Читать книгу Kitty und Augusta - Helga Hegewisch - Страница 6

VOR SECHS JAHREN IN WIEN

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Ramon hatte dringende Verpflichtungen in Wien, geschäftlicher Natur, wie er sagte. Ich glaube nicht, daß das, was ihn nach Wien trieb, irgend etwas mit seinen Geschäften, ganz sicher nicht mit jenen, die Geld einbrachten, zu tun hatte. Durch Vater wußte ich, daß Ramon sich mehr und mehr aus seinem alten Finanzierungsunternehmungen zurückzogen hatte. Vater machte sich Sorgen. Ramon wäre doch noch zu jung für den Ruhestand, noch lange keine Sechzig, im aktivsten Mannesalter sozusagen.

»Wieso Ruhestand, Ramon ist ungeheuer aktiv.«

»Womit?« fragte Papa.

»Was weiß ich, Geschäfte eben.«

»Das solltest du aber wissen. Er ist dein Mann, und wenn es zwischen euch beiden in finanzieller Hinsicht kein Zusammenspiel gibt, kann es auch sonst nicht klappen.«

»Falls du damit unser Sexleben meinst, Vater, im letzten Monat haben Ramon und ich genau dreißigmal miteinander kopuliert, ich habe Buch geführt. Vierzehnmal vor dem Follikelsprung, dann drei Tage lang zweimal täglich, und anschließend siebenmal bis zur nächsten Periode. Jedesmal mit erfolgreicher Ejakulation.«

»Deine Redeweise ist widerlich«, bellte Vater ins Telefon, »wi-der-lich!« und knallte den Hörer auf. Ich war deprimiert. Konnte ich diesem alten Mann denn gar nichts recht machen? Vater wünschte sich dringlichst Enkelkinder. Da Carlos noch nicht soweit war, konzentrierte sich der Erwartungsdruck auf mich. Ich hatte ihm eine Abrechnung meiner Bemühungen geliefert, und Vater knallte den Hörer auf.

Zwei Tage darauf geschah ein neuer Vaterkontakt: Fräulein Senft, seine Sekretärin, die mich seit Kinderzeiten kannte, rief an: »Gnä’ Frau, der Herr Papa. Aber er hat es sehr eilig, soll ich sagen.«

Und dann Vater: »Was Ramon anbelangt – doch nicht etwa Politik?«

»Nein, nein, ich glaube nicht.«

»Politische Ambitionen kosten viel Geld, Tochter, dabei ist schon manches Vermögen draufgegangen.»

»Ich weiß, Vater.«

»Also kümmere dich und laß dir vor allem eure finanzielle Lage erklären, sprich mit ihm. Das Wichtigste ist, daß man nie das Gespräch abreißen läßt.«

»Mach dir keine Sorgen, Vater. Finanziell geht es uns bestens. Jeden Monat schenkt mir Ramon eine Goldkette, und wir wollen uns ein Sommerhaus bei Jaffa kaufen.«

»Dennoch solltest du mit ihm reden.«

»Das werde ich tun, Vater.«

Natürlich tat ich es nicht. Ich konnte mich doch nicht vor ihn hinstellen und ihn fragen: »Ramon, womit verbringst du eigentlich deine Tage? Wie sehen deine Geschäfte aus, in welche Transaktionen (Waffen vielleicht?) oder Ambitionen (etwa Politik?) steckst du augenblicklich dein Geld und auch, Hand aufs Herz, das meine, jenes, das ich von meiner Mutter geerbt habe? Und würdest du mir nicht gelegentlich bitte einmal deine Bankauszüge vorlegen?«

Ein Gespräch, das man nie begonnen hat, kann man nicht abreißen lassen. Nicht etwa, daß wir nicht miteinander sprachen. Ramon war ein äußerst redefroher Mensch. Er erzählte von den Büchern, die er las, immer zwei oder drei gleichzeitig, von den neuesten archäologischen Ausgrabungen bei Masada, an denen er regen Anteil nahm, von seiner Familie in Buenos Aires, von dem Preis, den er gerade für den saubersten Hörsaal im Campus von Tel Aviv gestiftet hatte – Ramon stiftete unentwegt Preise –, und damals, im sechsten Jahr unserer unfruchtbaren Ehe, erzählte er mir auch mehr und mehr von den Kindern, die er bestimmt mit mir haben werde. Nach wie vor ging er kaum jemals allein auf Reisen, er schleppte mich überall mit hin und deponierte mich in einem teuren Hotelzimmer. Darum also befand ich mich damals in Wien, im Hotel Palais Schwarzenberg, küß die Hand, Madame Konietzky, wieder einmal auf Kurzvisite hier bei uns, dürfen wir Ihnen den Tafelspitz empfehlen.

Tagsüber war er unterwegs, Geschäfte, Geschäfte, abends gingen wir ins Konzert oder Theater, und danach dann die tägliche Befruchtungsübung, der sich Ramon mit ungebrochener, fast religiöser Präzision hingab. Ich hatte mich längst daran gewöhnt, lag still unter dem dünnen, undurchsichtigen Seidentuch, das er mir jedesmal sorgsam über Kopf und Brust breitete, stützte mit den Händen mein Becken leicht aufwärts, zog die Knie zuerst gegen den Oberkörper und drückte sie dann weit auseinander. Ich ließ meinen Gedanken freien Lauf, dachte an die Museen, die ich besucht, an eine Bluse, die ich mir gekauft hatte, an die ungewöhnliche Zartheit des Schwarzenbergschen Tafelspitzes, den nachzukochen ich mehrmals erfolglos versucht hatte. Gedanken sexueller Natur, wie ich sie vorher in allen nur möglichen Varianten mit Herrn Dr. Wendehals durchgespielt und die mir sogar einst der ungewaschene Mathematiker Friedbert durch seine zotige Sprache aufgedrängt hatte, kamen mir bei Ramon nie in den Sinn, das wäre auch gar zu abwegig gewesen. Ramon belästigte mich nie mit Worten oder gar irritierenden Variationen, alles vollzog sich in gewohntem Rhythmus, ein Ehepaar, das gut miteinander umzugehen verstand.

Da mein Gesicht bedeckt war, konnte ich nicht zuschauen, ich weiß nicht, womit er die Zeit verbrachte zwischen meiner Platzierung auf dem Bett und dem vorsichtigen Einführen seines kleinen, harten Penis in meine Vagina, die er stets vorher mit etwas angewärmtem Öl einrieb. Soweit ich fühlen konnte, hockte er schräg über mir und stützt seine Hände auf meine Knie. Anfänglich hatte mir der Druck auf die ausgebreiteten Beine Schmerzen bereitet, aber inzwischen war ich so geübt, daß ich es auch ohne Druck spielend fast zu einem Querspagat brachte.

Ramon war nicht sehr schwer. Trotz seiner sechsundfünfzig Jahre wippte er höchst gelenkig auf und ab und benützte meine Knie nur als Stütze. In der ersten Zeit unseres Zusammenlebens hatte ich manchmal noch »Liebster, Liebster...« gesagt und ein Stöhnen vorgetäuscht, weil ich glaubte, das würde ihm guttun und vielleicht die Prozedur beschleunigen, bis mir Ramon eines Abends durch das Tuch hindurch grob seine Hand auf den Mund gelegt und so energisch »Hör auf damit« gesagt hatte, daß ich es nie wieder versuchte. Vermutlich hatte mein persönliches Verhalten, etwa, ob ich lauter oder leiser atmete, ob mein Körper warm oder kalt, parfümiert oder nur frisch gewaschen, mit Phantasie aktiviert oder nachmahlzeitlich träge war, überhaupt nichts mit Ramons Potenz und auch nicht mit der Länge der Übung zu tun. Wenn Ramon fertig war, schob er mir stets vorsichtig ein kleines hartes Kissen, das er immer im Gepäck mit sich führte, unter das Becken, deckte mich sorgsam zu, überprüfte, ob ich auch etwas Lesbares auf dem Nachttisch liegen hatte, um etwaiger Langeweile vorzubeugen, und ging ins Bad. Dann zog ich mir das Tuch vom Gesicht, griff nach dem Buch und blieb die vorgeschriebenen fünfzehn Minuten regungslos liegen.

Ramon hatte noch nie meine Brust berührt, und ich war ihm dankbar dafür. Ja, er schien überhaupt nicht zu wissen, daß es außer der Vagina, die natürlich einzig als Ein- und Ausgang des Uterus zu verstehen war, irgendwelche weibliche Organe oder gar sogenannte erogene Zonen gab. Küssen tat er mich oft und liebevoll, auf die Wangen, die Stirn, die Hände, aber niemals auf den Mund. Er war ein vollendeter Kavalier, das zuvorkommende Benehmen war so fest mit seiner Person verbunden, daß er es auch bei völliger Geistesabwesenheit makellos beibehielt.

Noch bevor wir heirateten, hatte mir Ramon ein elektronisches Präzisionsthermometer in einem goldenen Kästchen geschenkt. Er bat mich, jeden Morgen und Abend die Temperatur zu messen, und er selbst zeichnete daraus die Kurven meiner Empfängnisbereitschaft. Ich bin ein sehr pünktlicher Mensch, und entsprechend verliefen die Kurven während der Jahre, die Ramon kontrollierte, ohne jegliche Schwankung. (»Absolute Pünktlichkeit ist pervers«, sagte Kitty, »kein einigermaßen gesunder Mensch würde sich je zu solch einer Selbstdeformation korrumpieren lassen!«) Ach, Kitty, was weiß denn die. Liebe Kitty, glückliche Kitty, beste Freundin, nichts weißt du von mir. Aber Ramon, der hat von Anfang an alles begriffen. Das war das Wunderbare an ihm und das Überraschende. Er hat es in der ersten Minute unserer Begegnung gewußt, und ich habe gewußt, daß er es gewußt hat, und wollte ihn darum sogleich haben und nie wieder loslassen. Ich wollte aus den vielen kleinen Kreisen, in die Herr Wendehals mein Leben zerkringelt hatte, den einen, einzigen, großen Kreis machen, für den mein Ich geschaffen war. Was ist mit uns passiert, Ramon, daß wir, anstatt gemeinsam diesen Kreis zu schließen, so heftig auseinandergefallen sind?

Ramon widmete sich seinen Fruchtbarkeitsübungen jeden Abend, in der Mitte des Zyklus, wenn die Temperatur hochging, sogar abends und morgens. Wenn dann die ersten Blutstropfen in meiner stets blütenweißen Baumwollunterwäsche erschienen, zog sich Ramon von mir zurück. Er faltete den undurchsichtigen Schleier zusammen und verschloß ihn mitsamt dem kleinen, harten Kissen im Safe.

»Warum im Safe, Ramon?« hatte ich ihn überrascht gefragt, als ich ihm zum ersten Mal beim Verschließen zuschaute. »Welchen Wert könnte schon ein Tuch und ein Kissen für einen Dieb haben?«

»Es geht hier nicht um das Wertgefühl irgendeines anonymen Räubers, sondern um meines, Carissima«, hatte Ramon geantwortet, »und den Safe habe ich nicht für den Räuber eingebaut, sondern für mich.«

»Was sonst legst du hinein?«

»Bestimmt nicht Geld und Gold, Liebste, das erstere gehört auf die Bank und das zweite um deinen Hals – wie dieses hier zum Beispiel.« Dabei hatte er in seine Jackentasche gegriffen und ein Päckchen herausgezogen, das er mir zuwarf. In dem rosa Einwickelpapier befand sich eine feine Goldkette. »Zum Trost«, sagte er. »Jeden Monat, den du nicht schwanger wirst, werde ich dir ein Kettchen schenken. Gib acht, daß es dir nicht zu schwer am Hals wird.«

Er legte mir die Kette um. Als er den Verschluß zugedrückt hatte und ich das kühle Metall auf der Haut fühlte, wurde mir plötzlich ganz elend zumute. Und statt eines Dankes stotterte ich: »Ich ... ich trage nämlich normalerweise keinen Halsschmuck.«

»Dies hier soll dich ja auch nicht schmücken«, sagte er ernst, »es soll dich nur erinnern.«

In der Nacht nach dieser ersten Gabe – Ramon war ausgegangen und hatte gesagt, er wolle im Club noch Freunde treffen, ich möge nicht auf ihn warten – hatte ich die Kette abnehmen wollen und dabei festgestellt, daß sich der Verschluß nicht öffnen ließ. Einmal zugeschnappt, und die Kette saß einem auf ewig um den Hals, es sei denn, man griff zur Kneifzange. Fünf Nächte hindurch fühlte ich ein unerträgliches Brennen an meinem schmuckungewohnten Hals. Immer wieder bin ich aufgestanden und ins Bad gelaufen, um mir die Haut mit einem nassen Tuch zu kühlen, habe Cremes ausprobiert und Kräuteraufgüsse. Zwischen meinen Beinen rann das Blut, um den Hals brannte die Schandkette, und Ramon ist fünf Nächte lang nicht nach Hause gekommen. Jeden Morgen zum Frühstück rief er mich an aus dem Club, erkundigte sich höflich und liebevoll nach meinem Befinden, schwatzte über seine Freunde, den neuesten Roman von Arnos Oz, die Ausgrabungen im Negev und kündigte an, bald wieder bei mir zu sein. »Carissima«, sprach er, »ich habe Sehnsucht nach dir.«

»Ach, Liebster, Liebster...«, sagte ich bedrückt.

»Nicht doch, Carissima, das haben wir nicht nötig.«

»Aber ich fühle mich elend und einsam ohne dich.«

»Genau. So war es auch gemeint.«

Keine Ahnung, warum mich Ramon immer Cara oder Carissima nannte, schließlich war er spanisch- und nicht italienischsprachig aufgewachsen. Allerdings hatte er nach dem Krieg, als er sich vorsichtig wieder von Südamerika zu seiner Haßliebe Deutschland zurücktastete, übergangsweise zwei Jahre in Italien verbracht, um sich, wie er sagte, im Umgang mit dem Halbbösen auf das Totalböse vorzubereiten. Mag sein, daß er damals in Italien eine erste Geliebte gefunden hatte, auf die ich jedoch nicht eifersüchtig sein konnte. Ich wußte, daß ich einzigartig in Ramons Leben war, ein Symbol der Liebe, die den Haß und den gewaltsamen Tod endgültig überwunden hat und die dies in neuem Leben sichtbar machen wird.

Am sechsten Tag zog er wieder bei mir ein, und ich war so freudig erregt, daß ich mir bei dem abendlichen Fruchtbarkeitsritual in Gedanken »And when the Saints go marching in...« vorsang und dazu im Takt mit dem Becken auf und ab wippte. Anschließend sagte Ramon – nicht etwa zornig, nur vorsichtig bittend, wobei er mir Stirn und Augen küßte: »Du sollst nicht dabei singen, es stört den Rhythmus, bitte Carissima. Das Ganze ist ja nicht so einfach. Du mußt deshalb nicht gekränkt sein, Carissima.«

»Natürlich nicht«, sagte ich, »ich war nur fröhlich, ich dachte, das sollte ich dir mitteilen.«

»Mit dem Körper?«

»Ja, doch, warum nicht?«

»Versuch nie, mir Nachrichten mit deinem Körper zukommen zu lassen. Für Mitteilungen haben die Menschen die Sprache erfunden. Du beherrschst Deutsch, Englisch, Französisch und sogar etwas Hebräisch. Meine Familie würde es darüber hinaus begrüßen, wenn du möglichst schnell Spanisch lerntest. Reicht dir das nicht zur Kommunikation? Unser Körper ist unser Werkzeug, wir benutzen ihn, wir akzeptieren zwar gewisse mechanische Bedingtheiten, natürlich, aber wir können ihm kein Eigenleben, schon gar nicht eine eigene Sprache, auf die wir hören müssen, zubilligen. Wo kämen wir denn da hin, wenn wir alle die Dinge um uns herum ungehemmt sprechen ließen. Stell dir bitte einmal diesen Informationsandrang vor, liebe Augusta, dieses grauenhafte Tohuwabohu.«

Er saß in seinem seidenen Paisley-Schlafrock auf meiner Bettkante und lächelte liebevoll auf mich herab. »Einverstanden, Liebste?«

»Natürlich, Ramon«, sagte ich, ohne die geringste Ahnung zu haben, womit eigentlich ich einverstanden sein sollte.

Also damals in Wien. Ramon wirkte äußerst angespannt und abwesend, so, als ob etwas tief innerlich von ihm Besitz ergriffen, sich in ihm festgekrallt hatte. Tagsüber sah ich ihn kaum, einmal traf ich ihn unverhofft in dem Hotelschreibzimmer an, wo er über einer Mappe mit Papieren hockte. Als ich ihm über die Schulter schauen wollte, klappte er die Mappe zu. »Was ist, Ramon?« hatte ich gefragt. »Geschäfte, Geschäfte«, hatte er seufzend geantwortet und dabei das Gesicht mit den Händen bedeckt. Plötzlich überfiel mich eine verzweifelte Angst, ihn zu verlieren. Ich setzte mich vor ihn auf den Schreibtisch und fing an zu reden, irgend etwas, unwichtiges Zeug, denn über das Wichtige hatten wir ja doch nie gesprochen. Kulturgeschwätz, nur um überhaupt etwas zu sagen, um ihn nicht loszulassen. »Vergiß die Geschäfte für heute, Liebster, komm mit mir, die Emilie Flöge anzuschauen.«

»Wen?«

»Das Bild von Klimt. Ich dachte immer, es hängt im Museum in Solothurn, wollte sogar hinfahren, es mir anschauen, aber du weißt ja, wie schwer mir das Reisen in der Schweiz fällt. Gott sei Dank habe ich es gar nicht erst versucht. Es war eine Verwechslung. In Solothurn hängen die Goldfische, erinnerst du dich, dieses merkwürdige Weib mit dem Riesenhinterteil, du kennst es von Abbildungen. Es hat nichts zu tun mit dem Klimt, den ich liebe. Kitty würde da allerdings anderer Meinung sein. Also die Emilie, stell dir vor, eines meiner Lieblingsbilder, vielleicht sogar eines der Bilder, die ich mir nehmen würde, wenn man mir nur zwanzig zubilligte, also die Emilie befindet sich nicht in Solothurn, sondern hier im Historischen Museum. Ich habe das heute zufällig gemerkt, als ich den Œuvre-Katalog von Klimt durchging. Wer kommt schließlich schon ins Historische Museum, nicht wahr, also wenn ich nicht zufällig...«

»Laß doch, Augusta, laß mich«, schnitt Ramon mir den Redefluß ab. Er hatte natürlich recht. Denn wieso gab ich plötzlich vor, daß für mich ein Bild, welches ich noch nicht einmal im Original gesehen hatte, zu den zwanzig wichtigsten der Kunstgeschichte gehörte?

»Was ist, Ramon?« fragte ich noch einmal, »bitte, Ramon, sprich mit mir.«

Ramon stand auf und packte seine Papiere in den Aktenkoffer. »Wie war der Mädchenname deiner Mutter?« fragte er plötzlich.

»Bauersberg«, antwortete ich automatisch.

»Ein sehr häufiger Name im Hessischen, nicht wahr?«

»Nein, eigentlich nicht. Warum fragst du?«

»Nur so. Ich habe mich gerade mit Namen beschäftigt, mit Ursprung und Bedeutung.«

»Und deshalb bist du so bedrückt?«

»Wie kommst du darauf, daß ich bedrückt bin?«

»Ramon, bitte!«

»Tut mir leid, Augusta, ich habe noch etwas zu erledigen. Zum Abendessen bin ich zurück. Und deine Emilie können wir uns dann morgen anschauen.«

Er wischte mir einen Kuß auf die Stirn und ging eilig aus dem Zimmer.

Zum Abendessen kam er nicht. Der Portier übermittelte mir eine Nachricht, der Herr Gemahl sei leider verhindert, würde jedoch spätestens um zehn Uhr zurück sein. Ich war irritiert und fast ärgerlich. Namenforschung – es war doch wohl kaum möglich, daß darin diese Obsession lag, die Ramon so außer sich geraten ließ? Namenforschung – das klang mir fast obszön. Namenforschung jetzt! Zum ersten Mal nämlich, seit Beginn unserer Ehe, war ich neun Tage lang über den Menstruationstermin hinaus, und Ramon schien es überhaupt nicht bemerkt zu haben. Er war so desinteressiert, daß ich schließlich meinte, ich müsse mich im Termin geirrt haben. Als ich darum im Buch mit den Temperaturkurven nachschauen wollte, stellte ich fest, daß Ramon seit mindestens zwei Wochen keine Eintragung mehr gemacht hatte, eine unverzeihliche Nachlässigkeit! Mehrmals hatte ich mir schon vorgenommen, mit Ramon die Sachlage zu besprechen, aber dann hatte ich die Worte nicht herausgebracht, teils, weil wir es stets weitgehend vermieden hatten, über Wichtiges zu reden, und teils auch aus abergläubischer Angst, diese vage Möglichkeit so sehnsüchtig herbeigewünschter Erfüllung durch meine grobe Annäherung zu zerstören. Mein Aberglaube, ging sogar so weit, daß ich auch mit mir selbst die Sachlage nicht mehr besprechen, ja nicht einmal bedenken konnte: Nur nicht daran rühren, alles so weitermachen wie bisher, um Gottes willen das zarte Wunder, wenn es sich denn tatsächlich manifestieren sollte, nicht damit beleidigen und verschrecken, daß man es vorzeitig ans helle Licht diskutierbarer Realität zerrte. Die ganze Angelegenheit ignorieren, so tun, als sei nichts los...

Nach dem einsamen Abendessen ging ich nach oben und bereitete mich auf meinen Mann vor. Ich duschte und parfürmierte mich – mir zuliebe, nicht seinetwegen –, ich legte das Kissen und den Seidenschal auf den Nachttisch, rollte die Bettdecke zurück und legte mich nackt auf das stramm gespannte Laken. Es war ein ungewöhnlich heißer Abend. Schon den ganzen Tag über hatten Gewitter in der Luft gelegen. Die Hotelfenster standen weit offen, ohne daß sich die davor hängenden leichten Spitzengardinen bewegt hätten. Die feinen Goldketten um meinen Hals, zweiundsechzig an der Zahl, drückten schwer. Ich mußte sehr lange warten. Die Gedanken, mit denen ich meinen abwesenden Gatten bedachte, waren keineswegs nur freundlich. Endlich schlief ich ein.

Als ich wieder erwachte, war Ramon schon eifrig bei der Arbeit. Das Tuch bedeckte mir wie immer Gesicht und Oberkörper, meine hochgezogenen Knie waren weit auseinandergedrückt, und Ramon führte gerade seinen Penis auf die gewohnte, technisch einwandfreie Art in meine geölte Vagina ein. In Anbetracht der neun überschüssigen Tage schrie ich (oder wollte ich vielleicht nur schreien?): »Bitte nicht, Ramon, bitte nicht«, doch das leichte Seidentuch hatte sich plötzlich in eine schwere Pferdedecke verwandelt, die jede Regung erstickte und die kein Wort nach außen dringen ließ. Zwar konnte ich Ramon hören und ihn auch fühlen, aber mich selbst bemerkbar machen konnte ich nicht. Ich spürte, wie mir der Schweiß den Körper herunterlief, ja, ich hatte das Gefühl, in einem widerwärtig heißen Schweißsee zu liegen. Oder war es etwa Blut? Mein Gott, Ramon, du wirst unser Kind umbringen. Ich versuchte, meinen Körper ganz hart zu machen, um das Wunder, an das ich nicht einmal denken durfte, gegen die Stöße seines Vaters zu schützen. Ramon stöhnte. Auch er war schweißnaß, und ich wußte, daß er nichts so sehr haßte, wie wenn sich sein Schweiß mit dem meinen mischte. Ein Körper hatte trocken zu sein, dazu kühl und weitgehend geruchlos. Armer Ramon, das konnte ich ihm nur selten bieten, und heute war es besonders schlimm. Mit jedem Stoß sülzte und schmatzte es zwischen uns, Ramons hartes, schmales Befruchtungsinstrument stieß, aus Tapferkeit unerbittlich, weiterhin rhythmisch zu, stieß bei mir jedoch gegen eine sich verhärtende Muskulatur, die sich schmerzhaft weigerte nachzugeben.

Ramon preßte meine Knie noch weiter auseinander, als ob mein Schoß nicht auch so schon viel zu groß für ihn war. Wenn er nicht achtgäbe, würde er noch kopfüber hineinstürzen. Ramon in meinem Körper, von mir fest umschlossen, welch eine gute Idee! Dann könnte er sich ganz persönlich mit dem Wunder auseinandersetzen, und wir brauchten keine Worte mehr darüber zu verlieren. Und erst einmal in mir drinnen, könnte er auch gleich für eine Weile dort bleiben, um sein Versöhnungssymbol auf die Erfordernisse dieser Welt vorzubereiten und im rechten Sinne zu indoktrinieren. Denn darüber sind wir uns von Anfang an klar gewesen, daß unser Wunder Führung brauchte und diese strikt und unabdingbar von Ramon ausgehen würde.

»Mein Gott, Weib«, stöhnte Ramon verzweifelt, »gib endlich nach, und mach dich auf.«

Es war das erste Mal, daß sich Ramon während seiner Übungen persönlich an mich wandte, und es gefiel mir sehr. Ich lächelte boshaft und selbstgefällig unter meiner Pferdedecke. Sollte er doch kämpfen und sich abarbeiten, das war schließlich seine verabredete Aufgabe. Ramons Bewegungen wurden immer wilder, sein Körper hetzte und schlug auf und nieder, er schien sogar zu hüpfen, denn das Bett geriet in schlingernde Bewegungen wie ein Schiff, das aus dem Ruder geraten ist. Und dann plötzlich rutschten ihm seine Hände von meinen schweißnassen Knien, und er stürzte tatsächlich auf mich herunter, in mich hinein, wie mir schien, ohne Halt und Hilfe wild um sich schlagend, ein Ertrinkender, dem sich statt der rettenden Balken nur glattes, schweißnasses Weiberfleisch bot.

Dies war genau der Augenblick, in dem, sehr passend, der Sturm losbrach, ein lang zurückgestautes Gewitter, das die Schwüle vor sich hergeschoben hatte. Die Fensterflügel flogen krachend gegen die Wand, und ein Windstoß fauchte ins Zimmer, riß die Gardinen zur Seite, riß auch mir das Tuch, das sich durch den kühlen Luftzug urplötzlich wieder von der Pferdedecke in das leichte Seidengespinst zurückverwandelt hatte, von Gesicht und Oberkörper. Ich öffnete die Augen und sah meinen nackten, mir zwischen den Beinen zappelnden Ehemann, und plötzlich überkam mich ein entsetzliches Gelächter. Mein Körper schüttelte sich, ich prustete und schrie vor Lachen, mir kamen die Tränen, ach, Ramon, Liebster, verzeih mir, es ist so grauenhaft, so wahnsinnig komisch.

Ramon hatte inzwischen vollends den Halt verloren, er kämpfte immer noch verzweifelt, nicht mehr um Fortpflanzung, nur noch ums Überleben. Haltsuchend schlingerte er über meinen vom Gelächter geschüttelten glitschigen Bauch nach oben, bis er schließlich die Goldketten fand, in die er mit beiden Händen hineingriff, so fest, daß mir das Gelächter erstarb und ich vor Schreck und Schmerz laut aufschrie: »Ramon, du tust mir weh, laß das.«

Aber Ramon ließ nicht los, er verschränkte seine zarten Finger in den Ketten und zog sie dichter und dichter zusammen. Sein Gesicht war haßverzerrt.

»Ramon«, stöhnte ich, »du erwürgst mich, hör auf.«

Ramon hatte sich an den Ketten hochgezogen, jetzt hockte er kniend auf meinen Schultern und würgte und zog, seine zweiundsechzig heißen Goldketten drückten mir die Luft ab und beförderten mich aus der Besinnung hinaus in Richtung von etwas, das ich mit meinem letzten Gedanken tatsächlich für das Jenseits hielt.

Als ich wieder zu mir kam, mit schwerem Kopf und schmerzendem Hals, war hellichter Tag. Ich wunderte mich darüber, daß ich in einem frischen kühlen Bett lag unter einer an den Seiten sorgsam eingeschlagenen Decke. Ich trug ein hochgeschlossenes Batistnachthemd, und irgend jemand hatte mir das Haar mit Spangen zur Seite gerafft. Das Zimmer war aufgeräumt, der kleine Safe neben der Hotelbar verschlossen. Keine Spur von Ramon, weder von ihm selbst noch von seinen persönlichen Utensilien. Draußen goß es in Strömen. Auf meinem Nachttisch stand wie immer neben dem Buch ein frisches Glas Wasser. Ich griff danach und trank es in einem Zug leer. Erst als ich das Glas zurückstellte, spürte ich nachträglich den leicht bitteren Beigeschmack. Noch bevor ich weiter überlegen konnte, schlief ich wieder ein.

Stunden später, hinter den Spitzengardinen wurde es bereits dunkel, schrillte das Telefon. Es war der Portier. Ich sei den ganzen Tag nicht heruntergekommen, ob es mir nicht gutginge, ob er mir vielleicht die Hausdame schicken solle oder besser gleich den Arzt?

»Nein, nein«, sagte ich, »das Gewitter hat mir so arg zugesetzt, so habe ich letzte Nacht kein Auge zugetan und dafür den ganzen Tag geschlafen.« Und er möge mir ein Abendessen heraufschicken, gemischte Vorspeisen, Fladensuppe, Tafelspitz und Palatschinken, für zwei Personen, von allem reichlich, ja, ich erwartete Besuch. Und eine Flasche leichten Wein dazu.

»Welcher darf’s denn sein, gnä’ Frau?«

»Leicht, weiß und kalt. Den Rest überlasse ich Ihnen.«

Ich fühlte mich keineswegs physisch elend, nur auf eine merkwürdige Weise außerhalb meiner selbst. Ich stand auf, ging ins Bad und entdeckte, daß meine Menstruation begonnen hatte, zum 63. Mal seit meiner Verehelichung. Während ich mich wusch und frisch machte, mir die Spangen aus den Haaren zog und mir das lange rote Gekrussel, das fast bis zur Taille reichte, um den Oberkörper bürstete, hörte ich nebenan den Kellner den Dinnerwagen hereinrollen. Er klapperte eine Weile mit den Tellern, dann ging er wieder. Ich lief hinüber, riegelte die Tür hinter ihm ab. Neben dem Safe lag das kleine Beckenkissen und darüber, sorgsam zusammengelegt, das seidene Tuch. Ich nahm das Tuch und band es mir um den Hals, um die Goldketten und die blauroten Striemen zu verdecken. Dann legte ich das kleine Kissen in einen Sessel, hockte mich darauf und begann zu essen. Es war das erste Mal seit Jahren, daß ich Wein trank. Ich kann nicht behaupten, daß er mir schmeckte, im Grunde war meinen Geschmacksnerven jede Form von Alkohol zuwider, aber der Wein mit seiner appetitanregenden Wirkung half mir, das Essen hinunterzuschlingen. Ich leerte alle Schüsseln, einschließlich des Brotkörbchens, ließ weder die Petersiliengarnitur aus noch die beiden Ferrero-Küßchen, die mit schriftlichem Gute-Nacht-Gruß als Betthupferl am Tablettrand platziert waren. Das Essen bereitete mir wegen seines schieren Volumens große Mühe, und ich mußte sogar meine Hände benutzen, um nachzuschieben, wie bei einer Stopfgans. Während unter mir das schöne rote Blut auf das Kissen träufelte, beobachtete ich, wie sich mein Leib mehr und mehr rundete, sicher hatte ich alles in allem fünf, sechs Pfund feste und flüssige Nahrung verschlungen, ungefähr das Gewicht eines Säuglings kurz vor der Geburt. Aber dann fiel mir ein, daß da ja auch noch die Nachgeburt war, dieses prachtvolle Ding mit Namen Mutterkuchen, und ich griff zum Telefon und bestellte mir eine weitere Portion Palatschinken mit Vanilleeis und Sahne. Zur Lieferung verzog ich mich mitsamt dem Kissen wieder ins Bad, dann wankte ich hinaus, ein schwerer, nackter, voller Körper, fiel auf den Sessel und fraß weiter. Mit aller Kraft bemühte ich mich, die Übelkeit zu unterdrücken und das Essen nicht wieder hochkommen zu lassen. Schließlich zog ich sogar den Seidenschal mitsamt den Ketten fest zusammen, beruhige dich, Ramon, auch wenn du nicht bei mir sein kannst, werde ich mich nach deinen Intentionen verhalten.

Nach vier oder fünf, vielleicht sogar nach sechs Tagen ununterbrochenen Fressens kam Kitty. Es war schon wieder spätabends. In meiner Erinnerung scheint es damals in Wien überhaupt fortwährend Abend gewesen zu sein. Ich hatte mir gerade wieder ein doppeltes Dinner bestellt, obgleich ich des Stapels Nachmittags-Sandwiches noch nicht ganz Herr geworden war. Ich dachte, als ich das Klopfen an der Tür hörte, es handelte sich um den Kellner – sonst hätte ich die Tür überhaupt nicht geöffnet. Kitty wußte nichts mit der Situation anzufangen und ich nichts mit Kitty.

»Was ist denn passiert?« fragte sie und betrachtete mich voller Mißtrauen von oben bis unten. »Wie siehst du überhaupt aus, bist du krank, hast du hier Orgien gefeiert, wieso steht überall schmutziges Geschirr herum, streiken die Schwarzenbergschen Zimmermädchen?«

»Ich dachte, du bist in London«, sagte ich.

»War ich auch, bis heute mittag. Dann hat Ramon bei mir angerufen, ich möge mich sofort um dich kümmern, es wäre dringend.«

»Von wo aus hat Ramon angerufen?«

»Von Jerusalem, nehm’ ich an. Ich habe nicht gefragt. Ich habe mich sofort ins nächste Flugzeug gesetzt, und jetzt bin ich also hier.«

»Jetzt bist du also hier«, sagte ich und begann, ein Sandwich mit Lachs und Rahmkäse hinunterzuwürgen.

»Augusta, was ist los, worüber war Ramon so besorgt?«

»Keine Ahnung.«

Kitty sprang auf mich zu und packte mich bei den Schultern. »Augusta! Du sitzt hier herum wie eine alte Schlampe mit einem fleckigen Bademantel und ungekämmt, das Zimmer stinkt wie eine Stehbierhalle, und du siehst aus, als hätte dich jemand aufgepumpt. Augusta, verdammt, was hat Ramon mit dir gemacht?«

»Wieso denn Ramon?« sagte ich.

»Wieso diese Berge von Geschirr?« schrie sie.

»Der Mensch muß sich doch gut ernähren, wenn er es zu etwas bringen will«, antwortete ich albern.

Kitty riß mich aus meinem Sessel hoch und stieß mich ins Bad. Sie war jetzt wild aufgebracht, ich kannte das aus unserer Kinderzeit. Wenn Kitty wütend wurde, entwickelte sie Bärenkräfte, es hatte nicht den geringsten Sinn, sich gegen sie zu wehren. Im Bad schloß Kitty die Tür hinter sich ab und steckte den Schlüssel in die Tasche. Dann zerrte sie mir den Bademantel von den Schultern und den Seidenschal vom Hals, drängte mich in die gläserne Waschkabine, stellte das Wasser an. Ohne auch nur im geringsten auf meine Reaktion zu achten, duschte sie mich ab, mit hartem Strahl, abwechselnd heiß und kalt. Ich sackte in der einen Ecke zusammen, zog die Knie gegen mein Gesicht und begann wild zu schreien. Kitty zielte den Wasserstrahl direkt auf meinen Mund, so daß das Geschrei in Gurgeln überging. Ich weiß nicht mehr, wie lange sie das getrieben hat. Schließlich war ich so erschöpft, daß ich mich auf dem Boden der Dusche zusammenrollte und nur noch wimmerte. Kitty warf ein dickes Badehandtuch über mich. Dann rief sie die Hausdame an und verlangte, daß meine Sachen umgehend in ein anderes Zimmer gebracht werden müßten, der Zustand dieses Zimmers hier wäre eine absolute Schande.

Kurz darauf lag ich in einem frischen, kühlen Bett, wieder mit einem hochgeschlossenen Batistnachthemd angetan, die Haare fest umwickelt mit einem weißen Handtuch, die Bettdecke hochgezogen, glatt gestrichen und an den Seiten festgestopft. Zwischen den Beinen spürte ich ein weiteres Handtuch. Kitty saß mit steifem Rücken auf dem Stuhl neben meinem Bett und starrte mich an.

»Also los«, sagte sie schließlich, »was ist passiert?«

Eingedenk des scheuernden Frottees zwischen meinen Beinen, sagte ich: »Ich glaube, ich blute.«

»Das habe ich gemerkt. Anscheinend hast du die ganze Zeit auf diesem kleinen Kissen gehockt, es war vollkommen blutdurchtränkt, widerlich. Ich habe es fest in eine Plastiktüte eingewickelt und weggeworfen.«

Ich fuhr hoch. »Du hast es weggeworfen?«

»Was hätte ich denn sonst damit machen sollen?«

Ich fing an zu weinen.

Kitty stand auf und ging hin und her. »Also gut, heul dich aus. Offenbar hast du Grund dazu. Was war der Grund?«

»Ich weiß es nicht«, schluchzte ich, »ich kann mich nicht erinnern. Sag du mir den Grund.«

»Mein Gott, Augusta«, fuhr Kitty mich an, »ich kann doch nicht immerfort den Karren für dich aus dem Dreck ziehen. Du sitzt da und läßt alles über dich ergehen, du legst die Hände in den Schoß, du träumst. Ringsum läßt du die wahnwitzigsten Sachen passieren, provozierst, stachelst an, und dann stellst du dich daneben und findest alles so furchtbar traurig und fängst zu heulen an. Aber kapieren tust du nicht das geringste, nicht einmal etwas über deine eigenen Schmerzen, falls du welche hast. Was um alles in der Welt soll ich mit dir tun?«

»Erzähl mir, wie es wirklich war.«

Kitty setzte sich wieder auf den Bettrand. Sie wischte mir mit einem Papiertaschentuch die Tränen ab, legte ihr Gesicht gegen meines, küßte mir Wangen und Stirn, nahm meine rechte Hand, die eiskalt war, in ihre beiden, hauchte und rieb und drückte, bis sich ein Teil ihrer Körperwärme auf mich übertrug, und sagte endlich, ganz nebenbei: »Gut, ich erzähl’ dir deine Geschichte. Aber ein paar Anhaltspunkte mußt du mir schon geben. Farben, Formen, Gerüche, Klang. Grundmaterial, du weißt schon. Die mitspielenden Personen kann ich dann selbst engagieren. Wenn du willst, mach’ ich dir ein ganzes Fernsehspiel, Soap oder Drama, ich spiel’ dich gegen die Wand wie früher, aber du mußt mir schon entgegenkommen.«

Das »Spiel gegen die Wand« war unser alter Kindertrick. Als wir klein waren, so vom zweiten Schuljahr an, spielten nahezu alle Mädchen in Kittys Nachbarschaft ein Ballspiel, bei dem ein fester, faustgroßer, buntbemalter Gummiball in sich steigernden Schwierigkeitsgraden gegen eine Wand geworfen und wieder aufgefangen werden mußte, über den Kopf, um den Rücken herum, zwischen den Beinen hindurch, einäugig, ganz blind und mit Händeklatschen zwischendrin. Wenn Kitty und ich der ewigen Wiederholungen müde waren, verzogen wir uns an eine andere Wand und erzählten uns Geschichten, Phantasiegeschichten, die jedoch immer und unter allen Umständen »wahr« zu sein hatten. »Was macht ihr denn da hinten?« schrien die andern kleinen Mädchen. »Wir spielen uns gegen die Wand«, antworteten wir und ließen die bunten Bälle hopsen.

Ich lag im Bett, erschöpft, Kinderzeit-sehnsüchtig, und konzentrierte mich auf ihre Wärme in meiner Hand.

»Augusta«, drängte Kitty, »du wirst mich nicht alleine abfahren lassen, du willst doch mitspielen?«

»Natürlich«, antwortete ich, »aber nicht jetzt, morgen, übermorgen, ich muß mich erst erinnern. Könntest du mir nicht inzwischen etwas von dir selbst... ich habe dich seit über fünf Monaten nicht gesehen.«

»Erst du, Augusta, ich bin zu dir gekommen, nicht du zu mir.«

»Aber ich weiß kaum noch etwas über dich, nicht mehr, was du inzwischen getrieben hast. London, deine Arbeit, Wladimir. Wie kommst du zurecht ohne deinen polnischen Edelmann?«

»Augusta...!«

»Gib mir Zeit. Ich kann jetzt noch nicht.«

»Aber du mußt mir versprechen...«

»Ich verspreche es dir.«

»Rück mal etwas«, sagte Kitty. Sie schob mich zur Seite und streckte ihren langen, mageren Körper auf der Bettdecke neben mir aus. »Aber nur, um dir etwas Zeit zum Nachdenken zu geben. Dafür ist Wladimir gerade noch zu gebrauchen, obgleich ich mir vorgenommen hatte, ihn ins Nichts abzuschieben, Nichts an Vergangenheit, Nichts an Zukunft, Nichts an Erinnerung, Nichts an Erwartungen, Nichts-Nichts-Nichts, verstehst du. Es ist zu idiotisch, wenn man jemandem mehr zubilligt, als er haben will, wenn man sich mühsam überwindet und sich ihm dann darbietet, dein ist mein ganzes Herz und so weiter, und der andere steht da wie der Ochs vorm Berg und weiß gar nicht, was mit dieser Darbietung gemeint sein könnte. Also ab in die Nichtigkeit. Meistens halte ich das auch sehr ordentlich durch, mit stramm gespannter emotionaler Oberfläche sozusagen. Aber irgendwo tröpfelt es denn doch mal durch, treibt ein paar störende Bläschen. Die können wir ja jetzt mal aufstechen, als Zeitvertreib, nur zwischen dir und mir. Danach wird alles wieder schön glatt. Also eines Tages steht dieser Wirrkopf mit gepacktem Seesack – der eleganteste Ledersack, den ich je gesehen habe, Gucci oder Hermès oder so etwas – vor mir und sagt...«

Der Film rollt ab, ein knallbunter, schriller Action-Film, keineswegs nur die angekündigten leichten Unebenheiten in der Oberfäche. Wütig, schmerzlich, auch komisch, Gott sei Dank für meine Freundin Kitty, denke ich, die sich das Spiel mit dem Nichts-Nichts-Nichts leisten kann, weil sie ohnehin von allem zuviel hat, die so wunderbar sorglos damit herumjongliert und gar nicht merkt, was alles sie bei diesem Spielchen gelegentlich fallen läßt und verliert, damit es solche wie ich aufheben und verwerten können.

Ich muß dann wohl doch trotz Kittys wilder Erzählung müde geworden und eingeschlafen sein. So viel, so merkwürdig viel habe ich geschlafen in diesen Tagen. Als ich aufwachte, war tiefe Nacht. Die Lichter waren, bis auf das kleine neben dem Fernseher, angeschaltet. Kitty hatte mein Zimmer verlassen. Das Aufwachen selbst war noch ziemlich heiter gewesen, wohl im Nachklang zu Kittys Erlebnisbericht, doch bereits im Hochkommen durchzuckte mich ein unbestimmter Schreck, der sich schnell in wilde, bebende Angst verwandelte. Zuerst hatte mich Ramon verlassen, jetzt auch Kitty. Schweiß trat mir auf die Stirn, im Innern meines Mundes zog es sich säuerlich zusammen, die Zähne klapperten. Ich steckte mir die geballte Faust in den Mund. Und dann kam der Hunger, ein reißender, gieriger, jedes andere Gefühl oder Bedürfnis lächerlich machender Wahnsinnshunger, den ich sofort stillen mußte, komme, was da wolle. Ich rief den Zimmerservice an, verlangte, nachdem ich unter Aufbietung aller Kräfte meinen zitternden Kiefer in Redeposition gebracht hatte, mir sofort ein Dinner für zwei Personen aufs Zimmer zu bringen.

»Aber es ist drei Uhr, Madame.«

»Na und?«

»Die Küche ist geschlossen, Madame.«

»Dann bringen Sie mir eine Platte Sandwiches, aber viele. Sie werden es vielleicht noch schaffen, den Eisschrank zu öffnen.«

»Nicht vor sechs Uhr morgens, Madame.«

»Ich gebe Ihnen ein gutes Trinkgeld«, sagte ich verzweifelt, »das beste, das Sie je gekriegt haben.«

»Also, ich werd’s versuchen, Madame.«

»Und vergessen Sie den Wein nicht.«

Während der nächsten zwanzig Minuten rannte ich wie wahnsinnig im Zimmer auf und ab, meine Kehle brannte, mein Kopf dröhnte, ich stürzte mich ins Badezimmer, duschte eiskalt, wobei ich mit Entsetzen bemerkte, daß ich immer noch blutete, stopfte mir alle Taschentücher, die ich finden konnte, in die Scheide, zog mir vier Baumwollunterhosen übereinander an, wickelte mich in das große Badetuch – meinen Bademantel schien Kitty in die Wäsche gegeben zu haben –, riß das Fenster auf, versuchte, durch tiefes Luftholen wenigstens das Flattern meines Körpers etwas zu beruhigen – bis dann endlich der verschlafene Nachtboy kam, mit genügend Brot und Käse und Wurst, um eine ganze Familie zu ernähren. Ich konnte meine österreichischen Schillinge nicht finden, gab ihm darum hundert Mark, zeichnete zitternd seine Rechnung ab und beschwor ihn, um sechs Uhr wiederzukommen und mir ein anständiges Frühstück zu servieren.

Kaum war er gegangen, ließ ich das Badetuch fallen, platzierte das Tablett auf den Serviertisch, stellte mich vor den großen Spiegel und begann zu fressen. Mit beiden Händen schob ich nach, mit harten Melkbewegungen den Hals und Oberkörper hinunter. Wenn ich zu heftig gemolken hatte und das Essen wieder hochkommen wollte, drückte ich mir einfach mit meinen goldenen Ketten die Kehle zu. Als die Platten leer waren, fiel ich auf den nächsten Sessel und in einen unruhigen Schlaf. Um Punkt sechs Uhr klopfte es wieder an der Tür, der Kellner brachte ein doppeltes Frühstück. Ich war berauscht, ich konnte nur noch lallen, und es gelang mir nicht mehr, meinen Körper mit dem Badetuch zu bedecken. Ich fraß weiter, schlief wieder, raffte mich auf, stellte mich noch einmal vor den Spiegel. Die Hände legte ich mir auf den Leib, auf diesen großen weißen Ballon, aus dem der Nabel herausstand, wie ich es bei manchen Schwangeren gesehen hatte. Kurz bevor ich ohnmächtig wurde, dachte ich an das andere Klimt-Bild, an die Schwangere, die da aufrecht steht und den Betrachter herausfordernd anstarrt, über sich einen Totenkopf und unter sich ein leuchtendblaues Sternentuch.

Kitty hat mich dann im Laufe des nächsten Vormittags ins Krankenhaus geschafft. Dort blieb ich fünf Wochen. Man schnitt mir die Goldketten vom Hals. Man behandelte mich mit milden Psychopharmaka, setzte mich auf eine strikte Diät und nahm eine Ausschabung des Uterus vor. »Schwangerschaft in sehr frühem Stadium«, diagnostizierte der freundlich-flotte Gynäkologe, »machen Sie sich nichts daraus, gnä’ Frau, solch ein kräftiger Körper wie der Ihre kann noch viele Kinder produzieren. Diesmal hat’s nicht sollen sein, das nächste Mal wird’s um so besser. Sollte ich ein paar Worte mit dem Herrn Gemahl wechseln?«

»Der ist in Israel«, sagte ich.

Das war er aber nicht. Kitty hatte auf mein Drängen hin immer wieder in unserer Wohnung in Jerusalem angerufen, nie hatte Ramon den Hörer aufgenommen, statt seiner jedoch der Anrufbeantworter in drei Sprachen prompten Rückruf versprochen, der auch erfolgte, allerdings nie bei mir im Krankenhaus, stets nur bei Kitty im Hotel.

Nach ein paar Tagen verging der Hunger vollkommen. Jetzt waren mir sogar schon die 300 Kalorien pro Tag zuviel. Eine Masseurin kam und unternahm es, täglich eine Stunde lang meine wabernden Fleischmassen durchzukneten. Anschließend zwang sie mich zu einer halben Stunde Gymnastik. »Sie haben so einen Körper...«, sagte sie sinnend, »also wissen’S, so einen Körper hab’ i noch nie unter die Finger g’habt, Sie bringen an die 180 Pfund auf die Waagen und sind doch so leicht wie eine Feder. Und wissen’S eigentlich, daß Ihre Brüste voller Milch sind?«

»Das muß von der Fehlgeburt kommen«, sagte ich schnell.

Die Masseurin schüttelte nachdenklich den Kopf.

»Also so früh und so schöne Milch, das habe ich noch nie gesehen.«

Ich verbat mir, daß sie während der Massage in die Nähe meiner Brüste geriet, was sie auch strikt einhielt.

Kitty verbrachte täglich viele Stunden mit mir und baute mein Leben wieder zusammen. In den ersten Tagen hatte sie mir von sich selbst erzählt, hatte das ganze bunte Mosaik ihrer Londoner Welt vor mir ausgebreitet, hatte es mir in ihrer unvergleichlichen Großzügigkeit dargeboten zur gefälligen Benutzung. »Also stell dir vor...«, begann sie immer wieder und spielte sich für mich gegen die Wand, lieferte mir Farben, Formen, Gerüche, Klang, jenes Grundmaterial, das eigentlich ich ihr versprochen hatte. Liebe Kitty, beste Freundin, leb du für mich. Du hast ja gesehen, was passiert, wenn ich es selbst versuche. Ich werde verrückt und fresse meine eigenen Kinder. Ach, und Kitty, dir fällt das Leben so leicht, du brauchst dich nicht zu mühen und hinter den Ereignissen herzulaufen, du bist der natürliche, schillernde Köder, auf den die Abenteuer zuschießen wie Fische im Wasser. Gelegentlich werden dir dabei auch mal ein paar Fetzen weggerissen, doch dann lachen wir unter Tränen und richten uns schleunigst wieder her. Allerdings dieser Wladimir, dieser gottverdammte Nichts-Nichts-Nichts, scheint ein unverhältnismäßig großes Stück von dir mitgenommen zu haben, wie konnte das passieren, eine Lebenssekunde unbeschützt, und schon hatte uns dieser Jubelpole deformiert. Wirklich deformiert? Das lassen wir uns nicht gefallen, Kitty, Liebste, das werden wir uns zurückholen, wir fahren nach Polen. Kitty hatte gelacht, hatte versprochen, sich zu wehren, sich wieder ganz zu machen; erst einmal seine Adresse herausbringen, dann eine Strategie überlegen, seine polnische Frau und Tochter ausschalten, seine zwei oder drei Geliebten ebenfalls, dann ein Visum beantragen...

Mit diesen Geschichten waren die ersten Tage im Krankenhaus vergangen. Kitty gab überreichlich, ließ mich teilhaben an sich selbst, webte mir ein Sprungtuch aus ihrer Abenteuerenergie und begann schließlich auf meine eigenen mageren Erlebnisfäden mit einzuwirken, das wenige, was von mir überhaupt verwertbar war. Sie machte das so geschickt, handhabte ihre Verflechtung von Dichtung und Wahrheit so überzeugend harmlos, daß ich meine Beteiligung erst bemerkte, als Kette und Schuß schon fest miteinander verbunden waren.

Die Psychopharmaka, die meine Biochemie in Richtung Ruhe und Frieden manipulieren sollten, hatten mich merkwürdig blaugolden gemacht, ganz überzogen und eingerollt in dieses Farbempfinden der Vergeblichkeit und Melancholie.

»Wie lange noch?« hatte ich Kitty verzweifelt gefragt.

»Wir werden es begrenzen, ich verspreche es dir. Es geht doch hier nur um dich und um nichts sonst auf der Welt. Es geht um deine Wünsche, deine Träume, deinen Körper, und wenn du nicht abrücken kannst von deiner Fruchbarkeitsobsession, dann wechsle wenigstens von Zeit zu Zeit die Methode.«

Schritt für Schritt holte Kitty mich zurück in die Realität. Sie brachte mich dazu, die Tabletten zu reduzieren, nahm mich auf kleine Spaziergänge mit und überzeugte schließlich den behandelnden Psychiater, daß es vernünftig sei, mich aus dem Krankenhaus zu entlassen.

Wir zogen um in die Pension Nossek, in ein großes Zweibettzimmer mit angrenzendem kleinem Wohnzimmer und Bad. Kitty schien über genügend Geld zu verfugen. Sie sprach nie davon, ich nahm an, daß Ramon, der sie gelegentlich anrief, sie großzügig versorgte. Man hatte mein Gepäck aus dem Schwarzenberg herübergeschickt. Obenauf in meinem vom Zimmermädchen gepackten Koffer lag eine schwarze Mappe, an die ein Zettel geklebt war: Inhalt des Safes aus Zimmer 283, Palais Schwarzenberg. Bitte Schlüssel zurückerstatten.

Kitty hatte einen Blick auf die Mappe geworfen und sie sogleich an sich genommen. »Ich werde dies gelegentlich Ramon zustellen«, sagte sie, »sobald er mir seine Adresse mitteilt.«

»Was ist es?«

»Ach«, hatte Kitty geantwortet, »nur Geschäftspapiere.«

Mein Körper wurde langsam wieder normal. Die Wunden am Hals heilten ab, so daß ich nach einer Weile den Schal nicht mehr brauchte. Kitty nahm ihn, faltete ihn sorgsam zusammen und legte ihn gemeinsam mit dem durchschnittenen Goldschmuck und der schwarzen Mappe in einen Schrank, dessen Tür sie verschloß. Keine Ketten mehr am Hals, kein Seidentuch, kein Unsichtbarmachen, kein Verbergen oder Verborgenwerden, kein hartes kleines Stützkissen, die Symbole meines Zusammenlebens mit Ramon fielen von mir weg. Ich habe mich nicht gewehrt. Während der ersten Zeit kam Ramon in der Nacht, wenn Kitty schlief, noch manchmal heimlich zu mir. Oder ich ging zu ihm, in den gleichen Glaskubus, in den Kitty zuvor schon den armen Gustav gesteckt hatte. Oben drauf hockte wie ein Kutscher der Gynäkologe. Ich bat Ramon, mir zu verzeihen und es doch noch einmal mit mir zu versuchen. Aber Ramon hatte alle seine Kraft verloren. Er saß da und starrte schweigend vor sich hin, ein uralter, vertrockneter Körper. Er war mir zu nichts mehr nütze, nicht einmal in meiner Phantasie. So habe ich ihn dann eines Nachts umgebracht. Ich glaube, es war ihm recht so, wir hatten ja nie Meinungsverschiedenheiten gehabt. Er hielt ganz still, als ich ihm das Tuch um den Hals legte und langsam fest zuzog. Adieu, Ramon, Caro, Carissimo. Wir haben beide alles auf eine Karte gesetzt, und die Karte war eine Niete. Jetzt ist das Spiel aus. Deine Karte kann ich ablegen, meine nicht. Wie werde ich weiterleben ... ich... weiterleben...? Gar nicht, ich werde Kitty für mich leben lassen, so war es beschlossen seit langer Zeit, ich hatte es nur vergessen.

Ich wußte nicht, wieviel Zeit vergangen war zwischen jener Gewitternacht im Schwarzenberg und Ramons Ende. Wochen, Monate, vielleicht ein Jahr. Kitty war immer bei mir. Und als ich dann tatsächlich frei wurde, als ich mich nicht mehr zu wehren brauchte, mich keiner mehr zwang, mich nichts Fremdes mehr hielt, da befand Kitty, daß es nun an der Zeit sei, gemeinsam Wien zu erobern. Diese Eroberung bezog sich vor allem auf Galerien und Museen, auf die Werke des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts, auf Wiens »goldenen Herbst«, in dem wir mit einer Intensität zu leben begannen, die ich mir während meiner Studienjahre nie gegönnt hatte. Die Wiener Sezession, Klimt und Schiele, Kokoschka, Kolo Moser, Otto Wagner. Wir hatten Zeit, wir hatten Geld, und niemand verlangte etwas von uns. Nicht einmal mein Vater mischte sich ein. Ich habe Kitty im Verdacht, daß sie ihm unsere Adresse vorenthalten hatte. Aber vielleicht war sein Schweigen auch als Strafe gedacht für meinen Mord an Ramon. Natürlich fühlte ich, daß diese Zeit nur ein Übergang sein durfte, solch ein wundersames Herumwandern im luftleeren Raum. Eines Tages natürlich würde uns die Erdenschwere wiederhaben, das wußten wir, und das machte unsere Zeit in Wien um so kostbarer.

Kitty hatte sich während der letzten Jahre, nach ihrer Abkehr von der Bildhauerei, vage und unsicher auf neue Versuche eingelassen, Töpferei, Metallobjekte, Schmuck aus Bein und Horn, alles unter nahezu panischer Vermeidung jeglichen Kunstanspruchs – wobei dann doch oft etwas Kunstähnliches entstanden war –, und hier in Wien nun entdeckte sie das Textildesign, die Stoffe der Wiener Sezession und vor allem die gemalten Stoffe von Klimt und Schiele. Plötzlich war sie besessen von der Idee, diese Stoffe zum Leben zu bringen, sie zu kopieren und das, was die Maler sich zusammengeträumt hatten, greifbare Wirklichkeit werden zu lassen. Als erstes gingen wir natürlich das Emilien-Bild anschauen. Dies geschah nur wenige Tage, nachdem ich Ramon umgebracht hatte, und ich benutzte den Besuch als Mutprobe. »Und deine Emilie können wir uns dann morgen anschauen«, hatte Ramon zu mir gesagt. Das war das letzte, woran ich mich erinnern wollte, der Rest war – ich hatte gerade von Kitty einen neuen Begriff gelernt – »psychischer Trash«.

Ramon, mein Mann, ich möchte in Frieden um dich trauern dürfen. Ich möchte mich der brauchbaren Erinnerung bedienen und vor dem Emilien-Bild weinen, weil ihm, ohne daß du es je gesehen hättest, deine letzten Worte gegolten haben.

Und so geschah es. Ich stand vor der Emilie, dieser hoch aufgerichteten Dame mit dem kompakten Drahthaar und dem etwas zu strikt geschmälerten Mund, und die Tränen liefen mir die Wangen hinunter.

Kitty zeigte sich alarmiert. »Ist es all das Blau oder der Blick oder die Augen oder was?« fragte sie.

Ich schüttelte den Kopf.

»Ach, jetzt weiß ich«, sagte Kitty dann plötzlich, »es ist das Tuch um ihren Hals. Komm schnell, Gusta, es ist gut, reg dich nur nicht auf, ich spiel’ dich gegen die Wand.« Noch bevor ich ihr sagen konnte, daß dies nicht nötig wäre, hatte sie mich schon auf die nächste Sitzbank gezogen und hatte für mich den großen Maler Klimt, den kleinen Gustav, der biographisch erwiesenermaßen stets bemüht gewesen war, seine Körperkräfte durch Turnen und Ringen zu steigern, in den Glaskubus gesteckt, neben dem die Schneidermeisterin Emilie stand, hoch aufgerichtet, mit schmal gepreßten Lippen und herausfordernd auf die Hüfte gestützter linker Hand.

Kitty und Augusta

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