Читать книгу Kitty und Augusta - Helga Hegewisch - Страница 15

AUGUSTA WILL NICHT
PROVOZIEREN

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Augusta fühlt sich irritiert durch Kittys nachhaltigen Therapiedruck. Aber da Kitty heute so angegriffen wirkte und ihr Augustas Gruppentraining offenbar ganz ungewöhnlich wichtig erscheint, macht Augusta sich kurz vor acht Uhr auf den Weg. Wieder hat sie das Tuch fest um die Haare gebunden und die alte hochgeschlossene Jacke angezogen. Doch nach einem kurzen Blick in den Flurspiegel ist sie noch einmal zurückgegangen in ihr Schlafzimmer und hat sich große Ohrringe angehängt, Schildpatt mit eingelegten Topasen in Goldfassung, Kittys Produktion, die Augusta normalerweise für sich als unpassend empfindet.

Das Meeting der Overeaters Anonymous findet heute in der Walton Street statt. Es handelt sich um eine neue Gruppe, die sich erst vor zwei Wochen zusammengefunden hat und die, wenn auch immer noch grundsätzlich den Regeln und Schritten des OA verpflichtet, einen leicht variierten neuen Weg ausprobieren will. Augusta hofft, daß sie niemanden in dieser neuen Gruppe kennt; es hindert ihre freie Entfaltung und Ausdrucksmöglichkeit, wenn sie immer darauf Rücksicht nehmen muß, was sie letztes Mal gesagt hat.

Augusta überquert die Brompton Road und geht, seitlich an Harrods vorbei, den Hans Crescent entlang. Sie kennt diesen Weg auswendig und könnte ihn fast blind gehen, was sie auch meistens tut, um ihrem Abbild in den großen reflektierenden Schaufensterscheiben zu entkommen. Augusta vermeidet den Anblick ihrer eigenen Person, wo immer es geht, vor allem bei unkontrollierten Spiegelungen auf der Straße. Zu Hause ist es nicht ganz so prekär, dort kennt sie genau Licht, Rahmen und Hintergrund, dort kann sie sich, entsprechend ihrer momentanen Gefühlslage, in Positur stellen und sich auch jederzeit korrigieren. Im Vorbeigehen ist man dem Schock der eigenen Begegnung hilflos ausgesetzt, weil man schließlich nicht mitten im Strom der anderen hastenden Menschen plötzlich stehenbleiben kann, um zwecks Verbesserung des allgemeinen deprimierenden Eindrucks eine streckendere Kopfhaltung oder ein paar weniger schwerfällige Schritte auszuprobieren.

Heute abend jedoch fühlt sich Augusta merkwürdig mutig. Könnte es sein, daß der verlangende Vampirblick bereits einem Aderlaß gleichkam, einem sanften Giftbiß, dessen Wirkung nun langsam einzusetzen beginnt? Daß die kalte Dusche tatsächlich einen Teil ihres Fettes weggefressen und das verbleibende Gewoge merklich gestrafft hat? Augusta reckt sich und läßt die Arme frei schwingen. Sie zieht den Bauch ein und schiebt die Hüften vor, sie befreit mit einem ungeduldigen Kopfschütteln Hals und Nacken aus der Beugegewohnheit und vernimmt mit Wohlgefallen das leise Klirren von Kittys Ohrschmuck, sie reißt die Augen sehr weit auf und schließt sie dann zu Schlitzen mit breit verzogenen Winkeln, aus denen sie nun sich selbst in den Harrods-Fenstern einen kurzen Blick zuwirft. Was sie hier sieht, ist gar nicht so schlecht, auf jeden Fall keine ungezähmte Masse mehr, nicht vergleichbar den ganz schweren Fällen, die sie von den OA gewöhnt ist.

Ich gehe besser gar nicht erst hin, denkt Augusta, ich werde die Leute dort nur noch mehr frustrieren. Aber ich habe es Kitty versprochen, kommt die Antwort, und sogleich sinken Hals und Nacken in sich zusammen, das Gesäß sackt herunter, der Bauch wölbt sich vor, und der Busen drängt gegen die nun wieder gekreuzten Arme. Augusta seufzt. Gern hätte ich ein buntes Sahneeis, denkt sie, oder einen Big Mac mit Relish und Käse. Aber die OA besitzen einen äußerst sicheren Instinkt für die Sünde und nehmen es übel, wenn man sich nicht einmal auf dem Weg zum Meeting beherrschen kann.

Ramon, denkt sie ganz schnell, Ramon, hilf mir. Wieso denn eigentlich immer noch Ramon? Ach, mit ihm war ich sicher und kannte Weg und Ziel.

In einem Innenhof links der Walton Street entdeckt Augusta das gemalte Pappschild: OA-Meeting, 1 Treppe hoch. Sie geht hinein, noch zögernd und unsicher in ihrer heutigen Rolle.

Ein großer, offenbar unbewohnter Raum, in dem sich an die dreißig Leute auf Kissen und alten Stühlen niedergelassen haben. Vorne ein kleiner Tisch, darauf sitzend ein unscheinbarer, dunkelhaariger Mann. Um den Hals trägt er, vierfach gewunden, einen dicken Schal, an den Hosenbeinen hängen Fahrradspangen. Er hat eine ganz normale Figur, weder dick noch dünn, jedenfalls nichts, das man im Gedächtnis behalten würde. Während Augusta langsam auf den Mann zugeht, schaut sie sich um. Nein, sie kennt tatsächlich niemanden hier. Augusta reicht dem Mann die Hand. »I’m Alf«, sagt dieser energisch, »I’m an overeater!« und schaut Augusta fragend an. Diese kann momentan der Aufforderung zum üblichen Gegenbekenntnis nicht nachkommen und murmelt darum nur: »Hallo, nice to meet you.« Alf zieht die Augenbrauen hoch und greift sich in den Schal. »Overeater?« fragt er dann. Augusta nickt.

»First time?« Augusta nickt wieder. Alf lächelt breit. »Don’t worry dear, you’re at the right place. You’ll make it. We’ll all make it. Sit down.«

Und Augusta läßt sich auf einem Kissen nieder. Sie kreuzt die Beine, stützt ihren Kopf in die Hände und beschließt, das Treffen möglichst unbehelligt zu überstehen und sich auf gar keinen Fall aus der Reserve locken zu lassen. Sie weiß ja, wozu das alles gut ist, sie hat es schon oft genug gehört. Wir sind alle Brüder und Schwestern. Wir sitzen im gleichen Boot. Wir wollen gemeinsam unserer Sucht zu Leibe rücken. Wir vertrauen alle auf die Higher Power (die natürlich nichts mit Augustas Liebergott zu tun hat), wir helfen uns gegenseitig. Wir können uns aufeinander verlassen. Wir tauschen Telefonnummern aus. Wir greifen zum Telefonhörer anstatt zur nächsten Butterstulle. Wir können miteinander absolut ehrlich und aufrichtig sein, weil hier keiner besser ist als der andere. Ja, Ehrlichkeit, liebe Freunde, rückhaltlose Selbstbekenntnis sind das Fundament und die Voraussetzung dieser Vereinigung. Es kann uns nichts ausmachen, voreinander nackt dazustehen – das ist, liebe Freunde, selbstverständlich symbolisch gemeint –, denn durch die intime Kenntnis unserer gegenseitigen Lage sind wir ohnehin nackt.

»Würdest du uns jetzt bitte die zehn Schritte vorlesen?«

Alfs ausgestreckter Arm hält Augusta ein Blatt vor die Nase.

»Wer, ich?«

»Genau.«

»Aber ich..., ich bin Ausländerin«, stottert Augusta.

»Na und?« fragt Alf derb, »essen ist doch wohl überall der gleiche Vorgang, oben rein und unten raus. Oder läuft das bei dir zu Hause andersherum?«

Augusta zuckt zusammen. Von den Brüdern und Schwesern kommen ein paar Lacher. Alf blickt streng.

»Wir sitzen alle im gleichen Boot«, sagt er. Der Crew vergeht das Lachen. Augusta seufzt. Also gut, sie nimmt ihm den Zettel aus der Hand; Alf setzt sich wieder auf den Tisch, und Augusta beginnt zu lesen, die zehn Schritte der OA oder, besser gesagt, die des Chairman Alf, die er scheinbar von den Alkoholikern übernommen und für die speziellen Bedürfnisse dieser Gruppe abgewandelt hat.

Es ist darin viel die Rede von einer allwissenden, allmächtigen Higher Power, der man dringendst seine Referenz zu erweisen hat, und von Schuld und Seeleninventur und reuiger Einsicht. Wir gestatten unseren Brüdern und Schwestern und der Higher Power, rückhaltlosen Einblick in unser Innerstes zu nehmen, wir machen uns bereit zur Veränderung, wir bitten unsererseits um Einsicht in den Willen der Higher Power und um die Kraft, uns diesem Willen zu fügen. Und so weiter.

Während Augusta laut und eintönig vorliest, erwacht in ihr der Widerstand. Wie kommt dieser radfahrende Chairman Alf dazu, hier auf ihre Kosten zotige Witze zu reißen? Bildet der sich etwa ein, selber die höhere Macht zu verkörperen? Ohnehin ist Augusta nur hier, um Kitty, der es heute nicht gutgeht, einen Gefallen zu tun, ja, eigentlich ist dies Kittys Therapie, nicht ihre eigene. Augusta reckt sich, streckt den Hals, zieht im Sitzen den Bauch ein, und als sie mit dem Lesen fertig ist, gelingt es ihr, dem Chairman mit dem dicken Schal um den Hals strikt in die Augen zu sehen. Dieser hält nicht stand, senkt den Blick auf Augustas Busen unter dem zugeknöpften Jackett.

»Und wie heißt du überhaupt?« fragt er.

»My name is Kitty«, sagt Augusta.

»Hallo, Kitty«, sagen die Brüder und Schwestern.

»And you are an overeater?«

»Sometimes.«

Alf rutscht vom Tisch herunter und beginnt auf und ab zu gehen.

»Genau das ist es«, doziert er, »keiner von uns frißt ununterbrochen, das ist physisch nicht möglich. Das Fressen geschieht anfallweise. Und wer solche Anfälle hat und diese nicht steuern kann, ist ein Overeater. Also bist du ein Overeater?«

»Das hängt davon ab.«

»Wovon?« Es macht Alf bereits Mühe, sich zurückzuhalten.

»Von den Umständen.«

»Die Umstände, das bist du selber.«

Augusta sieht ihm sekundenlang fest in seine ungeduldigen Augen. Dann plötzlich gibt sie überraschend nach, lächelt liebenswürdig und sagt: »Das könnte wohl stimmen.«

»Also dann noch einmal von vorn. My name is..., go on.«

»My name is Kitty and I am an overeater«, sagt Augusta nun ganz flüssig.

Alf ist sehr erleichtert.

»Na also«, sagt er, »das ist das Allerwichtigste. Absolute Ehrlichkeit und das Bekennen zu der eigenen Lebenssituation.«

»Genau«, sagt Augusta und öffnet die oberen drei Knöpfe ihrer Jacke. Alf wickelt sich daraufhin eine Runde Schal vom Hals.

Die Gruppe wird unruhig. Eine Zwei-Zentner-Frau hinter Augusta knistert mit Butterbrotpapier.

Alf zuckt zusammen.

»Was soll denn das«, schnappt er, »willst du hier provozieren?«

»My name is Jenny and I am an overeater«, leiert die Frau.

»Hallo, Jenny«, antwortet der Chor.

»Und ich hab’ eben meine Butterbrote bei mir«, fährt die Frau fort. »Was soll ich denn auch machen, wenn mich die Sucht überfällt. Ich hab’ dann schon oft genug stehlen müssen, und als ich das letzte Mal bei der Polizei gelandet bin, da hat mir so ein Polizeipsychologe, sehr nett war der, also der hat mir den Rat gegeben, eben immer Butterbrot bei mir zu haben. Und das hab’ ich nun eben auch immer so gemacht. Seitdem hab’ ich mich sehr viel besser gefühlt und auch nicht mehr gestohlen. Aber seit ich bei den OA bin, fühle ich mich wieder schlechter. Weil die sagen, ich soll kein Butterbrot bei mir haben. Eigentlich wollte ich das Paket ja draußen vor der Tür hinlegen, aber da hab’ ich gedacht ...«

»Was hast du gedacht?«

»Daß es mir dann jemand wegnehmen könnte.«

»Glaubst du das wirklich?«

»Nein«, sagt Jenny brav, »wir sind alle Brüder und Schwestern.«

»Dann nimm dein Brot, und leg es vor die Tür.«

Jenny rührt sich nicht.

»Jenny«, sagt Alf beschwörend, »du mußt dich überwinden, du mußt Vertrauen haben. Keiner wird dir hier dein Butterbrot stehlen, und nach der Therapie brauchst du es sowieso nicht mehr.«

Jenny zögert immer noch. Da sagt Alf flott: »Na, vielleicht ist meine Meinung dir nicht gut genug. Dann laß uns doch einfach mal die Gruppe befragen. Also, Leute, was haltet ihr denn von der Sache. Brot in Jennys Tasche oder Brot draußen vor der Tür?«

Und die Gruppe solidarisiert sich heftig mit ihrem Führer: »Los, Jenny, mach schon«, schreien sie, »weg mit dem Brot, raus vor die Tür. Na, los doch, Jenny, ohne Vertrauen geht’s nicht. Hättest es gar nicht erst mitbringen sollen. Los, Jenny.«

Jenny packt das Paket mit der Stulle und steht langsam auf. Ihr Gesicht wird ganz rot vor Anstrengung. Sie ist hin- und hergerissen zwischen dem Glück, soviel Aufmerksamkeit auf sich konzentriert zu haben, und einem harten Trennungsschmerz, der ihr die Tränen in die Augen treibt. Alle Blicke sind jetzt auf Jenny gelichtet. Sie quält ihren überschweren Körper in Richtung Tür, gelenkt von den anfeuernden Brüdern und Schwestern um sie herum, die ihr wie Dompteure den eigenen Willen zu nehmen scheinen, ja sie fast in Trance bringen. »Na los, Jenny, du schaffst es, Jenny.«

Dann trifft Jennys Blick den von Augusta, die ihr aufmunternd zulächelt, und plötzlich stockt Jenny, ihr Gesicht verzieht sich zu einer bösen Grimasse, mit der einen Hand preßt sie ihr Paket an den Körper, mit der andern deutet sie auf Augusta: »Die da soll mich nicht angrinsen«, keift sie, »die da ist keine Schwester.«

Lieber Gott, denkt Augusta, selig sind Deine geistig Armen, weil sie die Lüge durchschauen.

»Soll ich besser gehen?« sagt sie leise zu Alf.

»Wenn die nicht geht, kann ich mein Essen nicht rausbringen«, schreit Jenny.

Da wächst Alf über sich hinaus und bringt seine volle Autorität ins Spiel.

»Jenny«, fährt er die Kranke an, »entweder du tust jetzt, was die Gruppe von dir verlangt, oder du wirst ausgeschlossen und darfst nicht wiederkommen. Mit Kitty hier hat dies absolut nichts zu tun.«

»Doch«, schreit Jenny, »doch, weil sie nämlich keine Ehrlichkeit hat«, und die Tränen brechen ihr aus den Augen.

Augusta sinkt in sich zusammen, macht sich ganz klein und verbirgt ihr Gesicht in den Händen, damit sich die Gruppe auf Jenny konzentrieren kann und diese ihr nicht noch einmal in die Augen schauen muß. Und tatsächlich gelingt es den vereinigten Dompteuren, Jenny mitsamt Butterstullenpaket langsam hinauszuzwingen und sie auch wieder in den Raum zurückzuholen, wo sie sich, nun mit leeren Händen und leeren Augen, weit entfernt von Augusta niederläßt und den Rest des Meetings unbeteiligt vor sich hin brütet.

Kitty und Augusta

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