Читать книгу Als Lehrer in Gotha/Thüringen 1950–1990 - Heinz Scholz - Страница 22
Wieder in Gotha – in der Löfflerschule wie bisher
ОглавлениеDie tägliche Arbeit in der Schule, die Familie und natürlich die Partei mit samt dem politischen Getriebe nahmen mich wieder fest in die Zügel. Vor allem mein Fernstudium zwang mich an Schreibtisch und in Bibliotheken. An einem bestimmten Tag in der Woche war ich ausgeplant in der Schule. Meine 26 Unterrichtsstunden waren auf die übrigen fünf Wochentage gelegt, so dass ich den „Studientag“ frei behielt für das individuelle Studium bzw. für die Konsultationen mit unserer Mentorin. In den Sommerferien musste ich an einem dreiwöchigen Seminarkurs in Weimar teilnehmen – mit Vorlesungen, Klausuren, Zwischenprüfungen und 1957 abschließend mit Diplomarbeit und Staatsexamen.
Zu all dem nahmen mich natürlich meine Aufgaben als Klassenlehrer und als stellvertretender Schulleiter voll in Anspruch. Ich kam kaum zur Besinnung, wohl an die 12 – 14 Stunden täglich hatte ich zu arbeiten. Manchmal noch mehr. Für Korrekturen der Schülerarbeiten musste ich meist des Sonntags Zeit finden. Auch die Ferientage zu anderen Jahreszeiten blieben größtenteils aufgespart, um notwendige Studien nachzuholen und um für Schule und Unterricht nach- oder vorzuarbeiten. Es war eine harte Zeit, und unser familiäres Vorhaben, „in den Westen zu gehen“, trat ganz in den Hintergrund.
Zudem richteten die geforderten Studien mein Interesse auch auf literarische Themen und Werke, die mir besonders zusagten und denen ich auch gern tiefer nachgehen wollte. So wurde beispielsweise meine Begegnung mit Werk und Person von Bertolt Brecht für mich ein echtes Bildungserlebnis. Es kam wie eine Offenbarung über mich, weil ich vorher – völlig ohne Kenntnisse – mit Brecht nicht viel anzufangen wusste. – Das erste Mal war ich auf ihn gestoßen, als ich 1951 im Theater in Gotha das Brecht-Stück „Die Mutter“ zu sehen bekam. In der Pause bin ich rausgegangen! Was da stattfand auf der Bühne mit roten Fahnen und Sprechchören, das empfand ich als pure politische Agitation, so wie man sie derzeit auf unseren Straßen und Plätzen bei Aufmärschen und Demonstrationen erlebte. Das war doch kein Theater, wie ich es bislang verstand! 1955, während meines Fernstudiums, als wir nur oberflächlich die deutsche Literatur der zwanziger Jahre behandelten, hatte einer nach Brecht gefragt. Warum dieser so quasi übergangen würde, er wäre doch wichtig? Unsere Mentorin wich aus: Nun ja, der mache zwar sein Theater am Berliner Schiffbauerdamm, aber er sei ein eigenwilliger Mann, und sein „Episches Theater“ habe mit dem modernen „sozialistischen Realismus“ wenig zu tun. Sie messe ihm keine herausragende Bedeutung bei.
Solch einer Wertung misstraute ich. Wenig später, nachdem Brecht 1956 gestorben war und man ihn plötzlich im Übermaß öffentlich zu loben begann, reiste auf einmal, der neuen Linie angepasst, unsere Mentorin Frau Dr. W. als Referentin der „Nationalen Front des demokratischen Deutschland“ in Städten unseres Kreises umher – mit einem Vortrag über den bedeutenden deutschen Dichter Bertolt Brecht! Dieser plötzliche Wandel in der öffentlichen Bewertung Brechts gab mir erneut zu denken und machte mich erst recht neugierig. Dann hörte ich sagen: „Da nun tot, kann er sich nicht mehr wehren!“
Zu dieser Zeit kam mir mehr per Zufall ein Propagandaheftchen vom „Deutschen Friedensrat – Berlin“ (Ag 201/56 DDR – 125) unter die Hände. Und ich muss unbedingt zitieren, was darin Karl Kleinschmidt; Dompfarrer von Schwerin, in einem Nachwort über seinen Freund Bertolt Brecht gesagt hat:
„Bert Brecht war nicht nur seinen politischen Gegnern, er war auch uns, seinen politischen Freunden, unbequem, auf eine andere, viel tiefere Weise als seinen Feinden. Er war uns unbequem auf eine besonders abgefeimte Weise, uns immer wieder nicht nur auf einzelne Mängel, sondern auf den Grundfehler unserer Überzeugungsarbeit hinzuweisen, ….auf den Grundfehler, dass sie Überredungs- und keine Überzeugungsarbeit ist. Das Unbequemste daran ist, dass es sich nicht nur um eine andere Taktik oder Technik handelt, sondern um eine höhere Stufe der Menschlichkeit, um einen Respekt vor dem Andersdenkenden, der es ihm verbot, ihn zu überreden, wenn er ihn nicht zu überzeugen vermochte.“ (6)
Diese in der Öffentlichkeit kaum bemerkte, von mir entdeckte Würdigung Brechts war für mich eine ungeheuer interessante Erklärung, deren Wahrheit ich nun sofort zu prüfen gedachte. Mein Entschluss stand fest: Du musst jetzt Brecht lesen und sein Theater genauer kennen lernen. So besorgte ich mir die „Stücke“, deren ich habhaft werden konnte, und begann – trotz Zeitnot – zu lesen und merkte bald, dass ich mich zugleich mit seiner Theorie vom „Epischen Theater“ beschäftigen müsse. Natürlich wollte ich jetzt unbedingt Brecht-Inszenierungen auf dem Theater sehen. Abgesehen vom Theater Meinigen, wo Fritz Bennewitz (an einem abgeschiedenen Rand der DDR-Kulturszene) schon in den 50er Jahren hatte ungeschoren Brecht-Stücke inszenieren können, gab es erst mit Beginn der 60er Jahre rundum mehr Brecht-Aufführungen. (Ich erinnere mich an die „Dreigroschenoper“ in Weimar, an die „Mutter Courage“ in Erfurt, an den „Kaukasischen Kreidekreis“ …, an „ … Arturo Uri“, an „Das Leben des Galilei“ und an weitere Brecht-Erlebnisse in Weimar, Erfurt und Eisenach und später auch in Berlin am „B.E.“)
Nun will ich nicht weiter vorgreifen, aber doch sagen: Ich war sehr angetan von Brechts Theaterstücken und der Spielweise seines „Epischen Theaters“. Ich begriff seine marxistische Weltsicht und darüber hinaus vor allem das, was er mit seinem „Epischen Theater“ bezweckte. Nämlich, dass er den Zuschauer vor Illusionen und vordergründiger emotionaler Manipulation (wie beim „dramatischen“ Theater) bewahren und mit seinen Gestaltungsmitteln des Epischen Theaters hauptsächlich zu vernunftgemäßen Wahrnehmungen und zum dialektischen Denken anregen wollte. Der Zuschauer sollte nicht primär „tief gerührt“, sondern primär angeregt bzw. befähigt werden, gezeigte Charaktere, gesellschaftliche Umstände und Konflikte tiefer zu durchdenken und zu bewerten. Brecht hat keine heroischen „sozialistischen Helden“ zur begeisterten Nacheiferung und Parteilichkeit vorgeführt, keinen oberflächlichen „sozialistischen Realismus“ à la Ulbricht und Abusch demonstriert, keinen indirekten Gesinnungszwang ausgeübt, sondern hat mit seiner Theaterkunst selbständiges Denken und rationale Auseinandersetzung mit Argumenten und Haltungen herausgefordert. Und gerade das schien mir so wichtig. Genauer besehen, widersprach das der befohlenen „sozialistischen“ Kunstauffassung und einer vernunftwidrigen Parteipropaganda. So sah ich mich in meiner eigenen Meinung bestätigt und begann zu hoffen, dass sich, wenn ein so bedeutender kommunistisch gesinnter Dichter nach Freiheit im Denken verlangt, dass sich dann auch in unserem gesellschaftlichen Leben womöglich mehr Vernunft und Toleranz durchsetzen könne.
Ein von mir selbst gewähltes „Wahlthema“ für die mündlichen Prüfungen bei Abschluss meines Fernstudiums hieß: „Bertolt Brechts Theaterkunst!“ Frau Dr. W., mit in der Prüfungskommission, hat mir anerkennend zugenickt. Eine „Zwei“ habe ich bekommen!
Das Brechtsche Fünkchen Hoffnung in mir wurde weiter genährt durch unerwartete politische Vorgänge in Moskau, Warschau und Budapest. Wie wir wissen, auf dem XX. Parteitag 1956 hatte Chrustschow in einer Geheimrede „die Folgen des Stalinschen Personenkults“ und des „Dogmatismus“ in der Parteipolitik der KPdSU enthüllt! Diese Nachricht fiel auf mich ein wie eine plötzliche Erhellung, obwohl die SED zunächst zögerlich damit umging und nur in internen Parteiinformationen nähere Ausführungen dazu machte. Schließlich sah sich auch Parteichef Ulbricht genötigt zuzugeben, dass „der ‚Personenkult‘ auch in unserer Partei, besonders in der ideologischen Arbeit, weit verbreitet war“ (2). In der Folge wurden diese Vergehen abschwächend umschrieben und hauptsächlich nur auf die Person Stalins gemünzt, so dass man wissen sollte: „Na ja, so schlimm war’s bei uns nicht!“ Doch wir DDR-Zeitungsleser hatten ja die gloriosen, lautstarken Hymnen über den „größten Genius der Menschheit“ längst nicht vergessen. – Jedenfalls schien mit der Kritik am „Stalinismus“ eine öffentliche Klärung der problematischen SED-Diktatur in der DDR unvermeidbar zu werden. Der Begriff „Tauwetter“, Titel eines stalinkritischen Romans des sowjetischen Schriftstellers Ilja Ehrenburg, ließ mich jetzt auf eine Ausbreitung dieses politischen Tauwetters bis in unsere DDR hoffen.
Nach dem 17. Juni 1953 hatte ich begonnen, bestimmte Zeitungen aufzuheben oder mir wichtig erscheinende Zeitungsartikel zu sammeln. Ich habe jetzt meine Zeitungsmappe 3 aufgeschlagen und könnte nun Berichte über zwei markante Ereignisse aus dem Jahr 1956 vorlesen.
Mit Zitaten könnte ich belegen, wie unsere parteigelenkte Presse jenes Aufbegehren im polnischen Volk vom „Juniaufstand“ 1956 in Posen bis hin zum Polnischen Oktober 1956 kommentiert hat. Auch wie dann mit Genugtuung berichtet wurde, dass die Polnische Vereinigte Arbeiterpartei nach erfolgreichen „Beratungen“ mit Abgesandten der KPdSU die „Schwierigkeiten“ in Volkspolen wieder überwunden hat. Doch gewisse Ergebnisse waren für uns schon bemerkenswert: Wladislaw Gomulka, Altkommunist und nach 1949 mehrere Jahre in Haft, war nun, plötzlich rehabilitiert, zum Ersten Sekretär der PVA gemacht worden, und die Pflicht zur Kollektivwirtschaft wurde aufgehoben; Bauern durften in Polen jetzt wieder privat wirtschaften und leben! Es war also zu erkennen: Trotz – oder mit – sowjetischer Intervention hatte man nachgeben müssen!
Äußerst interessiert und mit Anteilnahme hatten wir dann die Ereignisse in Ungarn verfolgt. Wie es im Herbst 1956 dort zu starken Unruhen gekommen war, die sich im Oktober/November zugespitzt und zu einem Volksaufstand in Budapest geführt hatten, der dann nur durch das militärische Eingreifen der sowjetischen Streitkräfte mit blutiger Gewalt niedergeschlagen werden konnte. – Ich erinnere mich, wie eines Abends, vom westdeutschen Rundfunk übertragen, die letzte eindrucksvolle Rede des ungarischen Ministerpräsidenten Imre Nagy zu hören war. Der Hilferuf eines Kommunisten, der mit dem gemäßigten Flügel der Partei den stalinistischen Kurs überwinden und einen reformierten Sozialismus anstreben wollte. Angesichts des Vordringens sowjetischer Panzerverbände auf Budapest hatte er in seinem letzten verzweifelten Hilferuf die übrige Welt um Unterstützung für das ungarische Volk gebeten. Wir waren tief berührt und wirklich traurig über den tragischen Ausgang dieser hoffnungsvollen sozialistischen Revolution. Natürlich wussten wir damals nichts Genaueres über Hergang und Ausmaß der Kämpfe, auch noch nicht, dass man wenig später Imre Nagy gegriffen, in die Sowjetunion verschleppt und 1958 zum Tode verurteilt hatte.
Aus meinen Zeitungsartikeln konnte ich damals lesen, dass es natürlich „die verbrecherischen, konterrevolutionären Feinde und Putschisten“ waren, die „angestachelt von imperialistischen Agenten und Einflüssen“ die „Ungarische Volksdemokratie beseitigen“ wollten, und dass es der Solidarität der sowjetischen Genossen und Soldaten zu verdanken sei, dass der Sozialismus in Ungarn und damit der Weltfriede gerettet worden sei und so weiter und so weiter.