Читать книгу Als Lehrer in Gotha/Thüringen 1950–1990 - Heinz Scholz - Страница 11

Partei und Schule

Оглавление

Ich rede hier, wenn ich von Schule spreche, immer noch von materiellen Bedingungen und politischen Begleiterscheinungen. Wäre es nicht angebracht, zuerst über Unterricht, Lehrtätigkeit und Erziehung zu schreiben? Aber da zögere ich. Über dieses Hauptgeschäft zu reden, das schiebe ich vorerst noch vor mir her. Ich denke, ohne die staatlich vorgeschriebenen und politisch oktroyierten Rahmenbedingungen zu beschreiben, kann man die schwierige Arbeit eines Lehrers im ersten Jahrzehnt der DDR nicht verstehen. Von politischer Einflussnahme auf die Schule war bei dem bereits Gesagten schon die Rede. Nun scheint mir nötig, davon ausführlicher zu berichten, wie die Staatspartei, die SED, und deren Parteiapparat bzw. Funktionäre auf Erziehung, Bildung und Unterricht in unserer Schule eingewirkt haben.

Ich war seit März 1950 Kandidat der SED, wurde 1952 (am Ende der Kandidatenzeit) nach entsprechender Überprüfung als Mitglied in die SED aufgenommen und dann so fest und endgültig eingebunden, dass mein berufliches Leben als Lehrer künftighin nicht mehr zu trennen war von meiner Bindung an die Partei. Einige Geschehnisse und persönliche Erlebnisse aus meinem Parteileben, besonders in den harten Zeiten der 50er Jahre, haben sich in mir so fest eingeprägt, dass ich sie bis heute nicht vergessen kann. Manche Belege oder auch Notizen von einst habe ich mir aufgehoben, immer in dem Gedanken: Halte das fest, das glaubt dir sonst später niemand. Als Mitglied der SED verstand ich mich zwar bis zu einem gewissen Grade als sozialistisch denkender Mensch, kam aber nicht los von einem zehrenden Misstrauen gegenüber „meiner“ Partei. Manche meiner Erfahrungen, z. B. bei meinem „Parteieintritt“ in der Pädagogischen Fachschule, standen im Widerspruch zu meinen gewonnenen politischen Anschauungen. Ich hatte mich in den Nachkriegsjahren mit Hitler, mit der Nazi-Diktatur und mit dem II. Weltkrieg auseinandergesetzt, zunächst autodidaktisch und anschließend vor allem durch meine Studien während meiner Ausbildung zum Geschichtslehrer. Damit hatte ich fürs erste die selbst miterlebte NS-Gewaltherrschaft – so weit möglich – verarbeitet. Doch wie sich das „neue antifaschistisch-demokratische“ System“ in der Praxis dann darstellte, vor allem wie die SED als sozialistische Arbeiterpartei absolut und erbarmungslos herrschte und seit 1952 den revolutionären Übergang zum Sozialismus mit Gewalt diktierte und auch innerhalb der Partei Zwang ausübte und Unterwerfung verlangte – damit kam ich nicht zurecht. Die Rücksichtslosigkeit gegenüber gutwilligen Menschen wurde mit der Notwendigkeit eines Klassenkampfes und mit dem Dogma von der „Diktatur des Proletariats“ begründet! So einer Diktatur begegnete ich, der ich eine Diktatur schon hinter mir hatte, mit großer Skepsis.

Warum dann, so kann berechtigt gefragt werden, bist du in die SED eingetreten? Eine ausführliche Antwort darauf habe ich an anderer Stelle schon gegeben. Hier nur noch einmal kurz gefasst: Es war mein opportunistisches Zugeständnis gegen Ende meiner Studienzeit, nachdem mir Dozenten nach zwei „Aussprachen“ mahnend vorgehalten hatten: „Wer sich politisch nicht klar bekennt und entscheidet, der kann auch nicht Lehrer werden in der Schule der DDR!“ Das war – sechs Wochen vor dem Examen – für mich wie eine Erpressung!

Wenn diese SED-Partei in jener Zeit mit ihren Mitgliedern, mit ihren Genossen, politisch überzeugend, auch im gewissen Sinne kameradschaftlich und vor allem tolerant und verständnisvoll umgegangen wäre, wenn sie ihre demokratische Verpflichtung hoch- und eingehalten hätte, dann wäre ich ihr wahrscheinlich bereitwillig gefolgt. Doch wenn ich als Genosse der Partei immer wieder zu spüren bekomme, dass Klassenkampf und Diktatur des Proletariats für mich nichts anderes bedeutet als der von oben nach unten hierarchisch weiter getretene Druck und Zwang, zu denken und zu tun, was eine Parteiführung oben befiehlt und was sie zur einzigen Wahrheit erklärt, dann fühlte ich mich eher als Sklave dieser Partei und nicht als ihr Genosse und politischer Gefährte. Und gewissenlose Karrieristen oder fanatische Eiferer auf allen Stufen des Machtapparates mischten bereitwillig mit – als Befehlsempfänger nach oben und als mittelgroße und kleine Tyrannen mit dem rohen Stiefel der Macht nach unten. Selbständig denkende Genossen, die sich kritisch äußerten, wurden zur Raison gebracht oder als „sozialdemokratische Abweichler“ oder „Klassenfeinde“ verunglimpft und beiseite geräumt. Wer die von der Partei „wissenschaftlich erarbeitete“ und verkündete „Wahrheit“ nicht billigen wollte, der war entweder dumm oder ein politischer Feind. Wer gegen Machtmissbrauch aufbegehrte oder verfassungsrechtliche demokratische Rechte oder gar persönliche Meinungsfreiheit einforderte, dem drohte, als „unverbesserlicher Nazi entlarvt“ zu werden. Diese Partei erzeugte Angst, nicht nur nach draußen hin, sondern vielfach auch bei ihren eigenen Genossen innerhalb der Partei.

In der Gewissheit solcher Parteimacht im Rücken, sahen sich manche Genossen der SED-Parteigruppe in der Schule mitunter auch verführt, auf unterster Ebene ein bisschen Macht mit auszuüben. Meinen ersten Schock erhielt ich, nachdem ich in einer der ersten Versammlungen der SED-Gruppe an der Schule (bei etwa 10 – 12 Mitgliedern von 28 Lehrern) miterlebt hatte, wie zwei Genossinnen in politisch-intriganter Weise über zwei parteilose „bürgerliche“ Kolleginnen herzogen, die ich bereits als anständige Menschen und tüchtige, erfolgreiche Lehrerinnen kennen und schätzen gelernt hatte.

Doch die meisten Genossen/​innen strebten gemeinsam mit der Schulleitung danach, die von oben vorgegebenen politischen Weisungen im Interesse vernünftiger Regelungen entweder formal auszuführen oder möglichst human vertretbar abzuwandeln. Der Genosse Schulleiter und sein Stellvertreter wollten möglichst ohne große politische Aktionen und ohne penetrante Agitation einen ruhigen, ungestörten und vernünftigen Schulbetrieb aufrechterhalten und sichern, während SED-Funktionäre der Kreisleitung oder des Schulamtes von außen mit Parteiauflagen, politischen Kampagnen oder mit politischen Blitzeingriffen wiederholt den kontinuierlichen Unterrichtsbetrieb störten.

Da kam zum Beispiel ein Anruf von der Kreisleitung, von dem für Schulen zuständigen Sekretär, dass unverzüglich die politische Sichtwerbung an der Außenfront der Schule verbessert werden müsse. Man habe gesehen … und das genüge keinesfalls! Oder es wurde eine breite politische Kampagne an die Schule in Auftrag gegeben, sofort „operativ“ einzugreifen und mitzutun. Ich erinnere mich, wie Schüler, sogar der 6. Klassen, Aufsätze in Briefform mit politischem Inhalt schreiben und an westdeutsche Bürger schicken mussten. Diese Kinder sollten darin im aufklärerischen Sinne erwachsene Menschen in der BRD agitieren und für die „friedliebende Deutschlandpolitik der DDR“ werben! – Besonders nach SED-Parteitagen und vor „Volkswahlen“ wurden die Schulen zu politischen Kampagnen und Aktionen verpflichtet. Meist zielten die gestellten Aufgaben darauf ab, Lehrer, Schüler und Eltern durch eine ideologische Offensive gefügig zu machen. Jeder müsse doch das „Aufbau- und Friedensprogramm von Partei und Regierung“ unterstützen und selbstverständlich für „die Macht der Arbeiter und Bauern zum Wohle des Volkes“ eintreten! Wer wollte da dagegen sein?! So sei es doch ganz selbstverständlich, dass alle (guten) klassenbewussten Menschen ihre Stimme schon am frühen Morgen des Wahlsonntags „für Frieden und Sozialismus“ „offen“ abgeben!

1952/​53 wurde ich zum Parteisekretär „gemacht“. Das heißt, die Genossen von Schulleitung und ins Vertrauen gezogene Genossen hatten für die nötige Mehrheit gesorgt und eine Bestätigung durch die Kreisleitung einkalkuliert. Meine Stellung als Parteisekretär an der Schule solle die Mehrheit der „Gemäßigten“ sichern helfen, so der Genosse Schulleiter. Ich ließ mich überreden, ohne mir bis ins einzelne bewusst zu sein, was mir da aufgebürdet wurde. Bald fühlte ich mich überfordert. Und mich womöglich gar als politischer Klassenkämpfer an der Schule aufzuspielen, das kam für mich nicht in Frage. Der Schulleiter war zwar bemüht, mit mir als Parteisekretär vertrauensvoll zusammenzuarbeiten. Er nahm mich gelegentlich zur Seite, besprach mit mir intern, wie wir uns an der Schule gegenüber vorgegebenen politischen Auflagen verhalten oder wie wir die geforderten schulpolitischen „Arbeitspläne“ konzipieren sollten u. dgl. Immer mit der Absicht, sinnlose, den Schulbetrieb störende und belastende Aktionen wenigstens abzuschwächen und die ganze Politisierung der Schule in Grenzen zu halten. Doch selbst wenn ich vernünftigen Willens war, drückte mich die Zwangsjacke.

Das Schlimmste für mich waren die regelmäßigen Schulungen der Parteisekretäre im Haus der Kreisleitung der SED! Meist war es dort der verantwortliche Funktionär für Propaganda, der die aktuellen Ziele der Partei erläuterte und uns Parteisekretären der Schulen die politischen Aufgaben auferlegte. Wir mussten monatlich schriftliche Berichte über die an der Schule geleistete „politische Arbeit“ vorlegen, aus besonderem Grund auch vor der Versammlung mündlich vortragen. Wer von den anwesenden Parteisekretären schlecht abschnitt, musste „Selbstkritik“ üben und versäumte Aufgaben nachholen. Dieses Erscheinenmüssen bei der herrschenden Kreisleitung zum Rapport, zum autoritären Befehlsempfang, wirkte auf mich niederdrückend, und ich war froh, wenn unsere Schule nicht negativ genannt wurde.

Besonders in den Jahren 1952/​53, nach der II. Parteikonferenz mit ihren Beschlüssen zum „Aufbau des Sozialismus in der DDR“, nahm der politische Druck zu. Jedem Bürger, jedem Genossen und vor allem jedem Lehrer musste nun „klargemacht“ werden: Jetzt „verschärft sich der Klassenkampf, … der politische Gegner verstärkt seine feindlichen Angriffe gegen unseren jungen Staat und unser sozialistisches Aufbauwerk“, … daher seien „verstärkte Wachsamkeit und erhöhte Anstrengungen … “ unbedingt erforderlich usw. Was nichts anderes hieß, als dass die bereits praktizierte Diktatur entsprechend verschärft und zugespitzt würde. – Im Schulbereich des Kreises Gotha hatte dies auf radikale Weise der damalige Schulrat B. umgesetzt. Man konnte sagen: Der Genosse Schulrat herrschte uneingeschränkt. Er zitierte die Schulleiter zum Befehlsempfang und verlangte die bedingungslose Ausführung seiner Weisungen. Gegen den „Klassenauftrag“ gab es keinen Widerspruch.

Einmal geriet ich persönlich in sein Blickfeld: Im Winter 52/​53 bestellte er mich zu sich und teilte mir kurz und bündig mit, dass ich mit Beginn des folgenden Schuljahres in Güntersleben als Schulleiter eingesetzt werde, und zwar an der „ersten sozialistischen Schule im Kreis Gotha“! Dort sei die erste Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft im Kreis Gotha gegründet worden, und in diesem „ersten sozialistischen Dorf des Kreises“ brauche man einen jungen, klassenbewussten, zuverlässigen Genossen als Schulleiter, und ich – ein aus der Arbeiterklasse stammender Genosse und bewährter Lehrer – sei für diese verantwortungsvolle Aufgabe besonders prädestiniert und deshalb ausgewählt worden. Mir verschlug es die Sprache, und ich versuchte mich zu wehren: Ich fühle mich da völlig überfordert, sei keinesfalls geeignet … keine Erfahrung in Sachen Schulleitung … zu jung … erst zwei Jahre im Schuldienst … …längst nicht fertig mit fachlicher Ausbildung usw. Er ließ absolut nichts gelten, zeigte keinerlei Verständnis und quittierte alle meine Begründungen kurz mit den Worten: „Der Mensch wächst mit der Größe seiner Aufgaben!“ Ich sah für den Augenblick keinen Ausweg, bat um Bedenkzeit – zwei Tage wenigstens. Ärgerlich sagte er zu, aber drohte mir: „Wenn nicht, dann kriegst du den Parteiauftrag!“ – Nach zwei Tagen fand ich mich wieder ein – mit einer schriftlich verfassten Ablehnung. Der Genosse Schulrat war nicht in seinem Büro. Ich atmete auf, übergab mein Schreiben eiligst seinem Stellvertreter und verschwand so schnell wie möglich. Nun bangte ich, was da noch folgen würde. Aber das befürchtete Nachspiel blieb aus. Wenig später erfuhr ich, wer an meiner Stelle nach Güntersleben beordert worden war. – Meine Ablehnung gründete sich einerseits auf meine Unsicherheit; für die Aufgabe eines Schulleiters fühlte ich mich wirklich zu unerfahren; doch viel stärker war meine Sorge, als Schulfunktionär unter der Herrschaft der Partei noch fester und unentrinnbar in dieses absolute Machtgefüge eingebunden zu werden. Ich fürchtete, diesen Druck und Zwang psychisch nicht aushalten zu können, und sah moralisch die Gefahr, in die Rolle eines angepassten politischen Funktionärs abzugleiten.

Vor herausragenden politischen Ereignissen, wie Wahlen, politischen Gedenk- oder Feiertagen, auch nach unerwarteten politischen Geschehnissen oder zu aktuell politischen Anlässen wurden auch die Schulen aufgefordert, ihre Meinungen oder Schlussfolgerungen öffentlich darzulegen. Das heißt, die Partei forderte von Lehrerkollegien, schriftlich ihre geschlossene parteiliche Meinung in Form von Resolutionen oder Selbstverpflichtungen zu formulieren und dem politischen Auftraggeber zuzuschicken. Möglichst so passgerecht, dass man sie in der Presse propagandistisch verwenden könnte.

Ich erinnere mich, wie auf dem Höhepunkt des jahrelangen, primitiven und an religiösen Fanatismus grenzenden Stalinkultes, unmittelbar nach dem Tode Stalins, eine breit angelegte, in alle Lebensbereiche hinein wirkende politische Kampagne und Verpflichtungs-Bewegung in Gang gesetzt worden war.

Ich zitiere dazu Auszüge aus dem

„Beschluß des Sekretariats der Kreisleitung der SED Gotha vom 12. 3. 1953“, der in Form eines Schreibens, 14 Punkte enthaltend, allen SED-Grundorganisationen zugestellt wurde:

1. Sämtliche Parteiorganisationen in den volkseigenen und artverwandten Betrieben und in der Privatindustrie sowie an den Schulen, in den örtlichen Organen der Staatsmacht, in den volkseigenen Gütern, Produktionsgenossenschaften, MTS und in den Massenorganisationen oder sonstigen Institutionen und Ortsparteiorganisationen werden beauftragt, die persönlichen oder im Kollektiv abgegebenen Verpflichtungen zu erfassen und in ihrer Durchführung zu kontrollieren. Über die Durchführung der Realisierung ist … zu berichten. Bei Nichteinhaltung der Verpflichtungen ist die öffentliche Kritik zu entfalten. Die betreffenden Personen müssen zur Rechenschaft gezogen werden.

4. Die Grundorganisationen werden beauftragt, jeden zweiten Tag über die Stadtbezirke bzw. der Kreisleitung direkt Bericht zu geben, über alle Vorkommnisse, die sich anlässlich des Ablebens des Genossen Stalins gezeigt haben. Das gilt sowohl für Verpflichtungen als auch für Erscheinungen der Arbeit des Klassengegners …. Negative Erscheinungen, die die Mitglieder der Blockparteien betreffen, müssen schnellstens … zur Diskussion gestellt werden und Schlussfolgerungen gezogen werden.

7. Genosse F …, Vorsitzender vom Friedensrat, erhält den Auftrag, dafür zu sorgen, dass einzelne Persönlichkeiten, Künstler, Professoren, Pfarrer, Doktoren usw. an die gleichen Kreise von Personen nach Westdeutschland schreiben und sie auffordern gegen den Generalkriegsvertrag*) Stellung zu nehmen.

9. Alle Genossen in den Massenorganisationen werden beauftragt, im Rahmen der starken Selbstverpflichtungsbewegung zum Ableben des Genossen Stalin, eine starke Selbstverpflichtungsbewegung von Jugendlichen für den Eintritt in die kasernierte Volkspolizei und VP-Helfer zu organisieren. Das gleiche gilt für die verstärkte Werbung für die Gesellschaft für Sport und Technik sowie für die Deutsch-Sowjetische Freundschaft.

12. Genosse B … wird beauftragt, sämtliche Schulen des Kreises zu veranlassen, daß dort ebenfalls eine starke Selbstverpflichtungsbewegung anlässlich des Todes des Genossen Stalin entfaltet wird. Es ist besonders darauf hinzuwirken, daß die Schulen … Schulen in Westdeutschland anschreiben, um sie gegen die 3. Lesung des Generalkriegsvertrages zu mobilisieren …

*) Beitritt der BRD zur Europäischen Verteidigungsgemeinschaft. (2)

Man achte in diesem Schreiben der SED-Kreisleitung auf den imperativen Sprachstil: „ … beauftragt ….“, „zu entfalten“, „zu mobilisieren“, „zu organisieren“, „Schlußfolgerungen ziehen“ … „zur Rechenschaft zu ziehen“ usw. Ich habe an Text und Orthographie nichts geändert!

Im Frühjahr 1953 hatte die SED- und Staatsführung einen breit angelegten Angriff gegen die Kirche, insbesondere gegen die evangelisch-kirchliche Jugendorganisation „Junge Gemeinde“, eingeleitet. Diese Kampagne zielte hauptsächlich auf die Oberschulen, wo den 14 – 18-jährigen Jugendlichen kategorisch die Entscheidung abverlangt werden sollte: entweder Eintritt in die FDJ oder „Junge Gemeinde“. Das bedeutete, wer sich nicht für „unseren“ Staat, also für die FDJ, entscheidet und stattdessen weiterhin Mitglied der christlichen Jungen Gemeinde bleibt, der verdiene nicht, die Oberschule besuchen zu dürfen! Als staatsfeindliches Delikt warf man der evangelischen „Jungen Gemeinde“ vor, sie stünde durch ihre Beziehungen zur evangelischen Kirche in Westdeutschland mit dem „westdeutschen Imperialismus“ in Verbindung. Man konnte in der Zeitung lesen: „Junge Gemeinde – Tarnorganisation für Kriegshetze, Sabotage und Spionage im USA-Auftrag“ (Schlagzeile aus „Junge Welt“, Extrablatt April 1953) (3)

Auf die Löfflerschule als Grundschule (damals Klassen 1 – 8) traf diese politische Attacke nicht zu. Aber die Parteisekretäre der Grundschulen sollten in der Gothaer Arnoldi-Oberschule „zum Einsatz gebracht werden … zur Unterstützung der dort tätigen Genossen Lehrer“!

So bestellte man uns Parteisekretäre in die Kreisleitung. Dort wurden wir instruiert, noch mal „gründlich“ über den „staatsfeindlichen Charakter“ der Jungen Gemeinde „aufgeklärt“ und „mit Parteiauftrag“ verpflichtet, in der Arnoldischule mit den Jugendlichen einer jeweiligen Klasse „zu diskutieren“. Mit dem Ziel, die betreffenden Mädchen und Jungen von der Jungen Gemeinde abzuziehen und einzig und allein dem Dienst in der FDJ zuzuführen. Abschließend bekam jeder von uns die für ihn vorgesehene Klasse genannt und den bereits festgelegten genauen Zeitpunkt zur befohlenden „Aussprache.“ Wie gesagt: Das war ein „Parteiauftrag“ – fast wie ein militärischer Kampfauftrag! Keiner der versammelten Parteisekretäre von den Schulen hat widersprochen!

Mir, zu dieser Zeit noch Parteisekretär der Löfflerschule, blieb bis zu meinem Termin eine Frist von etwa 12 Tagen. – Ich wusste, was da auf mich zukam: Entweder auf die Jugendlichen dieser 11. Klasse Druck ausüben, sie einschüchtern, ihnen drohen und sie in die Enge treiben (was mir die Partei hoch anrechnen würde) oder ihnen eindeutig Toleranz zusichern, ihnen zuhören und sie selber frei entscheiden lassen. – Ich hatte unruhige Nächte und legte mir nach mehrfachen Überlegungen ein Konzept zurecht, nach dem ich vorgehen wollte, ohne die Jugendlichen dieser Klasse zu gefährden, und wodurch ich gegenüber der Partei sichtbar machen konnte, dass ich trotz „guten Willens“ für eine derartige Aufgabe nicht geeignet sei. Diesen gedachten Plan trug ich schwer mit mir herum, versuchte ihn in Gedanken zu präzisieren und auszugestalten, doch dann – ganz plötzlich und unerwartet wurde das ganze Unternehmen „Junge Gemeinde“ auf der Stelle abgeblasen!

Der 17. Juni 1953, der „Neue Kurs“ von Partei und Regierung in Verbindung mit dem Aufstand der Berliner Arbeiter und der begonnene Streik der LOWA-Arbeiter in Gotha, hatte die SED-Kreisleitung gezwungen, jene Aktion abrupt fallen zu lassen. Ich sah mich über Nacht wie befreit und war heilfroh, dass diese drückende Last von mir gewichen war. Zugleich waren jene Tage vom 17. Juni auch für uns in der Schule sehr aufregend. Der Unterricht sollte wie gewohnt weitergeführt werden, was auch geschah. Wir „Genossen“ wurden durch Kurier angewiesen, sofort „höchste Wachsamkeit“ zu üben. Ein Schulinspektor brachte zwei Kleinkalibergewehre mit Munition ins Direktorzimmer (!) und verordnete eine Nachtwache in der Schule. Das hieß, wir Genossen mussten des Nachts zu zweit als Doppelposten im Schulhaus Wache halten – gegen eventuelle „feindliche Handlungen des Klassengegners“. Über Telefon sollten wir der übergeordneten Dienststelle, also dem Büro des Schulrates, sofort Meldung erstatten, falls unserer Schule Gefahr drohe! – Wir fanden das lächerlich, setzten uns nachts zu dritt ins Direktorzimmer und spielten Skat. Ab und zu wurde angerufen und gefragt, ob alles in Ordnung sei. Nach der dritten Nacht, so glaube ich mich zu erinnern, wurden die Gewehre wieder abgeholt. Aber innerhalb der Partei herrschte weiterhin höchste Wachsamkeit.

In jenen 50er Jahren war ein gewisser Genosse x als Beauftragter der SED-Kreisleitung, Abt. Agitation und Propaganda, für die Schulparteiorganisationen zuständig. Er leitete Zusammenkünfte der Schulparteisekretäre in der Kreisleitung, erteilte Anweisungen, prüfte Versammlungsprotokolle, Arbeitspläne und Rechenschaftsberichte der Schulparteiorganisationen, nahm an deren Parteiversammlungen teil und war insgesamt für Kontrolle und Anleitung der Schulparteiorganisationen und somit auch für die politische „Betreuung“ der Löfflerschule verantwortlich.

Ich vergesse diesen Mann nicht: seinen Namen, sein arrogantes Auftreten, seine krähende Feldwebelstimme, sein aggressiv durchdringender Blick, seine spitzen, scharfen dogmatischen Phrasen – alles das sehe und höre ich, wenn ich zurückdenke an diesen kleinwüchsigen mächtigen Mann der Partei. „Giftzwerg“ wurde er genannt unter den Genossen der Gothaer Schulen. Dieser Parteifunktionär war für mich ein personifiziertes Sinnbild stalinistischer Parteidiktatur. Das war kein „Genosse“, wenn man darunter einen gleichgesinnten, vertrauten politischen Freund und Gefährten versteht. Er war der kleine Diktator – ein Ebenbild der Mächtigen von den oberen Etagen der Partei.

Ich erinnere mich noch genau, wie er als Instrukteur der SED-Kreisleitung in einer Wahl-Versammlung unserer Parteigruppe aufgetreten ist. Die Genossin P., die mir nachfolgende Parteisekretärin an der Schule, hatte den Rechenschaftsbericht der Parteileitung der Schule vorgetragen, dann wurde die neue Parteileitung gewählt und anschließend der neue Arbeitsplan der Parteigruppe gelesen und erläutert. Er hörte sich noch den Beginn der Diskussion an, dann setzte er mit einem Donnerwetter ein, verriss in harten Worten den Arbeitsplan, schrie scharf seine Beanstandungen in die Runde, erklärte den Arbeitsplan für null und nichtig, forderte auf der Stelle dessen grundlegende Überarbeitung und Korrektur und befahl die Wiederholung dieser Wahlversammlung, an der er selbstverständlich wieder teilnehmen werde. Es wirkte vernichtend und in hohem Maße verletzend. – Ich weiß heute nicht mehr genau, was er bemängelt hatte oder welches „wichtige“ politische Klassenkampf-Thema die Parteisekretärin in ihrem Arbeitsplan vergessen hatte. Das wäre auch nicht so wichtig, es war einzig und allein sein geradezu menschenfeindliches Auftreten. Waren wir seine politischen Sklaven oder seine politischen Freunde und Genossen? Man erzählte sich damals, dass dieser Genosse im trunkenen Zustand damit prahle, unter seiner Jacke eine Pistole zu tragen – natürlich im Auftrag der Partei! Ob das nun stimmte oder nicht. Man traute es ihm zu, zumal die politische Herrschaft der Partei in ihrer ganzen Schärfe hinter ihm stand.

Diese Art zu herrschen und die eigenen Genossen voranzutreiben wurde immer wieder mit der „notwendigen Härte im verschärften Klassenkampf“ begründet. Die Partei müsse verlangen, dass ihre Mitglieder bedingungslos gehorchten und mit gleicher „Konsequenz“ und „Parteidisziplin“ gegenüber Kollegen, Schülern und Eltern aufzutreten hätten.

So fragte ich mich: Ist diese praktizierte Diktatur der SED nicht nach innen gerichtet? Dient sie nicht in erster Linie zur Disziplinierung oder gar zur bedingungslosen Unterwerfung der eigenen Parteimitglieder und darüber hinaus eines ganzen Volkes? Und „unsere sowjetischen Freunde“ und die KPdSU als „Bruderpartei“ – sind wir nicht deren Gewaltherrschaft und Besatzungsmacht ohnmächtig ausgeliefert? – Immer wieder die Frage: Geht es um den Sozialismus oder geht es um die feste Verankerung und Festigung der sowjetrussischen Machtposition in Mitteleuropa? – Oder um beides?

Andererseits fiel es mir auch schwer, damals der Deutschlandpolitik Adenauers zu folgen. Hätte man nicht doch das sowjetische Angebot zu einem Friedensvertrag unter der Bedingung einer Neutralisierung Deutschlands und ohne Wiederbewaffnung annehmen sollen? Die Sowjets wenigstens beim Wort nehmen müssen? Demokratie für ganz Deutschland unter Verzicht auf Einbindung in einen Militärpakt, weder nach Ost noch nach West – wäre das nicht eine annehmbare Perspektive gewesen? Und Aussicht auf eine „bessere Freiheit“ für uns hier im Osten?

Dann störten mich auch die Alten Nazis in den Bonner Ämtern und Behörden. Oder war das nur üble Propaganda der SED – diese „Globke“ und „Oberländer“?

In starken inneren Konflikt geriet ich, wenn ich zu einem Agitationseinsatz beordert wurde. Ich erinnere mich, wie wir Lehrer am Wochenende mit einem LKW zu einem „Aufklärungseinsatz“ nach Haina, einem Dorf im Kreis, gefahren wurden. Dort erhielten wir zu zweit oder zu dritt einen Straßenabschnitt zugewiesen, wo wir von Haus zu Haus die Leute aufsuchen und „aufklären“ sollten. Vielleicht über das „Wahlprogramm der Nationalen Front“ oder irgendwelche Parteitagsbeschlüsse oder auch über die „Friedensvorschläge“ der Sowjetunion. Jedenfalls zu dem Thema einer aktuellen ideologischen Kampagne. Ein andermal – so weiß ich noch – mussten wir in Gierstädt von Haus zu Haus gehen und die Bauern für irgendeine politische Aktion oder bevorstehende „Volkswahl“ agitieren. Wenn das Hoftor geschlossen blieb nach mehrmaligem Klopfen, zogen wir zufrieden weiter. Natürlich gab es bei solchen Gesprächen, zu denen die Gesprächspartner beider Seiten gedrängt wurden, keinen echten Meinungsaustausch. Die Fremden, die da aus der Stadt gekommen waren, trugen pflichtgemäß, formal oder gekürzt und abgeschwächt die phraseologischen Parolen und Erklärungen vor; wenn möglich beschränkten sie sich auf die Überreichung einer „Aufklärungsschrift“. Die Angesprochenen standen da und nickten vorsichtig. Mancher Bauer wagte einen gemäßigten Einwand, gab aber sicherheitshalber zu verstehen, dass er die „Friedenspolitik von Partei und Regierung“ selbstverständlich unterstütze. Nur in wenigen Fällen zeigte man offen und unverkennbar eine ablehnende Haltung. Meistens entstand eine peinliche Heuchelei, die höchstens dann erträglich wurde, wenn sie in einen verschmitzt ironischen Dialog überging. – Es war ein widerliches Theater, weil alles erzwungen. Doch die Schule, sagen wir Partei- und Schulleitung, hatte einfach auf Anweisung der übergeordneten Parteiorgane eine bestimmte Anzahl von Kollegen/​innen „zu mobilisieren“, diesen den politischen Auftrag „zu erklären“, das heißt ihnen einfach zu sagen, was sie zu tun hätten. Wer von uns wollte eine ehrliche Verweigerung oder Ablehnung dieses unwürdigen Auftrages wagen? Dann als „Feind unseres Friedenskampfes“ und der „Arbeiterklasse“ dastehen? Unsere Kolleginnen konnten freilich Samstag nachmittags stichhaltige Gründe vorweisen oder vortäuschen: großer Haushalt, kleine Kinder oder Krankheit in der Familie; doch wir jungen Männer, zumal noch Genossen der SED, wir standen ganz oben auf der Liste, wenn es um die Auswahl geeigneter Einsatzkräfte ging. Und immer, wenn man sich letztendlich doch fügte, folgte man auch einer gewissen Angst, die – so empfand ich das –von den Parteimächtigen zur Machtausübung ganz bewusst genährt wurde.

Dazu diente, meines Erachtens, auch die öffentliche „Entlarvung“ und Verurteilung von „Klassenfeinden“ in Presse und Rundfunk. Ich erinnere mich, wie wir im Kollegium Schauprozesse, z. B. den Slanski-Prozess von Prag, auswerten mussten. Einmal sogar waren wir Mitglieder der SED-Gruppe der Schule in unseren Patenbetrieb, ins RAW, bestellt. Gemeinsam mit der Parteigruppe dieses Patenbetriebes mussten wir uns in einem Saal die Rundfunkübertragung einer „bedeutsamen“ Gerichtsverhandlung bzw. Urteilsverkündung gegen eine Gruppe von „Staatsfeinden“ anhören. Warum das? Ich meinte zu spüren, dass all die großen und kleinen Berichte von Prozessen gegen „Klassenfeinde“ bei der Bevölkerung Einschüchterung, Abschreckung und Angst erzeugen sollten.

Irgendwann in den Jahren 1952 – 54 schickte mich die Partei für zwei Wochen auf die Kreisparteischule Langensalza. Ich war vorher beauftragt worden, innerhalb der Schulparteiorganisation das „Parteilehrjahr“ zu leiten (… da ich ja Geschichtslehrer sei). Nun meinte man, mich auf dieser Parteischule darauf vorbereiten zu müssen. Dieser Lehrgang gab mir den Rest. Untergebracht in einem Internat, zu 5 oder 6 Personen auf dem Zimmer, hatten wir täglich einem 10-stündigen militanten Schulungsprogramm zu folgen und nach dem Abendessen „organisiertes Selbststudium“ zu betreiben. Um 22 Uhr Zapfenstreich – Bettruhe. Ich wollte abends mit dem Fahrrad nach Hause fahren. Das wurde nicht erlaubt. Zwei Wochen kein aufrichtiges Wort, unentwegt Heuchelei und ernsthaft verkrampfte Gesichter – das war quälend und niederdrückend.

Mit solchen massiven politischen Erfahrungen belastet, begann für mich die Zeit, in der ich mich von dieser SED innerlich immer weiter entfernte und darüber nachzudenken begann, wie ich mich von der Partei trennen könnte. Manchmal fühlte ich mich unter dem Druck dieser Parteidisziplin schlechter als auf dem Kasernenhof. Ich blieb auch fest entschlossen, mich nicht zum gewissenlosen Handlanger eines unerbittlichen Machtapparates herabwürdigen zu lassen, hatte ich mich doch schon einmal als junger Mensch einbinden lassen in eine Diktatur, die ich nachher als Schreckensherrschaft erkennen musste.

Ich wollte mich nicht gegen die Entwicklung einer sozialistischen Gesellschaft sträuben. Nein, mir wäre – nach meinem damaligen marxistischen Verständnis – eine sozial gerechte oder sozialistische Neuordnung schon recht gewesen, aber unter demokratischen Bedingungen! Hier aber in der SED-Wirklichkeit wieder Zwang, Angst und Gesinnungsterror – im Namen einer sozialistischen Idee! Nein – das konnte nicht besser sein. Oder waren es, wie gut meinende Genossen beschwichtigend sagten, lediglich die „Kinderkrankheiten einer neuen sozialistischen Gesellschaft“?


Tageszeitungsblatt vom 19. März 1953.

Hinzu kam, dass das, was ich vom „Westen“ hörte, von jenem Kapitalismus mit den vielen „tüchtigen Leuten“ aus alter Zeit, natürlich auch Misstrauen erregte. Dann wiederum war ich von der freien, kritischen Berichterstattung im westdeutschen Rundfunk und den übertragenen kontrovers geführten Bundestagsdebatten sehr angetan. Wenn ich (z. B.) im Radio hören konnte, wie der SPD-Abgeordnete Erler im Plenum des Bundestages gegen die Adenauer-Regierung loswetterte! War das nicht Demokratie?

Doch wir, die wir in der DDR lebten und hier arbeiteten, mussten wir uns nicht danach richten, wie uns die SED-Parteitage, das „Neue Deutschland“ und unsere „sowjetischen Freunde“ die Welt erklärten? Konnte man sich da als Mensch oder vor allem als Schullehrer heraushalten? Oder gar unberührt lassen von allen Skrupeln gegenüber dem totalitären Diktatur- und Machtgetriebe? Wäre es möglich oder zur Selbsterhaltung besser gewesen, das ganze ideologische Getöne samt Klassenkampf-Gelärme einfach zu überhören und sich damit abzufinden, dass wir Deutschen eben die Verlierer sind und dass uns – ganz nüchtern und realistisch gesehen – nichts anderes übrig bleibt, als sich bedingungslos zu fügen und mitzumachen – also mit den Wölfen zu heulen?

Doch ich stand nun mal nicht außerhalb oder auf zeitliche Distanz, sondern mittendrin! Mal dafür – mehr dagegen. – Und gab es da einen Weg, herauszufinden aus diesem Druckkessel?

Als Lehrer in Gotha/Thüringen 1950–1990

Подняться наверх