Читать книгу Kitty und Augusta - Helga Hegewisch - Страница 11
EINE UNVERSCHULDETE
ANATOMISCHE GROTESKE
ОглавлениеDas Taxi hält vor Augustas Haustür. Sie steigt ungern aus, würde am liebsten noch viele Meilen durch die Stadt fahren, sicher eingeschlossen in der kleinen Kabine und so zielbewußt und tüchtig wie all die andern Menschen, die zu dieser Stunde in Tausenden von Autos in London unterwegs sind. Aber Augusta hat kein Ziel, und sie ist auch nicht tüchtig. Darum muß sie aussteigen vor ihrer Haustür und hineingehen, obgleich sie nicht weiß, was sie da drinnen tun wird. Sie gibt dem Fahrer ein viel zu großes Trinkgeld, der reicht es ihr durch das Fenster zurück und sagt, daß er so viel Geld nicht annehmen möge, schon gar nicht von einer so schönen Lady. Augusta schämt sich – sie weiß nicht, warum –, und der Fahrer zwinkert ihr frechfröhlich zu, bevor er mit einem kurzen Hupton abfährt. Kein Engländer natürlich, einer aus der Karibik.
Augusta hat das Gefühl, zurückgewiesen und gleichzeitig auf unangenehme Weise berührt worden zu sein. Sie dreht sich abrupt um und läuft die Treppe zu ihrer Wohnung hinauf. Wenn wenigstens Manuel jetzt da wäre. Zwar hätte sie nichts mit ihm zu reden, doch seine Gegenwart allein würde vielleicht schon nützen. Sie könnte ihn umsorgen, könnte ihm die Rolle abhören und darauf achten, daß er sich einen warmen Schal umbindet. Der Gedanke an Manuel bringt plötzlich Augustas Brust zum Fließen. Schmerzhaft schießt die Milch ein, und Augusta fühlt, wie ihre Bluse naß wird. Wütend rennt sie ins Badezimmer, reißt sich Jacke und Bluse herunter und drückt ein naßkaltes Handtuch auf die linke Brust. Wann und wofür, lieber Gott, mußt du mich strafen mit diesem ewigen Milchfluß. Nicht nur, daß du mir eigene Kinder verweigerst, du erinnerst mich darüber hinaus auch noch bei jeder Gelegenheit an die Sinnlosigkeit meines mutterschaftsbereiten Körpers. Was habe ich denn so Schwerwiegendes verbrochen, das trotz meiner Reue nicht verziehen werden kann und das immer wieder die gleiche Strafe herausfordert? Ich gebe ja zu, daß das, was ich damals mit dem kleinen Carlos gemacht habe, nicht recht war, aber es ist doch aus Liebe geschehen. Ein schwaches, kränkliches, hilfloses Kind, warum sollte ich es nicht teilhaben lassen an meiner Stärke und Gesundheit? Ja, ich gebe sogar zu, daß ich auch so etwas wie Lust dabei empfunden habe, aber man kann mich doch nicht verantwortlich machen für etwas, das mein unbeeinflußbarer Körper mit mir treibt. Ja gut, ich hätte Konsequenzen ziehen müssen. Aber als ich die Lust erkannte, ich war ja noch sehr unerfahren, da war es schon zu spät, da hatte der Carlos zu lächeln begonnen und rote Bäckchen gekriegt und schien sich endlich nach Monaten der grauen Todesnähe zum Leben entschlossen zu haben. Sollte ich ihm das alles wieder nehmen, sollte ich ihn zurückstoßen in sein Waisenkind-Dasein, das ihm offensichtlich nicht bekam? War es wirklich dies, lieber Gott, was du als meine Pflicht, für deren Nichteinhalten du mich nun so unermüdlich bestrafst, festgesetzt hast?
Trotzig beschließt Augusta, sich jetzt, zu dieser Nachmittagszeit, wenn die tüchtigen, zielbewußten Menschen ihre letzten Energiereserven zusammenraffen, um ihren Arbeitstag mit Bravour zu Ende zu bringen, den Luxus eines heißen Bades zu gönnen. Sie tut dies vor allem, weil sie nirgendwo ungezwungener mit sich selbst sein kann als in dieser himmelblauen, mit sehr heißem Wasser gefüllten Badewanne, in der mit dem Leichtwerden des Körpers auch die Gedanken unbeschwerter zu fließen beginnen.
Sie läßt das Wasser ein, schüttet reichlich duftendes Öl auf die Oberfläche, bindet die Haare hoch und streift die Kleider ab. Wie immer hat Augusta ihr Bad viel zu heiß bereitet. Das Wasser brennt auf der Haut, vor allem an der linken Brust, die Manuel heute morgen so kindisch wundgesaugt hat. Der Schmerz treibt ihr vorübergehend die Tränen in die Augen, aber sie lächelt dabei, sie weiß, daß das anfängliche Ausbrennen nötig ist, um einer tranceähnlichen Fühllosigkeit den Weg zu bereiten.
Was fange ich nur mit Manuel an, denkt sie, ich kann ihn doch nicht einfach so zurückgeben wie ein falsch gewähltes Kleidungsstück. Und manchmal habe ich ihn auch recht gerne um mich, ein schönes, heiteres Kind. Am praktischsten wäre es, wenn ich ihn adoptieren dürfte, dann würde ich ihn aus meinem Bett verbannen und müßte nur noch für ihn sorgen. Aber Manuel will das Bett nicht aufgeben, mein großer warmer Weiberkörper ist ihm angenehm und nimmt ihm seine Kinderängste. Nur, daß er eben kein Kind mehr ist, sondern ein knochiges hartes Mannsbild, und wenn er sich so an mich klammert, tut es mir weh.
Heute ist Carlos ebenso groß und muskelhart wie Manuel, ein nur fremd gewordener männlicher Erwachsener, der mich nicht mehr interessiert. Er ist gesund und kräftig, das verdankt er letztlich mir. Auch seine Seele scheint keinen Schaden genommen zu haben, und wenn er mich trifft, was ja nicht sehr oft geschieht, dann haut er mir brüderlich auf die Schulter und dröhnt: »Na, Gustelchen, altes Haus, wie geht es denn so, immer noch nicht schwanger?« Und er kann sogar Witze darüber machen, daß er wohl mein einziges Kind bleiben werde. Damals, als ich ihn zum Leben überzeugt habe, da war er so winzig klein und schwach, seine Finger zeigten nicht einmal den Greifreflex, und er hat die halben Nächte durchgeschrien. Die Kinderschwester fand, dies müßte so sein, ein junger Mensch wehre sich gegen die Zeitdisziplin und müßte unter Tränen trainiert werden. So habe ich ihn mir schließlich Nacht für Nacht heimlich ins Bett geholt, und kaum lag er in der Wärme, hörte er auf zu schreien und suchte mit Mund und Fingerchen und mit dem ganzen Körper nach meiner Brust. Anfangs habe ich mir mein Nachthemd bis zum Hals hochgeknöpft und darunter sogar die Wäsche anbehalten, damit er mir nicht zu nahe kam.
Ramon hat sich nie an mich geklammert. Er lag still und abgeschieden auf seiner Seite unter seiner Decke, er hatte die randlose Halbbrille auf der Nase und las. Ab und zu griff er, ohne von seinem Buch aufzuschauen, zu mir herüber, nahm meine Hand, zog sie an die Lippen und sagte etwas Nettes.
Kittys neuer Vampir, dieser Mr. Baker, hat mir heute auch die Hand geküßt. Das hat mich sekundenlang verstört, der erste Mann seit Ramon, hier in London küßt ja niemand die Hand. Ein großer schwerer Klotz, das Gegenteil von Ramon, ich mag nicht an ihn denken.
Wenn der winzige Carlos in meinem Bett lag, habe ich mir immer alle Mühe gegeben, nicht einzuschlafen, aus Angst, mein schwerer Körper könnte das schwache Baby erdrücken. Ich lag auf der Seite mit angezogenen Knien und formte so einen warmen Wall um das Brüderchen. Nicht immer gelang es mir, den Schlaf fernzuhalten, doch dann überfielen mich sogleich Angstträume, und ich wachte wieder auf und kontrollierte meine Stellung. Und schließlich passierte jener eine einzige Schlaf, der alles verändern sollte. Carlos muß damals zwölf oder vierzehn Wochen alt gewesen sein. Er weinte nun zwar nicht mehr die ganze Nacht, aber er wirkte immer noch kränklich und matt, und er nahm nicht zu. Ich schlief also ein, das Brüderchen eng an mich gedrückt, und diesmal durchzog mich statt der gewohnten Angstvisionen, bei denen mein Körper mir stets derb, gewalttätig und unglücksträchtig erschien, ein sanfter, zärtlicher Traum, angefüllt mit berauschendem, jubelndem Glücksgefühl. Immer noch kann ich mir eine Ablichtung dieses Traums, gleich einer Fotografie und ebenso papieren und eindimensional, in mein Gedächtnis zurückrufen, obgleich man mir die Erinnerung gründlich verdorben und jedes damit verbundene Glücksgefühl strikt verboten hat.
Ich schwamm in einem See aus warmem blauem Wasser, rings um mich wuselte es von Tausenden von warmen blaugoldenen Fischen, die stießen mich an mit ihren hauchzarten Flossen und freundlichen Mäulern, und weil mein Körper so leicht war, schoben sie mich hin und her, drehten mich im Kreis und wiegten mich auf ihren Rücken. Das war alles. Keine Handlung, keine Mitspieler, nur dieses andauernde warme blaugoldene Gefühl von schwebender, schaukelnder Heiterkeit. Als ich schließlich aufwachte, unwillig, weil ich den Traum nicht hergeben wollte, bemerkte ich, daß sich das Baby zu meiner Brust vorgearbeitet hatte und gierig daran saugte. Mir war klar, daß ich eigentlich entsetzt sein sollte, aber ich spürte nur, daß ich mir so den Traum oder wenigstens den Nachgeschmack davon erhalten könnte, nur mit diesem geliebten Kind an meiner Brust, und ich legte meine linke Hand schützend um den kleinen runden Schädel und drückte ihn fester gegen mich. Damals habe ich noch nicht begriffen, daß Carlos tatsächlich trank, daß durch ein verrücktes Spiel der Natur – nein, lieber Gott, dafür konnte ich wirklich nichts, das war einzig und allein deine Sache! – mein Körper Milch zu produzieren begann, das Muttergeschenk, das meinem Brüderchen das Leben retten sollte. Später habe ich gelernt, daß man dies lactatio agravida nennt und daß es psychosomatisch zu werten ist, also als etwas, das eben nicht nur eine unverschuldete anatomische Groteske darstellt, sondern dem man sehr wohl auch geistig emotionale Ursprünge zuschieben muß. Jajaja, das Problem mit der Lust. Ich habe schließlich auch meinen Freud gelesen, Wasser, Fische, das Schweben und Drehen und Auf- und Niedertauchen, ich weiß.
Ramon hat mich niemals schweben lassen, hat es gar nicht erst versucht. Und das war gut so. Kitty meinte, sie müßte mir Manuel verschreiben, weil ich mich endlich von Carlos lösen sollte. Kitty hat die Situation falsch eingeschätzt. Sie konnte nicht wissen, daß ich das Kind Carlos bereits durch den Gatten Ramon überwunden hatte. Ramon hat die Lust in mir ad absurdum geführt, mit einer einzigen schlichten Geste war es ihm gelungen, die langwierigen und frustrierten Bemühungen meiner Psychologen zu einem guten Ende zu bringen: Er hat ein Seidentuch genommen und mir damit Gesicht und Brust verdeckt. Bei Ramon war alles gradlinig und vernünftig. Er war ein wunderbarer Partner für mich. Wir hatten eine Mission zu erfüllen, wir wollten ein Versöhnungskind, mit dem wir die Schande dieser Welt, besser gesagt, die Schande meiner germanisch-deutschen Welt überwinden könnten. Daß zu dieser meiner Schande auch die Lust gehörte, hatte ich Ramon nicht zu sagen brauchen. Er muß es in unserer Hochzeitsnacht in meinen Augen gelesen haben, er deckte meine Augen zu, und die Lust verschwand. Kitty konnte Ramon nicht leiden, darum war sie auch nicht fähig, seine Bedeutung in meinem Leben zu erkennen. Ramon hatte sein eigenes Spiel getrieben, als er fort war, übernahm Kitty wieder die Verantwortung für mich. Und ihre Phantasie gefiel mir, trotz des falschen Ausgangspunktes, so, wie mir letztlich alles, was sich Kitty für mich ausdenkt, gefällt, auch wenn es mir anfänglich manchmal sinnlos oder sogar schmerzlich erscheint. Ich habe ohne zu zögern mitgespielt, eine einleuchtende, abenteuerliche, sich widersprechende Story, angefüllt mit bunter Pseudoaktion, die mir einen neuen Ehemann in die Arme legte, so jung, graziös und wunderschön, daß auch ich mich anfänglich in seiner Gegenwart weniger grob und schweresüchtig fühlte. Während der ersten Monate unseres Zusammenlebens habe ich keinen einzigen Freßanfall gekriegt. Daß Manuel anscheinend nicht mit mir schlafen konnte oder wollte, war mir eher angenehm, ich dachte, im Laufe der Zeit würde er es schon schaffen, und um ein Kind zu produzieren, brauchte es nicht des ständigen Beischlafs. Wenn die Menschen zusammenpassen, dann dürften ein-, zweimal genügen.
Was war das eigentlich heute morgen? Etwas Seltsames ist passiert, etwas Fremdes, etwas, das alles auf den Kopf stellt. Besser, ich denke nicht darüber nach, sonst könnte es noch mein Konzept durcheinanderbringen, und ich müßte wieder untertauchen. Und vermutlich habe ich das alles sowieso nur geträumt.
Kittys Story besagte, daß Manuel und ich sehr gut zusammenpassen. Aber dann hat er die Milch in meinem Busen entdeckt, ein Faktum, das Kitty nicht kannte und darum auch nicht in die Geschichte einbauen konnte, und alles war verdorben. Jetzt nährt er sich von mir, wie sich damals Carlos genährt hat, aber Manuel ist kein Kind mehr, und er wird mir langsam lästig. Die Sache mit dem Beischlaf zwecks Fortpflanzung hat er aufgegeben zugunsten dieses Babybeischlafs: Der große warme Mutterwall beugt sich schützend um das Kind, die nährende Brust ist immer in greifbarer Nähe. Wer wollte sich da noch der Mühe eines Ödipus unterziehen; und ich selbst eigne mich auch keineswegs zur Doppelrolle der Jokaste. Das ist die reine Wahrheit, lieber Gott, trotz der Lust und der warmen, blauen, goldenen Fische im warmen, blauen Wasser.
Heute in dem Emilien-Kleid, in das Kitty mich so rücksichtslos gezwungen hat, überkam mich plötzlich die physische Erinnerung an jenen Traum mit einem Schock, der mir fast die Luft abgedrückt hat. Ich durfte doch nicht zurück in das blaugoldene Geriesel, das man mir in der Therapie damals in Wiesenau so gründlich von der Seele geschrubbt hat, ich durfte es nicht um mich legen und auf der Haut fühlen, es mußte, wenn überhaupt, papieren, unkörperlich und vor allem geheim bleiben.
Ein solches Spiel habe ich noch nie gespielt, nämlich das der schönen, stolzen Frau, zielbewußt und selbstsicher. Damals in Wien zwar hat Kitty versucht, mich in die Rolle einzuüben, aber da war ich krank, und Ramon steckte mir noch in der Seele. Und die Emilie, obgleich ihr Ramons letzte Worte gegolten hatten, blieb eben doch die tüchtige Schneiderin, die Tochter des Meerschaumpfeifenmachers Flöge, die den flotten Gustav in seine Grenzen wies. Heute mit dem Kleid auf meinem Körper, da war es ein anderes Spiel. Ich fühlte plötzlich die Fischlein wieder, die an mir entlangstrichen, mich schoben und hoben und mich ganz schwerelos machten. Darum wollte ich auch anschließend sofort nach Hause fahren, allein sein und die Erinnerung aktivieren. Aber Kitty hat mich nicht gelassen, ich mußte zurück ins Hier und Jetzt und mit ihr und ihrem Vampir zu Mittag essen. Und darum ist die Erinnerung wieder abstrakt geworden, nurmehr ein Bild im Historischen Museum zu Wien, eine Abbildung in Serafinos Buch, eine zweidimensionale, therapeutisch gereinigte Fotografie.
Was war los mit Kitty heute? Sie wirkte nervös und krank, ganz als ob sie Schmerzen hätte. Kitty zeigt sonst nie Schmerzen, sie ist vital und zäh und unverwüstlich. Sie ist meine Blutsschwester, sie gehört mir, ich werde sie mir nicht durch Schmerzen dezimieren lassen. Oder könnte das vielleicht nur eine weitere Geschichte sein, die Kitty für mich inszeniert und lebt? Kitty, die Kranke, Hinfällige, Todgeweihte, und ich stolz und ungebrochen, an ihrem Bett?
O lieber Gott, das geht zu weit!
Augusta fährt hoch aus der benebelnden Hitze. Ihr letzter Gedanke hat sie zutiefst erschreckt. Sie rafft sich auf, greift zur Handdusche und dreht das Wasser an. Der eiskalte Strahl trifft sie so heftig, daß sie laut aufschreit.
Da stürzt Manuel ins Badezimmer: »Was ist los, warum schreist du so?« fragt er entsetzt.
Augusta beißt die Zähne zusammen und duscht weiter, rauf und runter, vorn und hinten, Bauch, Oberschenkel, Brust und Hüften, eiskalt. Dabei hat sie das Gefühl, immer dünner zu werden, nicht eigentlich schlank wie ihre schöne Mama, dafür ganz fleischlos dürr, was immerhin besser ist als dieses wabernde Gewoge. Als sie schließlich nurmehr ein saftloser Zweig ist, hört sie auf, steigt aus der Wanne, greift sich das Badetuch und geht an dem verblüfften Manuel vorbei, hoch aufgerichtet, arrogant, zielbewußt, wie am Morgen die selbständige Bürgerin Emilie Flöge.
»Seit wann kannst du hören, wenn ich schreie«, fragt sie, »wo hast du denn deine Kopfhörer gelassen?«