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„Die Revolution entlässt ihre Kinder“

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Irgendwann in jener Zeit 1956/​57, als ich abends den deutschsprachigen Londoner Rundfunk hörte, gewann ich Zugang zu einer interessanten Serie gesendeter Lesungen aus Wolfgang Leonards Buch „Die Revolution entlässt ihre Kinder“. Ich hatte diese Lesungen von Buchausschnitten mit großem Interesse verfolgt. Wohl ein Jahr danach drückte mir eine befreundete Kollegin ein Exemplar dieses Buches in die Hand. Irgendwer hatte es ihr „aus dem Westen“ mitgebracht! Es war sehr aufschlussreich für mich, was der kommunistische deutsche Emigrant Wolfgang Leonard über seine Erfahrungen mit dem Stalinismus in Moskau und auf der sowjetischen Antifa-Schule zu berichten wusste. Es war das erste Mal, dass ich aus einem authentischen subjektiven Erfahrungsbericht Näheres über interne parteipolitische Vorgänge und stalinistische Machenschaften innerhalb der Sowjetunion erfuhr. Vor allem darüber, wie Stalin mit redlichen Kommunisten und kommunistischen Emigranten umgegangen war. Auch über Strategie und Taktik der „Gruppe Ulbricht“, mit der Wolfgang Leonard als zugehöriges Mitglied Ende des Krieges aus Moskau nach Berlin zurückgekommen war, konnte ich interessante Einzelheiten und Einschätzungen erfahren.

Es ist wohl zu ersehen, wie unsereins mit jedweden aufregenden politischen Ereignissen und Informationen beschäftigt war. Aufmerksam verfolgte ich, was in unserer erstarrten Welt in Gang gekommen und in Bewegung geraten war. Von Mal zu Mal saßen wir im Freundeskreis zusammen, wo wir, aus verschiedenen beruflichen Erfahrungen und Blickwinkeln gesehen, über das Neueste diskutierten. Mit der Zeit kam ein Gefühl von Hoffnung in mir auf, das mich denken ließ: Vielleicht lohnt es sich doch durchzuhalten …

Ich las schon damals den „Sonntag“, eine vom Kulturbund herausgegebene Wochenzeitung und sporadisch auch „Sinn und Form“, eine von Peter Huchel gelenkte Zeitschrift für Literatur, Theater, Kunst und Ästhetik. Aus Berichten, Aufsätzen und Kommentaren glaubte ich erkennen zu können, wie auch diese Zeitungsleute auf eine Liberalisierung unseres politischen und kulturellen Lebens hinzielten. Zwischen den Zeilen war die Frage herauszuhören: Wann nun endlich zieht unsere SED-Führung klare Schlussfolgerungen aus dem XX. Parteitag der KPdSU?

Aber es dauerte nicht lange, im Laufe des Jahres 1957 kam der Gegenschlag der SED-Führung. Warnend wurden wir durch die Parteizeitungen über die „Beweisaufnahmen im Harich-Prozess“ und über den Prozess gegen die zweite Harich-Gruppe“ informiert. Man hatte die leitenden Redakteure des „Sonntag“ und vom Aufbau-Verlag um Wolfgang Harich, Walter Janka, Gustav Just u. a., zumeist Altkommunisten und ehemalige KZ-Häftlinge, verhaftet, vor das Oberste Gericht gestellt und als „Staatsfeinde“ zu hohen Zuchthausstrafen verurteilt.

Diese Schauprozesse – jetzt, nach den revolutionären Erhebungen in Polen und Ungarn – galten als lautstarke Drohung gegen all die kommunistischen Intellektuellen, die anstelle des totalitären Ulbricht-Regimes die sozialistische Gesellschaftsordnung in der DDR zwar erhalten, jedoch demokratisieren und gerechter machen wollten.

Am 28. 07. 1957 war in meinem „Sonntag“ zu lesen: „Sie (die Angeklagten) hatten die Zeitschrift („Sonntag“) als ein Mittel zur Realisierung ihrer staatsfeindlichen Pläne … eingesetzt und unter dem Deckmantel der Forderung nach einer weiteren Demokratisierung die Grundlagen unserer Arbeiter- und Bauern-Macht bezweifelt und verleumdet.“(7)

Wir verstanden so etwas zu lesen und wussten zugleich: Die das jetzt schrieben, waren die neu eingesetzten Redakteure oder Schreiber aus der gegenwärtigen staatstreuen Nachfolge-Mannschaft des „Sonntag“. Für eine Zeitlang verging mir die Lust, ‚meinen‘ „Sonntag“ zu lesen, tat es aber doch, denn ich wollte sehen, was die Neuen aus dieser Zeitung jetzt machten oder wie lange sie den harten Kurs aufrecht erhalten könnten.

Wenn ich heute zurückdenke, dann meine ich, dass ich damals nicht unbedingt niedergeschlagen war durch jene Prozesse. Man hatte ja damit gerechnet, dass nach Polen und Budapest die Zügel wieder enger geschnallt würden. Das Gespenst der Konterrevolution wurde wieder schrecklich ausgemalt, dem „Klassenfeind“ von innen und dem „imperialistischen“ von außen musste „größte Wachsamkeit“ und „Entschlossenheit“ entgegengesetzt werden, und auf allen Ebenen unseres gesellschaftlichen Lebens, selbstverständlich auch in den Schulen, musste der „Klassenkampf verschärft“ werden! Doch die Gewissheit blieb: Da haben erneut gescheite, verantwortungsbewusste Menschen, achtbare Sozialisten oder Kommunisten, diesmal deutsche, das totalitäre Herrschaftssystem in Frage gestellt und sich für eine Reformierung dieses DDR-Sozialismus mutig eingesetzt!

Und wenn ich im Sept. 1957 in meiner Zeitung lesen konnte: „Kantorowicz zum Feind übergelaufen“, dann wusste ich, dass wieder ein intellektueller Kommunist, diesmal ein angesehener Literaturwissenschaftler der DDR, dem Prozess-Terror durch Flucht in den „Westen“ entkommen war.


Mit meiner Klasse 1956.

Die „Ausmerzung feindlicher Elemente“ ging weiter. Im Februar 1958 wurde uns mitgeteilt, dass Karl Schirdewahn und Ernst Wollweber, ebenfalls von den Nazis verfolgte Altkommunisten und seit 1946 hohe Funktionäre der SED, wegen „Fraktionstätigkeit“ aus dem ZK der SED ausgeschlossen und mit einer strengen Rüge bestraft worden waren.

Als Lehrer in Gotha/Thüringen 1950–1990

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