Читать книгу Als Lehrer in Gotha/Thüringen 1950–1990 - Heinz Scholz - Страница 7

Wir „ Neulehrer“ in der DDR

Оглавление

Ich denke, der Typus „Neulehrer“ war einmalig und kann als ein typisches Charakteristikum des Schulwesens in der SBZ (Sowjetische Besatzungszone) und im ersten Jahrzehnt der DDR bezeichnet werden.

Da ein Großteil der Lehrerschaft aus NS-Zeiten im Zuge der Entnazifizierung 1945/​46 entlassen worden war, wurden im Eilverfahren, meist in einjährigen Schnellkursen, „neue“ Lehrer ausgebildet. Der Begriff „Neulehrer“ war geläufig und wurde auch öffentlich so verwendet, weil die Schulbehörden mit dieser Bezeichnung das „neue, fortschrittliche, antifaschistische“ Schulwesen kennzeichnen wollten.

Ich selbst, wie schon gesagt, zählte zu diesen Neulehrern. Und so wie ich, in einem Jahreslehrgang 1949/​50 an der Pädagogischen Fachschule in Langensalza, sind zwischen 1946 und 1951 viele junge Frauen und Männer mit unterschiedlichen Bildungsvoraussetzungen an verschiedenen Pädagogischen Fachschulen im Schnellverfahren zum Neulehrer ausgebildet worden.

Die meisten der männlichen Neulehrer-Studenten waren nach Rückkehr aus Krieg und Gefangenschaft, andere jüngere unmittelbar nach ihrem Abitur in diese Neulehrerausbildung gelangt. Unter den Frauen waren es mehrfach Alleinstehende, oft Soldatenwitwen mit Kindern, die die Chance nutzten, in einen für sie günstigen Beruf mit sicherem Einkommen hineinzuwechseln. Manche dieser Neulehrer-Studenten waren durch öffentliche Aufrufe geworben oder von Volkseigenen Betrieben, in denen sie gearbeitet hatten, zum Neulehrer-Studium „delegiert“ worden. Vor allem Arbeiterkinder oder selbst Angehörige der Arbeiterklasse wurden bevorzugt. Die neu gegründete Lehrergeneration sollte, zur Mehrheit aus der Arbeiterklasse rekrutiert, dem „Staat der Arbeiter und Bauern“ in verschworener Treue dienstbar sein.

Mehrere dieser jungen Frauen und Männer, aus Industrie- und Handwerksbetrieben, aus kaufmännischen Berufen oder aus Verwaltungen kommend, hatten kein Abitur! Es gab unter ihnen auch einige Jüngere, die vorher eifrige, gutgläubige FDJ-Funktionäre gewesen waren. Manche wiederum kamen auf Grund einer gediegenen Schul- oder höher qualifizierten Berufsausbildung besser vorbereitet an die Fachschule. Unter den Neulehrern gab es einen beträchtlichen Anteil an „Umsiedlern“, also an solchen Frauen und Männern, die aus den ehemaligen deutschen Ostprovinzen und aus dem Sudetenland geflüchtet bzw. vertrieben worden waren und nicht nur ihre Heimat, sondern jeglichen Besitz und auch den einst gewohnten sozialen und beruflichen Status oder gar ihre familiäre Bindung verloren hatten. Völlig mittellos in fremder Umgebung und gezwungen, sich eine neue Existenz aufzubauen und ein neues Leben einzurichten, nutzten mehrere dieser so genannten „Umsiedler“ das Angebot, sich als Neulehrer ausbilden zu lassen.

Wenn ich von unserer Studiengruppe an der Pädagogischen Fachschule ausgehe, dann weiß ich, von uns acht Männern waren sechs aus Gefangenschaft heimgekehrte Soldaten, davon stammten vier aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten, drei hatten Abitur bzw. Kriegsabitur, zwei weitere die mittlere Reife, und drei hatten nur die Volksschule besucht. Zu den Letzteren gehörte ich.

Nun muss gesagt werden, dass wir alle, die wir auf so ungewöhnliche Weise Lehrer werden sollten oder wollten, nach jener einjährigen Schnellausbildung zum Neulehrer natürlich längst keine fertigen Lehrer waren. Mit außergewöhnlich hohem Aufwand an Kraft und Zeit mussten viele dieser Neulehrer neben ihrer praktischen Lehrertätigkeit über lange Jahre hinaus an ihrer beruflichen Vervollkommnung arbeiten. Manch einer ist dabei auf der Strecke geblieben. Freilich gab es unter ihnen auch einige, die schon in den ersten Jahren ihres Schuldienstes ihre Lehrer-Karriere so ausrichteten, dass sie sich dem staatlichen Politgetriebe bereitwillig anpassten und sich als laut redende Polit-Agitatoren zum gefragten SED-Schulfunktionär hochdienten.

Die meisten eingestellten Neulehrer haben an sich gearbeitet. Sie mussten einfach unentwegt fleißig sein, wenn sie „richtige“ Lehrer werden wollten. Als Lehramtsanwärter mussten wir sogleich in den ersten Jahren neben unserer täglichen Unterrichtsarbeit an einer permanenten Weiterbildung zur Vorbereitung auf die erste und zweite Lehrerprüfung teilnehmen. Nach bestandenen Prüfungen hatte jeder, der weiterhin in den Klassen 5 – 8 bzw. 5 – 10 unterrichten wollte, ein Fachlehrer-Fernstudium aufzunehmen. So entschied ich mich, weil ich mich auf das bisher studierte Fach Geschichte allein nicht festlegen wollte, für ein Fernstudium im Fach Deutsch von 1954 – 1957. Mit mir noch drei Kollegen/​innen aus unserer Löfflerschule. Nach abschließender Prüfung erhielten wir Diplom und Lehrbefähigung für das Fach Deutsch bis zur Klasse 10. Fast alle nahmen danach noch ein zweites Fernstudium auf, ich z. B. im Fach Geographie.

Wir Neulehrer waren gewohnt und darauf eingestellt, im weiteren Verlauf unseres Berufslebens ständig dazuzulernen. Mancher musste unentwegt nachholen, was andere schon als junge Menschen auf höheren Schulen und Universitäten gelernt hatten. Das kostete zusätzlich Kraft und Zeit und ging zeitweise zu Lasten des Familienlebens. Doch diese Spannung, dieser auf uns lastende Bildungszwang, hatte zugleich zur Folge, dass man als Lehrer immer in dem Bewusstsein arbeitete: Ist alles richtig, was du machst? Was kannst du noch verbessern? Man betrachtete seine Lehrtätigkeit kritisch, prüfte sich, suchte nach neuen oder besseren Lehrmethoden und konnte sich kaum in Routine verlieren. So sah ich mich auf Dauer gefordert, mir ergänzendes Wissen anzueignen und methodisch kreativ zu denken und zu unterrichten. Und mit der Erfahrung eigener Lernanstrengungen und -schwierigkeiten begriff ich auch besser das Maß der Anstrengungen, das ich den Schülern abverlangte.

Ich glaube, dass das zwangsläufige unablässige Streben nach beruflicher Vervollkommnung bei manchen von uns einen besonderen Idealismus erzeugte. Es war wie ein spezifisches Neulehrer-Ethos, seine pädagogische Eignung und gleichrangige Tüchtigkeit gegenüber akademischen Kollegen durch solide fachwissenschaftliche und pädagogische Arbeit unter Beweis zu stellen und dabei auch seine humanistischen Ideale verwirklichen zu wollen. Ich denke: Viele von uns Neulehrern sind engagierte Pädagogen geworden und haben ihren Beruf mit Leib und Seele ausgeübt.

Eins hatten wir „alten“ Neulehrer den jungen Hochschulabsolventen, die ab Mitte der 50er Jahre zu uns stießen, voraus: unsere sozialen Erfahrungen in den Niederungen der alten Gesellschaft sowie die harten Erfahrungen aus Krieg, Gefangenschaft, Heimkehr oder Vertreibung und aus schwerer Nachkriegszeit. Wir Überlebenden jener Generation, die wir dem Inferno von Krieg und Bomben oder qualvoller Gefangenschaft gerade noch entronnen waren, konnten wohl – so dachte ich manchmal – mit einem reiferen Blick hineinsehen in ein ärmliches, vaterloses oder heimatloses Elternhaus. Heranwachsendes junges Leben zu hegen und zu fördern – das mussten wir nicht erst theoretisch lernen! Das hatten wir in uns.

Trotz unseres Fleißes und unserer Mühen waren wir Neulehrer verständlicherweise auch der öffentlichen Kritik ausgesetzt. Manche Eltern misstrauten uns – besonders in den Anfangsjahren. Galten wir doch für sie in erster Linie als einseitig ausgerichtete, kommunistische Agitatoren der „russischen SED-Machthaber“. Infolgedessen wurden Neulehrer manchmal als schlecht ausgebildete, unwissende, dümmliche und politische Spottfiguren verhöhnt. Gelegentlich oder mit Lust wurden Beispiele für deren klägliches Versagen oder unverzeihliche Fehler weitererzählt. Wir wollten natürlich durch möglichst gute Arbeit solche Entblößungen verhindern oder Vorurteile abbauen, aber mit unserer Selbstkritik verfielen wir gelegentlich auch in Selbstironie.

Ein Witz, den ich damals gern zum besten gab, zeigt, wie wir Neulehrer uns selbst auf die Schippe nahmen:

Fritzchen erzählt seinem Vater, dass sie jetzt in der Schule einen neuen Geschichtslehrer bekommen hätten, einen „Neulehrer“, und dass sie nun im Unterricht über den Alten Fritz redeten.

Und was hat er euch über den erzählt?

„Och, der heißt nicht mehr Friedrich der Große, sondern Friedrich II. von Preußen … dann hat er drei Kriege gegen Maria Theresia geführt und Schlesien erobert.“ – Und was noch?

„Zum Schluss ist er ermordet worden.“ „Was?“ sagt der Vater, „das stimmt auf keinen Fall, Friedrich der Große ist eines ganz natürlichen Todes gestorben! Sag das deinem Lehrer!“

Fritzchen am nächsten Tag in der Schule hält das nun in gleichem Wortlaut seinem neuen Geschichtslehrer vor. – Dieser Lehrer lächelt überlegen: „Nein, nein, Fritzchen, da irrt sich dein Vater.“ Er geht zum Schrank, holt ein dickes Buch hervor, blättert darin und zeigt dann auf die Abbildung auf einer aufgeschlagenen Buchseite und sagt: „Siehst du, Fritzchen, hier unter diesem Bild steht ganz deutlich geschrieben: Friedrich der Große auf dem Totenbette nach einem Stich von Adolph von Menzel!“ –

Zehn Jahre später, nachdem die erste akademisch gebildete Lehrergeneration mit uns vermischt war und es einigen unter diesen diplomierten Fachlehrern mitunter schwer fiel, neben bewährten Neulehrern gut zu bestehen, war dieser Witz nicht mehr aktuell.

Mitte der fünfziger Jahre, im Zuge einer Lockerung nach dem 17. Juni 1953, wurden einige der ehemaligen Lehrer aus der NS-Zeit wieder als Lehrer eingestellt. Damit begründet, dass sie, nunmehr als einstige „nur nominelle Mitglieder der NSDAP“ eingestuft, rehabilitiert worden wären. Andererseits – wie wir dachten –, um die personellen Lücken zu schließen, die durch die zunehmende Fluktuation von Lehrern in den „Westen“ entstanden waren.

Als Lehrer in Gotha/Thüringen 1950–1990

Подняться наверх