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Die Göttinnen

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Im Mai war alles bereit. Eines Nachmittags füllten Welt und Halbwelt die hohen Terrassen über dem stillen Garten. Raphael Kalender hatte für marmorne Stufen zum Sitzen gesorgt; er hatte dem Platz im Moose Wert gegeben, dem Ruhekissen unter einer Akazie und dem Lager im Schatten von zwei Zypressen. Man zahlte sehr viel, um ganz in der Höhe aus Myrthenbüschen herabzuspähen; und noch dahinten in der Ebene, wo kaum mehr ein Ausblick frei war, bereicherte man widerstandslos den Unternehmer. Die neapolitanische Gesellschaft harrte klatschlustig, lärmend oder mit Schmachten, unter Blumen, umschwankt vom Dickicht der Farren. Ismael Iben Pascha wiegte den Rumpf inmitten seiner vier Frauen, die die Augen aufrissen. Don Saverio, im Kreise seiner Freunde, reich, frohlockend, streckte sich aus neben der wundervollen Contessa Paradisi. Von den Festen der Herzogin von Assy betört, hatte der König Phili noch einmal die Meerfahrt gewagt. Die Kolonie der eleganten Ausländer breitete befremdet und sehr angeregt ihre Brillanten aus im Duft von Menthe und zwischen den Spießen der Kakteen. (…). Drunten wandelte Jean Guignol ganz allein, einen Lorbeerkranz spitz über der Stirn, und deklamierte Verse, die man auf wenigen Plätzen verstand. Man wunderte sich und lachte. Er trug einen schwarzen Mantel über seinem weißen Gewand, war barhäuptig, mit braunen Lichtern in Bart und Haar, und schien feierlich gestimmt und klagend. Er hob Brocken von Tonerde vom Boden, knetete daran und ließ sie fallen, unruhig und schlaff. Dann warf er seine großen Gesten und Worte, die anschwollen, der Sonne zu. Sie stand schräg über dem Meere. Sie schickte es mit roten Wellen an den Saum des Gartens. Sie überspülte seine Blätter, ränderte die Zypressen, durchwühlte mit düster glühenden Schlacken den grünen Brunnen, an dessen Rande der Dichter die Arme reckte.

Am Strande und das Meer umarmend stand eine Reihe sehr alter Zypressen, und über ihnen war es, auf hohem Vorgebirge, wo der Tempel schimmerte: der weiße Tempel, in den Jean Guignol seine Sehnsucht eintreten ließ, zwischen dessen rosig, gleich Muscheln überhauchten Säulen seine Verse, von begehrlichen Lippen entsandt, umherirrten, suchend nach etwas Wunderbarem, nach der einen, aus der sie geboren waren, für die sie lebten und die sie nicht kannten. Er betete zu ihr und um sie. Er zeigte ihr den feuchten Ton und sagte, diese Erde warte auf jeden Ton ihrer Launen und auf alle ihre Fleischfalten. Er sprach ein paar sehr zynische Verse, schallend, voll Überzeugung. Man fing an, ihm zuzuhören, einige Gespräche verstummten, die wundervolle Contessa Paradisi seufzte … da schwieg Jean Guignol.

Hinter dem Vorhang von Zypressen wehte manchmal etwas Leichtes vorüber, wie blaue Schleier oder weiße Tanzfüße. Auf einmal lugte zwischen zwei Stämmen ein Faun hervor, gelb behaart, helläugig. Er stellte seine eckigen Bocksbeine behutsam ins hohe Gras. Im Vorbeigehen brach er eine Rose und nahm sie zwischen die Lippen. Vor dem Dichter blieb er stehen und feixte; Jean Guignol mochte ihn nur fragen, was er wolle und was er bedeute. Hinter ihm zeigte sich schon ein alter Centaur: er hinkte, es folgten ihm Bienen, die er beraubt hatte. Er bat Jean Guignol ihn zu befreien. Zum Dank zeigte er ihm seine Fußspur. »Bilde das! Du wirst zufrieden werden!« – »Bilde auch mich!« meckerte ein kleiner Satyr auf einer Ziege. Zwei andere tänzelten mit Flöten am Munde zum Brunnen hin; ihre sanften hohen Töne erweckten ihn, er begann zu rinnen. Die blauen Schwertlilien wiegten sich. Aber aus dem Schilf am Bach stand eine Nymphe auf, schlank, mit fallenden Schultern, spitzen Brüsten und sorglos. Sie schlenderte auf den Künstler zu und küßte ihn gerade auf den Mund. Es war Lilian, seine Geliebte von einst. Er sagte ihr in Strophen, die von ihrer weißen Haut schimmerten und in denen ihr feuriges Haar sich entfaltete, sie sei schön, sie sei es, die er ersehnt habe; er wolle ihr Bild gestalten. Er begann. Aber sie lächelte und ermahnte ihn, er solle ihre Schwestern nicht vergessen, und die Faune nicht, die mit ihnen tanzten, und die Centauren nicht, die ihnen zusähen, und die Satyrn nicht, die ihnen aufspielten. Dann tanzte sie auf der glänzenden Wiese mit ihren Freundinnen in langen Haaren. Sie faßten sich bei den Händen und formten die Arme wie zu Toren weißer Blüten. Die braunen Faune krochen hindurch, gebückt, grinsend, begehrlich. Ziegenböcke rieben sich an ihnen und versuchten von hinten ihre Hörner.

Der Garten begann zu schallen von dem Galopp der Hufe. Die alten Centauren kämpften miteinander. Die jungen Satyre warfen ihre gewundenen Reben fort und ihre bauchigen Schläuche, und stürzten sich auf die Lippen und die Brüste der Nymphen. Ein graubärtiger Faun lehrte schwarzhaarige Kinder mit Mohnkränzen eine obszöne Runde. Am Boden brannten zerplatzte Granatäpfel und verblutete Tauben neben Rosen. Eine leise, einfache, aufreizende Melodie entströmte, man weiß nicht woher, der roten Luft. Dahinten, auf den rot spielenden Wellen, warfen Syrenen sich heftig auf den Rücken. Ihr Schuppenschwanz schnellte klappend aus dem Wasser, ihre roten Haare trieben ausgebreitet um sie her. Seltsam harte und schrille Laute entstiegen ihren breiten Mündern.

»Bleibt!« rief Jean Guignol, und er sprach, mitten in der Arbeit des Knetens, ihre Bilder, eines nach dem andern – er sprach in plastischen Versen die Bilder aller dieser Fabelwesen und die vielen Gesichter, eines nach dem andern, in denen die Natur sich ihm verriet. Er sprach sie stolz erregt, herrisch, siegesgewiß … Aber sie entfernten sich, sie zogen froh und farbig durchs Gras, unter Küssen, kindlichem Schwatzen oder dem Schäumen von Mänaden, in rot besonnter Nacktheit. Ein Kranz von Blättern verkettete alle.

»Warum nicht auch mich mit euch allen?!«

Die Rosen warfen von den Zypressen herab, ihnen Schleier über die Haare. Es waren viele Frauen, jungfräulich schmale, und laszive aus viel Fleisch; ernste in braunen Geweben, und nackte glückliche. Die dort zog einen Bock hinter sich her, jene trug auf den Armen einen Schwan. Eine beugte sich im Gehen zum Bache nieder und strich mit ihrer Hand über ihn hin wie über eine Wange. Eine erhob eine Schale. Eine setzte ihre weichen Sohlen auf den Rasen, drehte sich, sang, und folgte den andern. Jean Guignol wollte vorstürzen. Das dunkle Laub hatte schon fast alle verschlungen. In der Finsternis zwischen den Stämmen erloschen die Farben der Frauen. Die letzte lächelte vom Saum des Waldes her, als werde sie ihn nie mehr verlassen.

Der vereinsamte Künstler warf sich auf sie, besinnungslos. Sie war fort, ein großer Bock blieb ihm in den Händen. Er schleppte ihn mitten auf die Wiese, er packte den dürren Hals des Tieres, das ihn gelb und klar ansah. Er schrie ihm seine Wut ins Gesicht, seine besinnungslose Brust, seine Enttäuschung, sein Leiden um die eine, die ihm entfloh in den Taumel all jener Gestalten. Er hatte sie nicht gefaßt, sie war vielfältig. Sie war weder die Nymphe noch die Mänade, sie war ebensogut auch der Faun und der Brunnen, oder eine Biene – »oder auch du!« … Und er kniete vor dem Bock, in Drang, Verzweiflung, überwältigender Ahnung.

(1902) Roman. Die Göttinnen oder Die drei Romane der Herzogin von Assy, S. 620ff.

Anfang und Ziel ist der Mensch

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