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ZWISCHEN OPTIMISMUS UND
FRUSTRATION

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Am Ende eines jeden Jahres, am Silvesternachmittag, oder auch in den Mittagsstunden eines grauen Neujahrstages versucht Kitty der Gefahr der trägen, bleiernen Melancholie, die in diesem ewigen Neubeginn lauert, entgegenzuwirken, indem sie sich drei einfache Fragen stellt, die sie nach bestem Wissen und Gewissen beantwortet: Welches war während der vergangenen zwölf Monate dein schönstes Erlebnis, dein schlimmstes und dein wichtigstes? Die Antworten notiert sie auf der letzten Seite ihres Taschenkalenders, den sie danach sorgfältig verschließt. Am Ende des Jahres 1988 werden in Kittys alter Puppenkommode mit dem Vorhängeschloß fünfundzwanzig abgegriffene Taschenkalender beieinanderliegen. Als sie am vergangenen Neujahrstage ihre Eintragungen machte, hat sie sich die Zeit genommen, alle Kalender in chronologischer Reihenfolge vor sich aufzubauen und die jeweils letzte Seite zu lesen. Dabei stellte sich heraus, daß sich jedes Jahr mindestens eine Antwort auf Augusta bezogen hat. Kitty war sich natürlich ihrer Nähe zu der Freundin bewußt, aber diese gleichbleibende Priorität über die Jahre hin hat sie denn doch überrascht. Stand da unter »schlimm«: Mutters Tod, fand sich unter »wichtig«: Augusta zurück aus dem Sanatorium; hatte sie unter »schön«: Auftrag für kleinen Bronzetorso Sparkasse Regensburg notiert, war unter »schlimm« verzeichnet: Augusta Heirat Ramon; trauerte sie unter »schlimm« um die »endgültige Aufgabe meiner Bildhauerei«, hieß es unter »wichtig«: Augusta für vierzehn Tage in London, kann endlich wieder mit ihr reden.

Kittys bisheriges Leben ist keineswegs eintönig oder geradlinig verlaufen. Beruflich konnte sie schon sehr früh ungewöhnlichen Erfolg für sich verbuchen. Ihr Lehrer an der Hamburger Kunsthochschule Gustav Seitz meinte in ihr ein gewisses Talent entdeckt zu haben, das förderungswürdig sei. Er nahm sich ihrer an, ließ auch während ihrer wilden politischen Jahre den Kontakt zu ihr nicht einschlafen, vermittelte ihr danach erste öffentliche Aufträge und dazu einen regen jungen Galeristen, der, außer daß er sich in Kitty verliebte, dafür sorgte, daß sie ein paar gute kleine Einzelausstellungen bekam und auf nahezu allen repräsentativen Shows junger deutscher Skulptur im Ausland – so auch 1976 in London – vertreten war. Kitty saß Henry Moore zu Füßen – eine Haltung, die schon darum sinnvoll war, weil sie ihn um Haupteslänge überragte –, bewunderte rückhaltlos die herben, großen Köpfe von Barbara Hepworth und entwickelte – vielleicht, weil ihr der Umgang mit dem Material oft große physische Pein verursachte – eine leicht irritierte und ironische Neigung zu den Weichplastiken von Claes Oldenburg. Sie lernte die richtigen Menschen kennen, Galeristen, Sammler, Museumsleute, eine ihrer schweren Bronzefrauen gelangte in die Bremer Kunsthalle, eine andere gar in die Vorratsräume des Museum of Modern Art, sie befreundete sich mit dem witzigen Sir Roy Strong vom Victoria and Albert Museum und mit der tüchtigen Schweizer Auktionarsgattin Marlies Kornfeld, sie zog das Hamburger Grafikgenie Horst Janssen in ihren Bann, und es gelang ihr sogar, sich nicht von ihm verprügeln zu lassen: eine junge Künstlerin im Aufwind also. Bis sie eines Tages, neunundzwanzig Jahre alt, ohne für Außenstehende sichtbaren Anlaß, die Bildhauerei an den Nagel hängte, eine Weile überhaupt nichts mehr produzierte, sich dann mit wechselndem Erfolg und Einkommen dem freien, gehobenen Kunstgewerbe zuwandte.

Während ihrer frühen Jahre hatte sie sich in einem rasanten, von jugendlicher Kraft überschäumenden Run aus einem vollkommen unpolitischen Wesen zu einer Barrikadenemanze und Apo-Heroine entwickelt, war dabei bis nahe an den Untergrund vorgeprescht, wo sie, obgleich aufs äußerste gefährdet durch die große Schubkraft, länger als die meisten anderen Stürmer die Balance halten konnte, bis sie durch einen nur ihr selbst begreiflichen Stoß in die Normalität zurückbefördert wurde. Dies geschah in Paris, wo sie ihrem Lehrer Seitz zuliebe den Skulpturen von Rodin einen Pflichtbesuch abstattete. Hier, bei der konventionellen Betrachtung der Bronzen, die ihr natürlich seit Kunstschulzeiten von Abbildungen her bestens geläufig, jedoch noch nie handgreiflich nahe erschienen waren, überkam sie eine Art Erweckungserlebnis, das ihr einige nicht gerade beglückende Einsichten über sich selbst, das Leben und die Kunst eröffnete und gleichzeitig die Tür zur Politik abrupt hinter ihr zuknallte. Später sagte sie sich, daß sie ohnehin reif zur Umkehr gewesen sei und daß es dazu nicht eigentlich der gigantischen Ausmaße Rodinscher Dramatik bedurft hätte, auch eine stille Kniende von Lehmbruck oder ein sich sinnlich wälzender Maillol hätten, wären sie im rechten Augenblick vor ihren sehenden Augen erschienen, den Rettungsakt vollziehen können, wodurch das Ganze in ihrem Bewußtsein vielleicht weniger chirurgisch gewirkt hätte und für ihre fernere Karriere etwas glimpflicher abgelaufen wäre. Aber so, wie es nun einmal geschehen war, hatte der Zusammenprall mit der absoluten Größe ihr schwere Wunden geschlagen, deren Tiefe und Auswirkung sie erst viele Jahre später endgültig begreifen und akzeptieren sollte.

Im Alter zwischen fünfzehn und dreißig Jahren hat Kitty sich vielmals verliebt, hat mit den verschiedensten Männern kürzere oder längere Liaisons gehabt, ist verheiratet gewesen – zwei Jahre lang mit einem netten, romantischen Kommilitonen, der sich aufs Bombenbasteln verstand und inzwischen als Kunsterzieher im holsteinischen Heide sein geregeltes Auskommen findet –, hat später in England während der bitteren Zeit ihrer Kunstabkehr mit einem feinsinnigen, um fünfunddreißig Jahre älteren Kunsthistoriker namens William Rutland zusammengelebt, einem unbestechlichen Ästheten, berühmt und berüchtigt in seinem Fach, der die Tiefe seiner Liebe zu Kitty darin auslebte, daß er ihr die Shortcomings ihrer künstlerischen Talente genau analysierte und ihr die Ausweglosigkeit allen weiteren Bemühens ohne Rücksicht auf den Schmerz, den er sich selber damit angeblich zufügte, unausweichlich klarmachte. Die ständige Konfrontation mit dem eigenen Ungenügen und ihr Bedürfnis, sich dennoch der Zuneigung und Liebe dieses Mannes, den sie bewunderte und verehrte, würdig zu erweisen, hatten sie in eine fast selbstzerstörerische Abhängigkeit gebracht. Sie betete ihn an, sie tat alles für ihn und wußte doch, daß es nie genug sein würde. Als er sie eines Tages ohne jede Vorwarnung verließ, hielt sie dies vorübergehend für das Ende ihres Lebens. Dann jedoch erfuhr sie, daß der Grund seiner Abkehr ein anderer Mann gewesen sei, und plötzlich schien ihr das ganze Spiel, welches er jahrelang mit ihrer Minderwertigkeit getrieben hatte, banal, perfide und eher von Angst als von Überlegenheit. Sie befreite sich durch ein selbstironisches Gelächter, in dessen Verlauf es ihr sogar gelang, den großartig bösen William ein wenig zu bemitleiden.

Danach war dann Wladimir aufgetaucht, schön, eitel, witzig und unzuverlässig. Ein egozentrischer, verspielter Theatraliker, der sich in glühender Leidenschaft den Frauen zu Füßen warf und als Gegengabe nichts weiter von ihnen verlangte, als vom Augenblick ihrer ersten Vereinigung an ihr einziger Lebensinhalt zu sein. Kitty war sehr verblüfft gewesen über diesen Menschen mit dem Gehabe eines Renaissancefürsten und dem immer leeren Geldbeutel. Anfangs amüsierte er sie nur, doch schließlich ließ sie sich von ihm hinreißen in eine stürmische Verliebtheit, derentwegen sie ihr ganzes Leben wieder einmal umkrempelte. Sie begann zu kochen, sich um die Pflege ihres Haushaltes zu kümmern und bei anstehenden Entscheidungen immer wieder zu sagen: »Ich werd’s mit Wolodja besprechen.« Als Wolodja dann ging, stürzte Kitty sich in eine rauschhafte Verzweiflung, die zwar, wie sie später begriff, weit eher einem Bedürfnis nach Dramatik als echten Gefühlen entsprungen war, die sie jedoch in einen selbstzerstörischen Alkoholismus getrieben hatte, dem sie nur durch die kompromißlos sture Hilfe eines alten Freundes entkommen konnte.

Danach blieb sie allein, ein Zustand, dem sie seit frühem Backfischalter entwöhnt war. Zwar hatte sie nicht zu jeder Zeit mit einem Mann Tisch und Bett geteilt, doch war da immer ein männliches Objekt gewesen, auf das sie hingedacht und -gelebt hatte, für das, durch das und mit dem sie, wenn auch nicht ausschließlich existieren, so doch ihrer Existenz die sinnvolle Abrundung hatte geben können. Mit Wolodjas Abgang war dies nun vorerst passé. Kittys Bett blieb leer, ihr Portemonnaie wurde wieder voller, der Haushalt schlampiger, die Zeit besser einteilbar, die Arbeit konzentrierter, die Phantasie erregbarer und variabler. Zu ihrer eigenen Überraschung fühlte sie den Verlust des Gefährten nach der bösen Übergangszeit mehr körperlich als seelisch – Kitty verfügte über ein gesundes, unkompliziertes Sexualbedürfnis, das Wolodja mit nimmermüder Ausdauer und Witz befriedigt hatte –, und der Energieschub kraftvoll ausgelebter Sexualität fehlte ihr sehr. Andererseits war ihr Sex nur um des Sexes willen im Verhältnis mit dem damit verbundenen Zeit- und Emotionsbedarf schon immer zu aufwendig und risikoreich erschienen, also zog sie es vor, sich vorerst zu enthalten.

Während all dieser Entwicklungsjahre mit ihrem wechselnden Engagement war da immer die Beziehung zu Augusta gewesen, dominant, unveränderlich und nie in Frage gestellt. Vor diesem Hintergrund schien alles Geschehen an Tiefe und Schwere zu verlieren, wodurch es in schlechten Zeiten leichter erträglich, in guten Zeiten jedoch auch weniger beglückend wurde. Denn das, was stets im zweiten Rang steht, wird niemals die Himmel stürmen können. Augusta war wie ein bodenloses Gefäß, in das Kitty den Überschuß des eigenen Lebens und, je älter sie wurde, auch mehr und mehr von ihrem Leben selbst einfüllte. Augusta dankte ihr dies mit immer größerer Abhängigkeit, die beide Frauen für Liebe halten wollten. Augustas Versuche, die Verwirklichung ihrer Obsession in der offenbar gottgewollten Assistenz eines männlichen Counterparts zu finden, waren schmerzhaft fehlgeschlagen. An willigen Männern hatte es ihr nie gefehlt, die hatten sich von ihrer rückhaltlosen Hingabe betören und benebeln lassen, hatten nichts begriffen, versagt und waren wieder abgestoßen worden. Kitty jedoch war in ihrer Liebe klarsichtig geblieben, sie würde sich nicht abstoßen lassen, es sei denn aus eigenem Entschluß. Und bis dahin würde sie Augusta weiterhin in der wundersamen Balance halten zwischen optimistischem Vertrauen und tiefster Frustration.

Kitty wird’s schon machen, dachte Augusta zuversichtlich. Kitty wird’s niemals machen, wußte sie, denn nicht einmal die hingebungsvollste Frauenfreundschaft würde je die Grundsätze der Zeugungsbiologie aufheben können. Zur Zeit von Augustas Zusammenbruch in Wien hatte Kitty gerade die ersten sechs partnerlosen Monate mitsamt einer gefährlichen Begegnung mit dem Alkoholismus hinter sich gebracht, und sie hatte sich in hektische Arbeitsaktivität, die gelegentlich ersatzerotische Züge annahm, geflüchtet. Das Objekt ihrer neuen Liebe waren die Wiener Werkstätten gewesen, die sie zur Zeit ihres Studiums und auch noch danach, solange die hochfliegenden Ambitionen standhielten, mit mürrischer Nichtbeachtung abgetan hatte, sehr im Gegensatz zu Augusta, die sich schon früh durch die Geschäfte des Frankfurter Kunsthändlers Nebelschütz, der sich als Anlageberater der kunstsinnigen Reichen verdient machte, für die Wiener Jahrhundertwende interessieren mußte.

Nebelschütz, einem frischfröhlichen Schwaben mit vorstehenden Zähnen und Designerkrawatten, war es gelungen, Augustas Vater die »vortreffliche Handwerklichkeit« einiger Markart-Bilder und, von dort ausgehend, sogar schließlich des frühen Klimt nahezubringen. Die Bilder waren, obgleich damals noch nicht in Mode und nur von Kennern geschätzt, keineswegs billig, was Augustas Vater, der schon einige Jahre zuvor durch Nebelschütz’ Vermittlung mit einem teuren Dante Gabriel Rossetti einen ungewöhnlichen Kapitalzuwachs erzielt hatte, Vertrauen einflößte und zum Kauf veranlaßte. Gleichzeitig befahl er der Tochter, die gerade, weil dies ja neuerdings bei den jungen Damen so üblich zu sein schien, mit dem Kunstgeschichtsstudium begonnen hatte, sich nützlich zu machen und sich näher mit dem Investment zu befassen, was Augusta so eingehend betrieb, daß sie nach einem Übergangsaufenthalt bei den Präraffaeliten schließlich beschloß, ihre Magisterarbeit der Wiener Sezession zu widmen. Daß dies keineswegs dem Einfluß ihres Vaters, dem sie damals längst entwachsen war, sondern dem eines Schweizer Wirtschaftsmagnaten namens Friedrich Karl Wendehals zuzuschreiben war, erfuhr der Vater nie, und wenn es ihm tatsächlich hinterbracht worden wäre, so würde er es nicht geglaubt haben. Denn Dr. Wendehals war ein großer Mann und Augusta ein unnützes, dummes Ding, das, zumal sie zu gewissen Abartigkeiten neigte, von niemandem ernst genommen zu werden brauchte, schon gar nicht von einem Mann, dessen Vermögen das von Augustas Vater um ein Vielfaches überstieg.

Daß Augusta ausgerechnet in Wien zusammenbrach, nahm Kitty als einen Wink des Schicksals. Neun Monate lang lebten die beiden Freundinnen gemeinsam auf Ramons Kosten in der Pension Nossak am Graben. Augusta fand langsam zurück zu dem, was Kitty für sie als vernünftig und normal ansehen wollte, und Kitty fand für sich selbst ein neues Arbeitskonzept, was vor allem auf der Beschäftigung mit der »Gesamtkunst« (wie sehr sie diesen Begriff doch früher verachtet hatte!) basierte und auf der Ermutigung, daß der goldene Frühling Wiens – den man später auch melancholisch als Herbst bezeichnet hat – in der Kunst keinen graduellen Unterschied machen wollte zwischen »E- und U-Produktion«, weil man beschlossen hatte, daß aller Ernst auch unterhaltend sei und alle Unterhaltung, falls sie den von den Sezessionisten und Wiener Werkstättlern gesetzten hohen ästhetischen Ansprüchen genügen wollte, auch eine gehörige Portion Ernst in sich zu tragen hätte, ein Ernst, der auch gern als »heilig« apostrophiert wurde, Ver Sacrum, na, wenn’s denn so sein muß, von mir aus auch heilig, dachte sich Kitty. Jedenfalls hat Gustav Klimt nicht nur heilige Kunst in Form von Bildern und Zeichnungen produziert, sondern hat sich auch gelegentlich einen schicken Umschlag für die Modezeitschrift »Die Damenwelt« ausgedacht, hat eine Inneneinrichtung für den reichen Herrn Dumba geschaffen und sogar Kleider und das Firmenzeichen für den Modesalon der Schwestern Flöge entworfen; Otto Wagner war sich nicht zu gut dafür gewesen, seinen Architektenkopf für die Herstellung einer Dekoration aus Seidenapplikationsstickerei für das Sezessionsgebäude zu bemühen; Koloman Moser, dessen Bilder Kitty zu lieben begann, hatte sich damit amüsiert, aus Papierschnitzel Modebilder zusammenzukleben; und sogar Schiele, der Ernste, Gequälte, fand es scheinbar ganz in der Ordnung, daß die von ihm entworfenen Wiener Werkstätten-Postkarten als Träger banaler Mitteilungen und Grüße um die Welt geschickt werden sollten. Was aber nun den Großen recht war, dürfte auch mich nicht mehr in schuldgequälte Minderwertigkeit stürzen, dachte Kitty, und befreite sich nun endgültig von ihrem alten feinsinnigen Kunsthistorikerliebhaber, dessen Verdikt ihr trotz aller Einsicht in dessen tiefere Beweggründe doch noch sehr lange, sogar bis über Wladimir hinaus, schmerzlich in der Seele gesessen hatte.

Kitty und Augusta

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