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KITTY

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Was kann sie in einer halben Stunde schon groß anstellen? Sieben Minuten U-Bahn, fünf Minuten Gehweg auf ihrer, zehn auf meiner Seite. Hoffentlich macht sie sich bald auf den Weg! Aber sie ist noch nicht angezogen. Wenn sie das Telefon im Badezimmer beantwortet, heißt das, daß sie noch beim Schminken ist. Und sie schminkt sich immer, bevor sie sich anzieht, nackt vorm Spiegel. Ich habe sie oft dabei beobachtet, habe auf dem Badewannenrand gesessen und konnte sie so doppelt sehen, von vorne im Spiegel und von hinten in persona. In vielen verschiedenen Badezimmern der Welt. In Frankfurt, als wir noch Kinder waren und ich ihre Haare zu einem dicken Zopf geflochten habe. »Fester, Kitty, fester«, sagte sie immer. »Es muß weh tun, sonst löst es sich gleich wieder auf.« Sie sagte das, um es ihrem Vater recht zu machen, der war ein ernster, schroffer Mensch und konnte keine flatternden Haare leiden. (Sehr viel später habe ich ihn einmal in einer obskuren Bar in Amsterdam gesehen. Er saß mit grauem, mürrischem Gesicht in einer Ecke und starrte ausdruckslos vor sich hin. Auf seinem rechten Knie hockte eine kleine Hure, fast eine Liliputanerin, der hatte er beide Hände tief unter den Rock geschoben. Der Anblick war so unwahrscheinlich, daß ich später immer wieder glaubte, ich hätte mich bestimmt geirrt, und die Phantasie sei mit mir durchgegangen.)

Und als wir beide achtzehn waren, im Pflegeheim Wiesenau, da durfte sie nicht nackt stehen, und die Badezimmertür hatte kein Schloß. Damals waren ihre Haare noch kaum nachgewachsen und standen wie frisch gesäter Rasen steil und locker in die Höhe. Es war eine einzigartige Gelegenheit, ihre reine Schädelform zu begreifen. Ich habe die Augen geschlossen und meine Hände um ihren Kopf gelegt, minutenlang, damit ich mir die Form fest einpräge. Damals glaubte ich tatsächlich noch, eine große Bildhauerin werden zu müssen. Als ich die Augen wieder öffnete, starrte mich Augusta durch den Spiegel an. »So ist es eben«, sagte sie, »jemand wie ich rafft sich zu solch einer Großtat auf, und innen drin passiert immer noch nichts, alles tot. So jemand wie du macht Leben daraus. Ich glaube, ich geb’s auf.«

»Was gibst du auf?«

»Selbst zu leben. Ich werde es in Zukunft dir überlassen.« Augusta hatte das mit ganz lockerer Stimme gesagt und mit einem kleinen Lacher abgerundet, eine alltägliche Nebenher-Bemerkung. Aber es ist hängengeblieben bei mir, bis heute. Und bei ihr auch, das weiß ich. Sicher und jederzeit abrufbereit, wie ihre Schädelform unter meinen Händen, ich schaffe es nicht, also mußt du es für mich tun, du, meine Freundin Kitty, die eigentlich Luise heißt und die ich mir mitsamt ihrem neuen Namen ganz allein ausgedacht habe. Wobei man auch nicht vergessen sollte, daß wir schon als Achtjährige anläßlich unserer Blutschwesternzeremonie geschworen haben, uns beide füreinander aufzuopfern. Und was opferst denn du, meine geliebte Augusta? Meinen Arm, mein Bein, meine Haare, wenn sie wieder nachgewachsen sind. Das bezweifle ich nicht. Nur, daß es für dich kein Opfer wäre.

Und in dem chromglitzernden Bad in der Frankfurter Hochhauswohnung, wo sich Augusta in fröhlicher Derbheit breitbeinig vor mir aufgebaut hatte, um mir mit einem Zentimetermaß die »ungewöhnliche Breite meines gebärfreudigen Beckens« zu demonstrieren. »Das ist alles nur eine Frage der Geduld und Überzeugungskraft. Glaub mir, er wird es schon noch begreifen.«

Später dann, als ihr die Geduld ausgegangen war, gab es lange Zeit nur noch das winzig kleine Badezimmer in Jerusalem, dessen giftgrüne Kacheln auf ihren sonst so lebensvollen Körper einen Abglanz warfen, als wäre er kurz vorm Verwesen. Ursprünglich, so erzählte die leichenfarbene Augusta, wären die Raumproportionen sehr viel vernünftiger gewesen, doch dann hätte Ramon eine Zwischenwand eingezogen und so aus einem Bad zwei gemacht, dabei jedoch leider die Kacheln nicht ausgewechselt. Alles, worum es ihm ginge, sei seine Privatsphäre. Farben und Formen spielten da keine Rolle. Arme Augusta, wie konnte sie nur an solch einen Mann geraten? Damals in Jerusalem hat auch ihre Freßsucht angefangen, und Ramon hat es nicht einmal bemerkt.

Ach, und zwischen Europa und Israel noch das weißglänzende Patientenbad im Londoner Princess Grace Hospital, wo sie sich langwierigen Tests unterzogen hatte, weil sie nach dreijähriger Ehe und, wie Augusta betonte, täglichen ehelichen Vollzugsübungen immer noch nicht schwanger war. Damals – ich selbst lebte bereits in London und befand mich in einer Zeit schmerzhafter Nachwehen wegen der nun endlich abgetriebenen Bildhauerträume – betrachtete ich ihren Körper übergenau, jede Rundung, Vertiefung, Kurve. Ich sah mich diese Formen auf Stein übertragen oder Ton, sah mich Bronze eingießen und sorgsam nacharbeiten, fühlte unter den Händen das kalte Metall, den rauhen Stein, sogar ihren warmen Körper und wußte doch, daß ich das Werk nie mehr verwirklichen würde. Ein masochistisches Spiel, künstlich hochgekochter Schmerz, um letztes Begehren auszubrennen. Nichts ist schlimmer, beschwor ich mich, als wenn man das eine Große, das Wichtigste, das man immerhin als solches hat begreifen dürfen, durch die eigenen unangemessenen Mittel in den Dreck zieht. Und Ramon, dieser nervöse, zarte Ehevollzieher, dem es das Wichtigste im Leben war, ein Kind zu zeugen, wie ging denn der mit seiner Unfähigkeit um, warum gelang es ihm nicht, einen Körper, der so offensichtlich zur Mutterschaft geschaffen war, zu schwängern? »Was macht ihr eigentlich gemeinsam im Bett?« fragte ich Augusta. Sie sah mich mit gerunzelter Stirn durch den Spiegel hindurch an: »Exakt das, was nötig ist, um ein Kind zu zeugen. Die Details sind unwichtig.«

Ob sie das wirklich glaubte, daß die Art und Weise des Beischlafes nichts mit dem Erfolg oder Mißlingen der Zeugung zu tun hat? Über nahezu alles kann ich mit Augusta reden, und dann wieder muß ich erkennen, daß wir vor lauter eilfertiger Eloquenz vergessen haben, die gegenseitige Sprache zu erlernen.

Zwanzig Minuten. Sie müßte jetzt schon in der U-Bahn sitzen. Ich könnte ihr entgegenlaufen, wenn nicht dieser idiotische Serafino Baker sich angesagt hätte. Nein, er ist nicht idiotisch, er ist gutwillig und sogar mächtig. Und er wird mir zum Ruhm verhelfen. Nicht auf dem Gebiet, wo ich den Ruhm gern gehabt hätte. Ach was, Ruhm. Wenn ich überzeugt gewesen wäre von meiner Leistung als Bildhauerin, hätte ich mir nicht weiter Gedanken um den Ruhm zu machen brauchen, das wäre zweitrangig gewesen. Jetzt aber, mit dieser windigen Balance zwischen Anspruch und Gewerbe, wobei dann doch, das weiß aber nur ich selber, nie mehr als bessere Schweizer Heimatkunst herauskommt (nennen wir es, Serafino zuliebe, Wiener Heimatkunst), jetzt also muß ich mich im Ruhm festbeißen, muß ihn mir schnappen, mitsamt Serafino, und nicht wieder loslassen. Zuerst hatte ich ja gehofft, Serafino wäre schwul. Dieser Riesenkörper auf zarten Schleichsohlen, dieses feuchte Lächeln unter der Schnurrbartbürste, dazu die kurzgeschorenen Haare und die feinen Halstücher. Ich versteh’ mich gut mit Schwulen und die sich mit mir, wir nützen uns gegenseitig. Doch dann mußte ich ziemlich bald begreifen, daß ich mich diesmal nicht auf den Schutz der im Vorweg geklärten Verhältnisse verlassen konnte. Nicht, daß ich gegen eine vernünftige ruhige Affäre wäre, bestimmt nicht. Es ist jetzt fünf Jahre her, daß Wolodja zurückgegangen ist nach Polen, eine lange Zeit, und wenn man schon fast vierzig ist, stehen die Männer nicht mehr Schlange. Aber Serafino war mir doch lieber gay als straight. Zuviel hängt von dieser Verbindung ab, ich kann es mir nicht leisten, mich durch eine Bettgeschichte zu verwirren und aus der Kontrolle zu verlieren. Außerdem ist mir sein Körper nicht angenehm, keine guten Proportionen, der Rücken ohne Stabilität und zu fleischig, die Arme schlenkern, sie erinnern mich an einen Affen, wohl, weil er die Fingerspitzen immer nach innen hochzieht. Er war zweimal verheiratet, niemand weiß, wo die beiden Frauen abgeblieben sind. Serys Kurzhaar ist grau und der Bart rötlich, das macht ihn auch nicht attraktiver. Er trägt eine eckige Brille. Die Schneidezähne sind spitz, so, als hätte er sie sich schleifen lassen. Das soll ja vorkommen: Exzentriker, die sich einen Vampirlook geben. Aber dazu ist er wohl nicht verrückt genug. Jedenfalls gilt er als absolut kunstversessen und sehr geschmackssicher, obgleich er jetzt ausgerechnet auf meine Sachen hereingefallen ist. Vielleicht sind sie ja doch besser, als ich dachte. Wo bleibt nur Augusta, was war heute wieder los mit ihr? Ich könnte Mary aus dem Atelier rüberholen, die müßte Serafino eine Weile unterhalten. Aber seinen Ruhmbringer läßt man nicht warten, schiebt ihn nicht ab auf die Schneiderin. Das ist ein empfindlicher, eitler Mann. Woher weiß ich das eigentlich? Und, wieso bin ich mir so sicher, daß er nicht schwul ist?

Da haben wir’s, statt mich auf meine Arbeit zu konzentrieren, denke ich über die Person meines Galeristen nach. Vorsicht, er ist noch nicht mein Galerist. Das wird sich erst heute entscheiden. Drei Objekte sind fertig, dazu Vorarbeiten für weitere acht. Jetzt nenne ich es selbst schon »Objekte«, dabei, wenn man es ehrlich nimmt... Aber vermutlich macht es Sinn, sich auch vor sich selber etwas aufzuspielen. 581 3087 – hoffentlich hat sie die Klingeln nicht abgestellt. Wenn alle Telefone bei Augusta läuten, können sie einen Toten aufwecken. Sechs-, sieben-, achtmal, sie nimmt nicht ab. Entweder sie hat... oder... »Hallo, Manuel?« ... »Na und, es ist sowieso Zeit aufzustehen...« »Ich weiß, ich weiß...« »Verzeih. Wo ist Augusta?« ... »Kannst du nicht bitte mal nachschauen, Küche, Bad? Danke...« »Also dann wird sie wohl gleich hier sein. Manuel, was war heute morgen?« ... »Wirklich? Na gut. Wie läuft der Hamlet?« ... »Ihr werdet Theatergeschichte machen, da bin ich sicher. Hat’s lange nicht gegeben, einen Hamlet nur mit Männern. Außerdem bist du selbst wirklich gut. Ich war schon dreimal in der Vorführung, hab’ immer wichtige Leute mitgebracht, ehrlich. Manuel, war wirklich nichts mit Augusta heute morgen, hast du, oder habt ihr, ich mache mir Sorgen...« »Okay, bye bye, Manuel, paß auf dich auf.«

Das darf doch nicht wahr sein, daß mir die Hände zittern, nur weil Augusta zehn Minuten verspätet ist. »Mary, Mary, bitte komm rüber. Ich erwarte Serafino Baker. Im Eisschrank ist Champagner, frag ihn, ob er den will. Ich bin gleich wieder da.«

Irgend etwas muß mit mir nicht in Ordnung sein. Ich lass’ mich doch sonst nicht so gehen, ein paar Schluchzer am Telefon, Augusta gerät äußerlich oft aus der Fassung, meist hat das überhaupt nichts zu bedeuten. Ihr steht jede Form von emotionaler Geste zur Verfügung, und manchmal benutzt sie sie falsch. Und Manuel weiß schließlich Bescheid. Ich habe ihm alles genau erklärt, gegen Augustas Willen natürlich und in ihrer Abwesenheit. Er hat mich groß angesehen, fand es ungemein spannend und hat versprochen, auf Augusta aufzupassen. Er ist ja wirklich nicht der Schlechteste, ein begabtes, fröhliches Kind. Warum, zum Teufel, ist es ihm nicht gelungen, ihr diese Obsession mit dem eigenen Baby zu nehmen? Er ist ein Jahr jünger als Carlos.

Zwischen hier und Sloane Square Station liegt vor allem der Supermarket von Safeways. Die andern Läden kann man vergessen. Wenn Safeways nur nicht so weitläufig wäre, da wird es ihr allzu leicht, sich zwischen den Regalen zu verstecken, das heißt, wenn sie überhaupt bis hierher gekommen ist. Auf ihrer Seite von der U-Bahn gibt es nur Mister Pitt und vor allem natürlich die Harrods Food Stalls.

So geht es nicht. Ich darf mich nicht verrückt machen lassen. Ich krampfe mich zusammen, ich kriege keine Luft mehr, und der Magen brennt. Aus lauter Angst, daß sie sich überfrißt, tut mir der Magen weh. Vielleicht bin ich tatsächlich krank. Ich setze mich jetzt hin und hole tief Luft, und dann werde ich langsam nach Hause zurückgehen. Wie viele Male bin ich schon an dieser Bank vorbeigekommen, und nie hab’ ich mich hingesetzt. Dies ist die Bank für die Kettenkinder, für die Punks mit dem bitteren Gegröle und den Nägeln in den Nasenflügeln. Bislang habe ich immer ihr Terrain respektiert, wohl in der Hoffnung, daß sie dann auch mich in Ruhe lassen. Heute ist es mir gleichgültig, ich muß ausruhen und zu mir kommen. Da sitze ich mitten unter den Kettenkindern und zittere vor Angst, nicht vor diesen dreckigen Händen und grinsenden Mündern, vor diesen tätowierten Armmuskeln, auf denen sie die Puppen tanzen lassen, Angst um Augusta, Angst um den einzigen Menschen, den ich wirklich liebe.

Merkwürdig, die Kinder haben Abstand genommen, sind weggerückt und starren und feixen jetzt nur noch von ferne. Vielleicht meinen sie, daß ich ansteckend wäre. Sie stehen zwischen mir und der Fahrbahn, versperren mir die Sicht. Das geht nicht. Wenn Augusta jetzt vorbeikommen sollte, kann ich sie nicht sehen. Mein Gott, das ist eine echte Kolik. Was habe ich denn gegessen? Wolodja habe ich damals gesagt, du bist verrückt mit deinem Patriotismus, man kann sich doch arrangieren, man opfert sich nicht mehr auf, schon gar nicht für ein fiktives Vaterland. Das ist das reinste Schmierendrama, und auch, wenn du dabei draufgehst, wirst du immer nur ein Schmierenheld gewesen sein. Ob er wohl wirklich draufgegangen ist, die nackte Brust dem Klassenfeind zugewandt, hier stehe ich, ich kann nicht anders? Wladimir und der Klassenfeind, den konnte er beliebig umherschieben, mal rechts von ihm, mal links, wie es ihm gerade in den Kram paßte. Er trug mit Vorliebe große Hüte. Einen davon hat er bei mir vergessen, der liegt ganz hinten auf dem Spiegelschrank im Atelier. Ich konnte mich nicht entschließen, ihn wegzuwerfen. Wolodja, vielen Dank. Ich weiß nicht, warum du mir gerade jetzt zu Hilfe gekommen bist. Mir geht’s wieder besser, ich kann atmen, das Herz hat sich beruhigt, und die Punks beginnen auch bereits den Respekt zu verlieren. Vermutlich bin ich doch nicht krank, nur etwas nervös. Was war gestern abend? Ja so, zuviel Whisky, zu lange über den Entwürfen gebrütet. Auch wenn’s bloß Gewerbe ist, man muß um jeden Einfall kämpfen. Na gut, Kinder, hier habt ihr jeder fünfzig Pence, kauft euch noch ein paar mehr Sklavenketten, ich werde euch jetzt verlassen. Das Leben geht weiter, wißt ihr, und im Gegensatz zu euch beziehe ich keine staatliche Unterstützung.

Also gut, ich geb’s ja zu: Ich für meinen Teil kann es gar nicht so verzweiflungsvoll finden, daß sich Augustas Muttersehnsüchte bislang noch nicht erfüllt haben. Ein Kind würde sie von mir entfernen, würde sie unerreichbar machen. Augustas Liebesmöglichkeiten sind begrenzt. Die leichteste Liebe ist die Eigenliebe, und für Augusta wäre ein Kind vor allem eine Erweiterung und Bestätigung ihrer selbst. Momentan benutzt sie mich als Ersatz, sie liebt mich als Teil ihrer eigenen Person. Aber selbstverständlich würde ich keine Chance haben gegen etwas, das tatsächlich ihr Eigenes ist. Solange ich sie halten kann, ist sie in Sicherheit. Und Gott sei Dank liegt es ja nicht an mir, ob sie schwanger wird oder nicht. Tatsächlich kann ich mir nicht den geringsten Vorwurf machen. Ich habe sogar einen neuen Ehemann für sie gefunden, jung, schön, gesund, ein Bild von einem kräftigen, zeugungsfähigen Körper. Ist es etwa meine Schuld, daß er es scheinbar bequemer findet, sich, anstatt ihr ein Kind zu zeugen, selber als ein solches zu gebärden?

Kitty und Augusta

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