Читать книгу Als Lehrer in Gotha/Thüringen 1950–1990 - Heinz Scholz - Страница 10
„Transparentitis“
ОглавлениеDas „positive“ Ansehen der Schule musste oder konnte auch – nach damaligen politisch-propagandistischen Gepflogenheiten – durch eine entsprechende agitatorische Sichtwerbung am Schulhaus erwirkt oder bewiesen werden. Politische Transparente an der Fassade des Schulhauses sollten den „positiven“ politischen und „revolutionären“ Charakter einer Schule nach außen hin sichtbar machen. Daher mussten Schulleitung, Lehrer und Schüler für eine aktuell politisch dekorierte Fassadengestaltung sorgen. In den Augen der SED und der Staatsfunktionäre waren Schulen nicht unparteiliche Bildungs- und Erziehungsanstalten, sondern aktive politische Agitationszentren, die nach außen in alle Öffentlichkeit sichtbar wirken sollten. Sie hatten dem „ideologischen Kampf“, also dem „Klassenkampf“ zu dienen. Die Lehrer, im Dienst des Staates verpflichtet, sollten vor Schülern und Eltern als „Klassenkämpfer“ auftreten, und die Schule musste dies auch durch ihr äußeres Bild, nämlich durch politische Sichtwerbung, beweisen bzw. vorzeigen. Das bedeutete für Schulleitung und Lehrer permanent, Transparente und immer wieder Transparente zu bauen: möglichst großflächig, lang, breit und hoch, mit aktuellen politischen Losungen als Imperative und Verpflichtungen, an den Fassaden des Schulgebäudes gut sichtbar aufgehängt und sicher befestigt. Das war in zu- und abnehmender Wellenbewegung, je nach Intensität und Wechsel der politischen Kampagnen, eine Kraft zehrende Arbeit, die die Lehrer zusätzlich zu leisten hatten. Schon die Beschaffung des nötigen Materials war problematisch. Langwierig dann das Schriftmalen auf rotem, blauem oder weißem Tuch im Leistenrahmen, nachmittags, meist unter Anleitung der Zeichenlehrer und unter Hilfe älterer Schüler. Und zuletzt das schwierige Aufhängen und das gegen den Wind sichere Befestigen an der Fassadenwand durch uns Lehrer. Unser Zeichenlehrer, Kollege W., hatte einen Hauptteil dieser Arbeit zu leisten. Das ging so weit, dass er vom Unterricht freigestellt werden musste, damit vor einer bevorstehenden „Volkswahl“ schnell noch die nötigen aktuellen Transparente an die Hauswand kamen. Ich erinnere mich, wie er auch große Wandbilder für die Außenfront und für die Aula gemalt hat, mitunter Kopien zeitgenössischer Künstler. Für seine Monumentalbilder bevorzugte er Figuren oder Motive von Max Lingner. Eines der größeren Wandbilder – ich sehe es noch deutlich vor mir – zeigte in einer vergrößerten Kopie, wie die Bürger von Calais einen im Hafen ausgeladenen amerikanischen Panzer mit vereinten Kräften über den Kai ins Wasser stürzen – das als Zeichen eines aktiven Friedenskampfes gegen die „Kriegspläne des amerikanischen Imperialismus“.
Mühe bereitete uns die Auswahl der Losungen für die Transparente. Wir versuchten unsachliche Parolen zu vermeiden und vorgegebene penetrante oder pathetische Formulierungen abzuwandeln in vertretbare Fassungen. Wir als Schule wollten nicht die plumpen Phrasen agitatorisch hinausschreien! Waren wir doch eher darauf bedacht, von innen heraus ein seriöses Gesicht zu wahren. Von Seiten der SED-Kreisleitung kontrollierte und bewertete man die propagandistische Fassadengestaltung! Ein einziges Transparent allein an der Vorderfront unseres Schulgebäudes „verlor“ sich und genügte nicht. Meist sahen wir uns gezwungen, drei aufzuhängen, um zu beweisen, dass unsere Schule auf dem Posten war.
Diese obligate, belastende Transparentitis, wie wir es nannten, wurde in den 70er und 80er Jahren nach und nach nicht mehr so genau genommen. Sie setzte sich jedoch unvermindert fort bei der Gestaltung und Ausschmückung unserer Marschkolonnen am 1. Mai und bei anderen öffentlichen Vorbeimärschen bzw. Pflichtdemonstrationen. Hier blieb es dabei, durch möglichst zahlreiche und aktuell „passende“ tragbare Spruchbänder, Tafeln, Fahnen und Fähnchen das politische Gesicht der Schule nach außen hin unter Beweis zu stellen.
Wir wissen: Die geforderten „Trag- und Winkelemente“, so in der Partei-Sprache benannt, blieben ein wichtiger Bestandteil der öffentlichen SED-Paraden bis 1989.