Читать книгу Als Lehrer in Gotha/Thüringen 1950–1990 - Heinz Scholz - Страница 20
Lehrer – oder Staatsfunktionär und Propagandist?
ОглавлениеWie schon aus einigen meiner Ausführungen zu ersehen, sollten wir Lehrer, vor allem wir Genossen Lehrer, uns als Staatsfunktionäre verstehen. Gemäß dem „Klassenauftrag“ hätten wir im Unterricht wie im außerunterrichtlichen Bereich auf Kinder und Eltern ideologisch „aufklärend“ einzuwirken.
Das Verb „aufklären“ und der Begriff „Aufklärungseinsatz“ gehörten zur politischen Sprache der 50er Jahre. Es gab „Aufklärungslokale der Nationalen Front“, eingerichtet in irgend einem Parterre-Haus im Wohnbezirk, außen und innen mit Transparent und Plakaten gekennzeichnet. Man holte oder lud Leute herein, um sie „aufzuklären“ und sie „zu überzeugen“! Dort wie überall galt es, „klare Köpfe“ zu schaffen und das „bürgerliche Bewusstsein“ aus „den Köpfen zu treiben“.
In solchen Aufklärungs-Pamphleten oder Zeitungstexten war gewiss manche politische Einschätzung oder beschriebene Entwicklung halb wahr oder irgendwie nicht ganz falsch. Doch man bekam keine Chance, „Erklärtes“ öffentlich kritisch zu hinterfragen, ehrlich darüber zu diskutieren oder sich von absurden Behauptungen zu distanzieren. Man sollte einfach die penetrant aufgesagte „Wahrheit“ verstehen und als „gesetzmäßig“ und „wissenschaftlich“ belegt anerkennen. Diese „Aufklärung“ und „Überzeugungsarbeit“ war nichts anderes als purer Gesinnungszwang. Der „Bürger“ musste dem aufdringlichen propagandistischen Funktionärsredner gefügig zuhören, war dem politischen Gelärm des Rundfunks und den endlosen ZK-Berichten in den Zeitungen ausgesetzt, wurde zu befohlenen Demonstrationen und Versammlungen kommandiert und zu Resolutionsunterschriften und zu heuchlerischen Bekenntnissen genötigt. Das alles war so grell, so schreiend, so primitiv, dass es Augenblicke oder Tage gab, wo ich glaubte, es nicht mehr ertragen zu können.
Andererseits war ich zufrieden mit meiner Tätigkeit als Lehrer. Ich fühlte mich beruflich an richtiger Stelle, nahm meine Arbeit ernst, sah mich bestätigt durch Respekt und Sympathie bei Schülern und Eltern, fühlte mich auch wohl im Kollegium und unter gleich gesinnten Freunden und wollte – selbst wenn ich jetzt anstrengender und länger arbeiten musste als früher in meiner Mechanikerwerkstatt – wirklich gern Lehrer bleiben. Ich wollte auch bereitwillig beim Aufbau einer demokratischen sozialistischen Gesellschaft mitarbeiten und akzeptieren, dass selbstverständlich zur Sicherung von zivilem Recht, von staatlich-gesellschaftlicher Ordnung und sozialer Gerechtigkeit entsprechende Gesetze sowie notwendige ethische Normen gelten müssen. Doch die Willkür dieser absoluten politischen Diktatur, die die Gewaltanwendung gegen andersdenkende Menschen als gesetzmäßig und legitim erklärte und ungeschoren ausübte, schreckte mich zurück und ließ mich nicht zur Ruhe kommen. Gerade ich als Genosse der SED, mittendrin im untersten Machtgetriebe, glaubte zu erkennen, dass dieser politische Gesinnungsterror nicht nur voreiligen Übergriffen kleiner Gernegroße entsprang. Hinter solchen Funktionären auf niederer und mittlerer Ebene stand befehlend und kalt fordernd die zentrale Macht Ulbrichts und seines Politbüros. Von oben herab, mit der Moskauer Machtzentrale im Rücken, hat man unbarmherzig die „sozialistische Revolution“ vorangetrieben – ohne Rücksicht auf das natürliche Freiheits- und Rechtsbedürfnis der Menschen.
Die nach dem Juniaufstand 1953 vorübergehend aufkommende Hoffnung auf zunehmende Liberalisierung mit mehr Achtung vor dem Menschen hielt sich unsicher für zwei drei Jahre. Innerhalb der Partei merkte ich bald, dass der von der SED-Führung ausgerufene „Neue Kurs“ lediglich zur augenblicklichen Beruhigung der aufgeregten Lage und zur strategischen Vorbereitung weiterer harter „revolutionärer“ Kampagnen dienen sollte.