorien verweilen. Nachdem er seine Krankheit überwunden hatte, zog es ihn nach Italien; nach Florenz, Rom oder an den Gardasee nach Riva, das damals noch zum Habsburger Reich gehörte. Nur selten kehrte er nach München zu seiner Familie zurück. Italien galt in den Neunzigerjahren als Sehnsuchtsland der europäischen Oberschicht.

Heinrich führte zur Jahrhundertwende ein Künstlerleben. Hier und da gelang es ihm, einen Artikel zu schreiben, der in der Monatsschrift Die Gesellschaft und bald darauf auch in Die Gegenwart veröffentlicht wurde. Mitte der Neunzigerjahre gab er die Berliner Zeitschrift Das Zwanzigste Jahrhundert heraus und schrieb dafür zahlreiche Beiträge im Geiste der Wilhelminischen Zeit. Sein Lebensstil änderte sich erst, als er 1914 nach München zurückkehrte und Maria Kanová heiratete. Aus der Ehe ging die gemeinsame Tochter Leonie hervor, genannt Goschi.

Bedeutende Köpfe der Philosophie und Literatur beeinflussten Heinrich Manns schriftstellerische Arbeit. Über Bahr fand er zu dem französischen Schriftsteller Paul Bourget. Ihm widmete er seinen ersten Roman In einer Familie, der mit finanzieller Hilfe der Mutter bereits 1894 erschien. Bourget öffnete ihm den Blick in die Welt der heimatlosen Oberschicht, die ein ausschweifendes, genusssüchtiges Leben führt und das Wohl des Einzelnen über die gesellschaftliche Verantwortung stellt. Bourgets radikaler Individualismus, seine konservative Weltanschauung, seine Stoffauswahl und psychologisierende Darstellungsweise prägten ihn. Auch Heinrich Manns in den Neunzigerjahren entstandene Novellen atmen den Geist dieses französischen Meisters. Bourgets Weltanschauung formte sein Bewusstsein. Heinrich Mann war in den Neunzigerjahren ein patriotischer Monarchist. Seine Beiträge in der Zeitschrift Das Zwanzigste Jahrhundert weisen ihn als Gefolgsmann Wilhelm II. aus. In seinen politischen Essays verteidigte er nicht nur den Kaiser, die Monarchie und das Gottesgnadentum; er polterte zugleich gegen das Parlament und die Juden. Obwohl er sich mit Nietzsche schon lange beschäftigt hatte, wiesen dessen Schriften ihm erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts den Weg zu einer literarischen Neuorientierung. Vor allem machte er sich Nietzsches Kritik am Wilhelminischen Reich zu eigen und fühlte sich von dessen Verständnis des Künstlerdaseins inspiriert. Im Künstler sah Nietzsche einen »Philosophen der Macht«, der ohne Rücksicht auf sein eigenes Lebensglück tätig sei. Die Romane Im Schlaraffenland, Jagd nach Liebe und die Trilogie Die Göttinnen, die alle in den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts entstanden, verweisen auf ihn. In Die Jagd nach Liebe schildert er, wie die Kunst den Zugang zum Leben verschließt. Die Schauspielerin Ute kanzelt ihren Jugendfreund Claude mit den Worten ab: »Eine Künstlerin, die sich verliebt, wirklich und ganz verliebt – das war nie eine.«

Im Eingangszitat offenbart sich Nietzsches Einfluss auf Heinrich Mann bis ins hohe Alter. Zweifellos ließ er sich von ihm am Anfang seines Lebens als Schriftsteller begeistern. An dessen Bild vom Künstler, dessen Sendungsbewusstsein, Ausnahmestellung in der Gesellschaft und dessen Glaube an die Macht des Wortes hielt er fest, auch wenn die Wirkungsmacht dieses »Aufwühlers des Zeitgeistes« auf ihn insgesamt im Laufe der Jahre abnahm. Mit der Machtübernahme der Nazis bekam sein Nietzsche-Bild Risse, je mehr diese sich auf ihn beriefen und sein Werk missbrauchten. 1939 schrieb er in seinem Nietzsche-Essay: »Was haben Eingeweihte ihm geglaubt?« Er fügte an: »Vieles, aber nicht alles.«

Anfang und Ziel ist der Mensch

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