Читать книгу Kitty und Augusta - Helga Hegewisch - Страница 12

SERAFINO BERÜHRT
EINEN ENTBLÖSSTEN NACKEN

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Als Serafino am späten Nachmittag Kittys Haus verläßt, muß er feststellen, daß die Polizei inzwischen seinen Wagen blockiert hat. Das ist Serafino noch nie passiert. Mit offenem Mund bleibt er mitten auf der schmalen Straße stehen und starrt sein aufs brutalste behindertes Edelfahrzeug an. Über zwei Reifen sitzen, wie übergroße, böse Insekten, gelb gestrichene Eisenkrallen; die Windschutzscheibe ist beklebt mit weißen Zetteln, einer warnt vor etwaiger Kraftanwendung und dem illegalen Versuch, den Wagen in diesem Zustand zu bewegen, ein weiterer gibt detaillierte Handlungs-, vor allem Zahlungsanweisungen für die nächsten Stunden. An der Rückscheibe jedoch macht eine weitere große Schwarz-auf-weiß-Mitteilung neuen Mut: »Don’t panic«, steht dort, »we are here for you.« Wieso denn das? Ein Club zur Hilfeleistung in der Not empfiehlt sich, eine Organisation, die einem gegen die geringfügige Jahresgebühr von 20 Pfund die anmaßende Polizeiautorität vom Halse halten und den Wagen wieder flottmachen will. Blockierer und Entblockierer Arm in Arm, vielleicht sogar auf dem gleichen Polizeiwagen? Die einen verdienen an der künstlichen Behinderung, die andern am Wiederflottmachen, die einen am Bremsen, die andern am Schieben, and I’m the pig in the middle.

Normalerweise würde Serafino jetzt erbleichen, sein Herz würde wütige Krampfbewegungen ausführen, und dunkelste Gedanken über die Sinnlosigkeit menschlichen Daseins in einer anonym verwalteten Gesellschaft würden ihm den Kopf vernebeln. Doch für heute hat er seinen Herzanfall bereits gehabt, also entschließt er sich zu einem Lächeln. Er wirft seinen Autoschlüssel mitsamt dem trostreichen »Don’t panic«-Zettel durch Kittys Briefkastenschlitz und begibt sich zu Fuß hinüber zur King’s Road, wo er den Neunzehner besteigt, in Richtung Piccadilly Circus.

Serafino ist kein Busfahrer. Er empfindet sich als zu groß, zu schwer und zu unangepaßt für die öffentlichen Verkehrsmittel, er weiß auch nicht, wie er die Sache mit der Bezahlung arrangieren soll. Und vor allem fürchtet er sich vor der Berührung mit ungewaschenen Kleidungsstücken oder gar mit ebensolcher Haut. Serafino empfindet eine tiefe Leidenschaft für gemalte Haut – diese darf sogar gelegentlich, etwa wie bei Murillo, ein wenig unsauber sein –, doch der Anblick realer, fremder Nacktheit, und sei es nur der eines entblößten Armes, läßt ihn normalerweise schaudern und zwingt ihn in die verwirrendsten Reaktionen. Serafino hält dem dunkelhäutigen Kontrolleur eine Handvoll Münzen entgegen und murmelt, der Einfachheit halber, Endstation. Der Kontrolleur bedient sich, und anschließend tut Serafino etwas, das er nie für möglich gehalten hätte: Er zwängt seinen Körper die schmale Treppe hinauf in das Oberdeck des Busses, wo er sich, die Fahrkarte in der Hand, seufzend niederläßt. Hier thront er nun, auf abgescheuertem, fleckigem Plüschpolster, fernab von Mercedes, Galerie und blaugoldenem Klimt-Kitty-Seidenchiffon, dafür hoch über dem allgemeinen Straßenniveau der Stadt London, von der Serafino für sich beschlossen hat, daß sie, außer dem Wien der Jahrhundertwende, der einzige lebbare Ort dieser Welt sei.

Langsam gleitet Serafino in Beletage-Höhe die King’s Road entlang und schaut hinunter. Plötzlich fallen ihm die Geschichten aus dem Jenseits ein, jene Berichte der ehemals klinisch Toten, die man wieder ins Leben zurückgezwungen hat und die erstaunlich übereinstimmend behaupten, während ihres Totseins ein paar Meter über der Erde einhergeschwebt zu sein, um von dort aus mit Verblüffung und oft mit heiterer Ironie, auf jeden Fall jedoch schmerz- und schwerelos das Erdgeschehen unter sich betrachen zu können. Serafino sammelt und memoriert diese Berichte – safe it for a rainy day –, weil sie ihm, weit über die Möglichkeiten seines sehr morschen Christentums hinaus, zu etwas mehr Jenseits-Optimismus verhelfen. Seine angeborene Ängstlichkeit und Depressivität hat er zu akzeptieren gelernt und kämpft nicht mehr dagegen an, er bemüht sich jedoch, beides aufzufangen in einer letztendlichen Heiterkeitsvision. Und nicht nur heiter, sogar sinnlich soll es sein, wenigstens im Jenseits. Denn der Sinnenrausch im Diesseits, das höchstpersönliche Abheben und Davonfliegen – auch Serafino hat seinen Freud gelesen –, ist ihm nie passiert. Wohl hat er sehr deutlich das Erleben anderer, vor allem das des Potenzgenies und Fleischanbeters Klimt, nachempfunden, sich der Sinnenlust selbst zu stellen, original, direkt und unausweichlich, hat er nie gewagt. Eigene sexuelle Aktivitäten, denen er sich pflichtbewußt unterzogen hat, geschahen ausschließlich in pragmatischer Absicht und während der ersten Wochen seiner Ehe mit Charlotte, aus dem glühenden Wunsch heraus, ein Kind zu zeugen.

Serafino hat vieles in seinem Leben erreicht, er besitzt neben all dem andern, was hier nicht aufgezählt werden soll, zwei Bilder von Klimt, dazu zweiundfünfzig Zeichnungen, neununddreißig rein erotischen Inhalts, um die ihn Sammler aus der ganzen Welt beneiden; und er besitzt als einziger die vollständige Reihe der Gründerausgabe von »Ver Sacrum«, um die ihn niemand beneiden kann, weil niemand davon Kenntnis hat. Serafinos »Ver Sacrum« ist sein ureigener, heiliger, ewiger Frühling, den er bislang mit niemandem hat teilen wollen.

Was Serafino jedoch nicht erreicht hat und was ihn mit immer dringlicherer Sehnsucht erfüllt, ist die Vaterschaft. Für das Erlangen dieses Status würde er seinen »Heiligen Frühling« hergeben und sogar die Hälfte seiner Klimt-Zeichnungen. Doch hat sich ihm seit Charlotte nie wieder ein passendes Gefäß geboten, das als Träger eines von ihm inszenierten Meisterwerkes seinem Perfektionsanspruch standhalten konnte. Nie wieder bis zum heutigen Tag.

Serafino im Oberdeck, heiter, sinnlich, abgehoben, zum ersten Mal ohne ängstliche Abwehr in Gedanken an reales Fleisch, hoch schwebend zwischen Leben und Tod, wobei ihm sogar der peinvolle Übergang, das eigentliche Sterben, nicht in Panik versetzt, denn so, wie Klimt einst bei seinem finalen Herzanfall nach Emilie rief, in deren zuverlässigen Armen er dann auch starb, so wird Serafino sich jetzt an Augusta halten dürfen, an ein Sterbekissen in Form einer Frauenbrust, die ihm die wunderbarste Synthese zwischen Mutter und Weib, zwischen Vorgefühltem und Nachempfundenem zu sein scheint.

Der schwere Mann im Neunzehner lehnt sich zurück und denkt an die Figurenbilder seines Maleridols, denen er den höchsten Kunstgenuß und dadurch auch das vollkommenste Glück seines Lebens verdankt, und er bemerkt mit Erstaunen, daß dieses Höchste und Vollkommenste heute noch eine Steigerung erfahren durfte. Serafino läuft es heiß den Rücken herunter, und er preßt die Hände auf sein Herz, um das erregte Klopfen zu dämpfen. Doch mit der neuen Nähe überkommt ihn auch wieder mit bekannter Wucht die zweite Sehnsucht seines Lebens. Es ist die Sehnsucht nach den verlorenen Bildern, nach den verbrannten Schätzen von Schloß Immendorf. Serafino kann nicht verhindern, daß sich ihm seine beiden Lieblingsbilder in die Imagination drängen, »Leda« und »Die Freundinnen«, und es würgt ihn in der Kehle. Zerstört, zu Asche geworden, nie wiederzubringen. Wie oft schon hat Serafino die kärglichen Abbildungen betrachtet – von der Leda gibt es nicht einmal eine farbige Wiedergabe –, und eine ohnmächtige, verzweifelte Wut hat ihn befallen, ein Schmerz, der nie zu lindern sein wird, eine andauernde, ewige Enttäuschung, die sein gesamtes Lebensgefühl verdorben hat, etwa wie der immer wiederkehrende Geschmack von Fäulnis beim Genuß einer Lieblingsspeise.

Wirklich so ganz und gar verloren? Natürlich, die Leinwand ist verbrannt. Aber die Idee, ohne die schließlich kein Kunstwerk existieren kann, der geistige Inhalt, das Konzept, die Intention oder wie man es nennen will, das alles kann doch nicht vergehen? Kann nicht, darf nicht, wird nicht vergehen! weiß Serafino plötzlich, und wenn jetzt vor ihm sein Schreibtisch stehen würde, dann würde er zur Bekräftigung mit der Faust draufschlagen. Klimt war ein großer Voyeur, genauso wie Serafino, und seine Bilder sind alle aus sehr realem Anlaß entstanden. Wie nun, wenn sich Serafino sein Wissen um des Malers Intentionen (durch lange Liebe erlernt und heute durch ganz neue Erfahrungen bereichert) zunutze machen und das vom Maler auf die Leinwand Transponierte wieder in die Realität zurückführen könnte?

Serafino hat einen ach so glücklichen Tag, und selbstverständlich hat er Angst vor dem Glück. Er weiß nicht, wie man damit umgeht. So bleibt er vorerst ganz einfach still sitzen, schaut hinunter auf das Erdenleben, schmerz- und schwerelos und mit einem großen Schuß Ironie. Es ist Juni, und viele Frauen haben ihre Jacken ausgezogen. Keine Jacken aus Brokat und mit Seidenapplikationen, auch schimmert die freigelegte Haut eher fleckigfade, keineswegs wie von Klimt gemalt (wenn überhaupt, dann eher von Schiele, dessen Bilder Serafino bei aller Expertenbewunderung bislang stets mit Erschrecken, gar mit Abscheu erfüllt haben), und doch überrascht sich Serafino plötzlich mit dem Wunsch, diesem Mädchen dort unten – etwas dicklich, schwarzhaarig und mit geblümtem Kleid – die Hand auf den entblößten Nacken zu legen.

Wenn sich Serafino nicht beizeiten dazu trainiert hätte, eigene wie fremde Wünsche nur in äußerst sachlicher Auswahl zu erfüllen, wäre er längst tot. So versucht er auch jetzt, den gewohnten Riegel vorzuschieben und umgehend vom Wunschobjekt wegauf vernünftigeres hinzudenken. Er schließt die Augen, konzentriert sich, aber das Vernünftige ist heute seltsam fern, immer noch schwebt Serafino irgendwie postmortal, und er begreift, was er jedoch schon immer gewußt hat, nämlich, daß im Jenseits mit Logik keine Geschäfte mehr zu machen sind. Leg die Hand auf ihren Nacken, sagt er sich, beweise ein einziges Mal den Mut der Berührung, und alles wird sich verändern. Aber ich will doch gar nicht, daß sich alles verändert, antwortet er sich trotzig und muß gleichzeitig lächeln über dieses sinnlose Aufbegehren.

Er seufzt tief, steht auf und windet sich die Treppe hinunter. Soll ich wirklich diesem freundlichen Zustand ein Ende bereiten, indem ich mich zu einer Peinlichkeit zwinge? Nein, du sollst ihn dir dadurch erhalten. Serafino schaut auf die Straße in der stillen Hoffnung, daß das Mädchen inzwischen in der Menschenmenge verschwunden sein möge. Der Bus befindet sich jetzt am Piccadilly, kurz vor der Royal Academy, der Verkehr ist dicht, und so ist Serafinos Neunzehner dem geblümten Mädchen mit dem bloßen Nacken nicht davongefahren. Ahnungslos wandert sie neben dem Bus einher, weder Serafinos Blick noch seine Gedanken können durch ihre stoische Ruhe hindurchdringen. Sie wirkt, als habe sie sich zuvor energiesparend auf ein Ziel programmiert, so daß sie jetzt konfliktlos über das Pflaster schreiten kann, bis sie sich, nach Erreichung dieses Ziels, neu einstellen wird.

Mein Gott, denkt Serafino, ganz sicher ist der Nacken schweißfeucht, und für ein gutes Parfum fehlt ihr natürlich das Geld. Der Bus hält. Serafino schiebt sich an dem Kontrolleur vorbei zum Ausgang. »Nicht Endstation?« fragt der Kontrolleur. Serafino zwinkert ihm zu – auch diese mimische Ausdrucksweise, etwas verrutscht, ist eine absolute Novität in seinem Leben – und deutet auf den Nacken des Mädchens, das nun ganz in der Nähe ist. Der Kontrolleur grinst. Dann steht Serafino auf der Straße, der Bus fährt an, und der Kontrolleur hebt die Hand zum letzten Gruß. Serafino kontrolliert seinen Zustand. Alles, was jetzt geschieht, muß er in vollem down-to-earth-Bewußtsein erleben, wenn auch, Gott sei Dank, noch immer in gehobener Stimmung. Das Mädchen geht vor ihm her, biegt ein in die Burlington Arcade. Serafino streitet nicht mehr mit sich selber, er hat seine Aufgabe erkannt und akzeptiert, logisch oder nicht, er wird sie irgendwie erledigen. Stärkend und anfeuernd, fühlt er die Gegenwart von Augusta und Kitty, beide gleich in mehrfacher Variation, Augusta als Emilie, Wasserschlange, Leda, Danae, Hoffnung I und Hoffnung II und Kitty in doppelter Judith-Gestalt, als Athena, Hygieia, Adele Bloch-Bauer und Margaret Storeborough-Wittgenstein. Und direkt vor ihm, durchsichtig, aber doch unabdingbar präsent, gleiten die beiden Damen eng umschlungen, »Die Freundinnen«, Kitty in glühendem Gelbrot und Augusta, bis auf den Schal um den Hals, absolut nackt.

Als ob dies nicht bereits übergenug der gleichzeitigen Eindrücke wäre, sieht sich Serafino auch noch bestürmt von seiner Umgebung, dieser so oft durchschrittenen Stätte des banalen Kommerzes, der Burlington Arcade. Wieso hat er vorher nie hingeschaut, hat diese provozierende Intimität eines Innenweges nicht an sich selbst gefühlt, diese pseudo-südländische Gassenimitation unter grünlich gefiltertem Aquariumlicht? Serafino geht in normalem Alltagstempo, seinen Schritt angepaßt an den des Mädchens vor ihm, doch gleichzeitig bewegt er sich stark verlangsamt, wie unter Wasser, so daß ihm reichlich Gelegenheit bleibt, alles um sich herum aufzunehmen, die traulichen Giebelfenster, das Glasdach, die geschnitzten Holzbalken und üppigen Kunstblumenarrangements über sich, den Schwarm der köstlichen Klimt-Weiber um sich herum und vor sich das dunkelhaarige Mädchen im Sommerkleid, dem er die Hand auf den bloßen Nacken legen wird. Ohne eigentlich hinsehen zu müssen, erkennt Serafino im Vorbeischwimmen die Cashmere- und Schmuckläden links und rechts und das lockende Etablissement des Parfumeurs Penhaligon, ach, Serafino würde die Haut des Mädchens gern in Duftstoffen baden, würde sie mit Cashmere und Schmuck behängen, bevor er die Hand an sie legen muß, zu spät, zu spät, Serafino, entledige dich umgehend deiner Aufgabe, bring ein Opfer deiner neuen Liebe, diesem engumschlungenen Freundinnenpaar, das so verheißungsvoll vor dir herschwebt und sogar den eher dumpfen Vorwärtsgang des Blumenkleidmädchens verschönt.

Da endlich kommt Serafino die rettende Idee, und ohne noch weiter nachzudenken, macht er sich an die Ausführung. Er springt ein paar Schritt vor, stellt sich dem Mädchen in den Weg und sagt in seinem allerschönsten Wienerisch: »Grüß Gott, scheenes Freilein, dirft i Sie um einen G’fallen bitten?« Das scheene Freilein steht wie angenagelt und starrt Serafino an. (verzeiht mir, Kitty-Augusta, daß ich ausgerechnet diese fade Bürgerin zum Testcase für euch mache!). Serafino geht über auf gebrochenes Englisch und erklärt, daß er dort in dem Laden eine Kette für seine Frau – ja, er sagt »for my Frau Gemahlin« – kaufen wolle und ob die junge Dame nicht vielleicht so freundlich wäre, die Kette für ihn anzulegen, Serafino habe sowenig Phantasie, und das scheene Freilein sehe genauso aus wie seine liebe Frau back home in Vienna. Das Mädchen, ohne sein Gesicht zu verziehen, schüttelt langsam den Kopf. O Gustav, hilf, betet Serafino, laß mich diese dumpfen Augen zum Leben erwecken! Er konzentriert sich mit aller Kraft, spürt nahezu hypnotische Ströme in sich aufsteigen und schießt sie auf das ahnungslose Mädchen ab. Dieses öffnet den Mund, als wolle es etwas sagen, dann jedoch zuckt es nur resigniert die Schultern und schiebt vor Serafino her in den angegebenen Laden. Die Besitzerin, in der ganzen Arcade bekannt als Personifizierung mangelnden Charmes, hat Serafino schon ungezählte Male vorbeigehen sehen, ohne daß er je ihre Tür geöffnet hätte. Jetzt wird sie es ihm nicht leichtmachen. Serafino deutet auf einen Halsschmuck im Schaufenster.

»Bevor ich den rausnehme«, sagt die Frau, »sagen Sie mir, wieviel Sie wirklich ausgeben wollen.«

»Ich will diese Kette.«

»Sie ist teuer.«

»Ich will diese Kette.«

»Georgian paste, alles original, Glas auf Silber, 950 Pfund.«

»Ich will diese Kette«, sagt Serafino und vergißt vor lauter Widerwillen gegen diese Person und Eifer des Habenwollens fast seinen wienerischen Akzent.

»Na dann«, sagt die Frau, öffnet umständlich die Fenstervitrine und angelt nach dem Schmuck. Serafino entreißt ihn ihr und legt ihn aufseufzend dem Mädchen um den Hals. Die Haut ist tatsächlich ein wenig feucht, auch nicht ganz sauber, aber Serafino ist so erleichtert, daß er die Hand sekundenlang auf der geschlossenen Halskette ruhen läßt. Die Frau starrt mürrisch. Das Mädchen jedoch scheint plötzlich zum Leben erweckt zu sein. Es verlangt nach einem Spiegel, reckt den Hals, dreht ihn hin und her.

»Zu teuer«, sagt sie dann.

»1810«, sagt die Frau, »perfekte Erhaltung. Sehr selten geworden. Sie brauchen’s ja nicht zu nehmen. Ich behalte es gerne.«

»Das ist doch bloß Silber«, sagt das Mädchen.

»Keiner zwingt Sie zum Kaufen.«

»Und die Steine sind nicht echt«, sagt das Mädchen.

»Haben Sie je echten paste gesehen?«

Das Mädchen dreht sich zu Serafino um und lächelt. »Nicht mal echt und dann soviel Geld. Wollen wir nicht doch lieber etwas Echtes suchen?«

Serafino schaut das Mädchen an. Er ist überwältigt von der Veränderung, die er in diesem Gesicht bewirkt hat. Das ist es, denkt er, was ein Künstler tut, er nimmt ein dumpfes, stumpfes Objekt, ein Stück Ton oder auch solch ein gesichtsloses Weibsbild, und er bringt Leben hinein und sogar Charakter und Würde und Schönheit!

»Die Echtheit«, sagt Serafino und vergißt nun vollends, daß er des Englischen nicht ganz mächtig ist, »liegt immer im Auge des Beschauers.«

»Ein echtes Stück aus 18 Karat Gold mit einem richtigen Brillanten!« träumt das Mädchen.

Serafino öffnet den Verschluß, wobei er noch einmal still seine Hand auf der bloßen Haut ruhen läßt. »Nein«, verkündigt er, »meine Frau und ich, wir lieben das Unechte, das durch unseren Zugriff echt wird.«

Das Mädchen schüttelt verwundert den Kopf. »Na gut, dann müssen wir wenigstens handeln.«

»Mit mir nicht«, sagt die Frau und greift nach der Kette.

»850«, sagt das Mädchen und macht sich bereit zum Kampf.

»950 oder gar nicht.«

»Dann eben gar nicht!«

Aber Serafino hat schon sein Scheckbuch gezogen. Das Mädchen kann es nicht glauben.

Draußen vor dem Laden sagt sie mit einem romantischen Traumlächeln: »Sie müssen Ihre Frau schon sehr lieben, wenn Sie sich ihr zuliebe so übers Ohr hauen lassen.«

Serafino schweigt. Gedankenverloren, das Paket mit der Kette in der Hand, geht er neben dem Mädchen her. Am Ende der Arcade trennen sich ihre Wege. Das Mädchen muß rechts abbiegen, Serafinos Galerie liegt geradeaus am Ende der Cork Street. Noch einmal schaut er ihr ins Gesicht. Der Glanz ist bereits im Vergehen, die alte Dumpfheit holt sich ihr Terrain zurück. Es braucht doch mehr als ein einmaliges Handauflegen, denkt Serafino.

Ob er ihre Adresse haben wolle? fragt das Mädchen mit der letzten Kraft des vergehenden Glanzes.

»Ich bitte darum«, sagt Serafino formell.

Sie holt aus ihrem Täschchen eine Rolle mit kleinen selbstklebenden Etiketten, auf denen Adresse und Name gedruckt stehen. Das Mädchen heißt Rosy, und sie wohnt in Hackney.

»Ich arbeite bei John Lewis«, sagt sie noch, »heute ist mein Haushaltstag.«

Sie beobachtet gespannt, wie Serafino das Etikett sorgsam in sein Adreßbuch klebt. Dann nickt sie ihm noch einmal zu und geht bedächtig ihrer Wege.

Serafino schaut ihr nach, beseelt von der unsinnigen Hoffnung, daß sich ihr Gang und ihre Haltung dauerhaft verändert haben könnten, daß die stolze kleine Kopfbewegung, die das Mädchen, die Kette um den Hals, vor dem Spiegel ausgeführt hat, von nun an typisch für sie werden und ihr ganzes Leben beeinflussen möge. So, wie die Bewegung von Serafinos Hand, das Berühren eines bloßen Nackens und das sekundenlange angstfreie Ruhen von eigener Haut auf fremder Haut Serafinos Leben verändern soll, jedenfalls ist es genau dies, was er sich heute vorgenommen hat.

Kitty und Augusta

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