Читать книгу Kitty und Augusta - Helga Hegewisch - Страница 14
DAS, WAS DU WILLST UND
BRAUCHST, AUGUSTA
ОглавлениеNachdem Serafino gegangen war, fiel Kitty in einen unruhigen Schlaf, aus dem sie erst Stunden später wieder aufwachte, keineswegs erfrischt, doch ohne Schmerzen. Sie beschloß, den Rest des Tages ruhig zu verbringen, das Telefon abzustellen, nachzudenken, vorzuplanen, kurz: sich zu bemühen, Geist, Herz und Seele gründlich aufzuräumen. Auf bloßen Füßen ging sie in die Küche, sich einen Tee zu machen. Beim Anblick der abgewaschenen Gläser und Tassen, die Serafino dort sorgfältig zum Abtropfen auf dem Trockenrost arrangiert hatte, überkam sie ein Gefühl der Unsicherheit, ein Fremdsein mit der neuen Situation und dadurch mit sich selbst. Kitty war noch nie in engere Berührung gekommen mit einem Mann, der Geschirr freiwillig in ein Trockenrost einsortierte.
Der Tee bestand aus Lindenblüte und Kamille, eine fade schmeckende Brühe, die Kitty nur trank, weil sie die Lehren ihrer Mutter, Medizin sei um so wirkungsvoller, je übler sie schmecke, frühzeitig verinnerlicht hatte und sich strikt daran hielt. Für heute, so beschloß Kitty, hatte sie genug Whiskywirkung in sich verspürt, sie würde sich an die Kräuterbrühe halten, ohne Zucker und Zitrone. Mit der Hand auf dem Abwaschbecken stand sie da und schlürfte das Gebräu in sich hinein, folgte in Gedanken seiner Hitze durch den Hals und die Speiseröhre, bis in den Magen hinunter, mißtrauisch hinfühlend, ob der Schmerz tatsächlich vergangen wäre. Er war es, Kitty seufzte erleichtert auf. Aber er wird wiederkommen, antwortete sie sich sogleich mit einer Sicherheit, die sie selber überraschte.
Kitty ließ die ausgetrunkene Tasse im Becken stehen und ging hinauf in ihr Schlafzimmer. Dort setzte sie sich mit angezogenen Beinen aufs Bett, kreuzte die Arme eng über die Waden und legte das Kinn auf die Knie. Während der letzten Wochen, vielleicht sogar Monate, war der Schmerz immer wiedergekommen, mal stärker, mal schwächer, sie hatte sich längst an seine konstante Nähe gewöhnt, ohne dies allerdings bislang in ihr Bewußtsein aufsteigen zu lassen.
Als sie jetzt so dahockte auf ihrem breiten Bett, die zusammengefalteten Glieder eng um den Magen mit dem heißen Tee gekrümmt, konnte sie der Einsicht nicht mehr entgehen: Es war etwas nicht in Ordnung mit ihr, sie war krank, und zwar im Magen. Einmal begonnen, wollte sie die Sache nun auch zu Ende denken. Was konnte es sein? Eine Reizung, eine Schleimhautentzündung, ein Geschwür, mehrere Geschwüre, Krebs? Viel Variationsbreite schien es da nicht zu geben. Kitty konnte sich kaum erinnern, wann sie zuletzt beim Arzt gewesen war, ganz sicher nicht während der vergangenen fünf Jahre und überhaupt noch nie bei einem Internisten. Natürlich, da war eine Abtreibung nötig gewesen, Wladimir zu verdanken oder, besser, der eigenen Schlampigkeit beim Einnehmen der Pille. Sie hatte es niemandem erzählt, schon gar nicht Wolodja, dessen Katholizismus manchmal in den unpassendsten Momenten zuschlug. Ein paar Tage nach dem Eingriff hatte sie sich wieder ziemlich normal gefühlt und sich bemüht, die ganze Angelegenheit möglichst schnell zu vergessen.
Kitty verfügte über eine Reihe medizinischer Freunde, die dafür sorgten, daß ihre Privatapotheke immer gut gefüllt war. Nicht jener Schrank im Badezimmer, in dem Serafino vorhin Whisky und Aspirin gefunden hatte, sondern die kleine Kinderkommode mit Vorhängeschloß. Ausreichend Chemie, um auch über schwierige Tage hinwegzukommen, genug zum Aufwachen, zum Einschlafen, zum Beschleunigen, zum Verlangsamen und selbstverständlich zum Abtöten jeder Art von Schmerz. Kitty war keineswegs ein obsessiver Pillenschlucker, doch brauchte sie dringend die Sicherheit, physisch autark zu sein, nie in Abhängigkeit von dem eigenen Körper und von dem momentanen guten Willen einer Hilfsperon geraten zu müssen. Bei ihren Arztfreunden hat Kitty festgestellt, daß es diesen weit angenehmer war, die Freundin, die sich zwar, was will man von Künstlern schon erwarten, gelegentlich emotional schwerem Streß auslieferte, die man ansonsten jedoch als vernünftig und nicht drogengefährdet ansah, mit Medikamenten und gelegentlichen allgemeinen Auskünften zu versorgen, als den unkomplizierten gesellschaftlichen Umgang etwa mit der Verpflichtung eines engagierten Arzt-Patient-Verhältnisses zu belasten.
Wie sollte sich Kitty jetzt verhalten? Wäre es sinnvoll, einen Arzt – und wenn, dann einen Freund oder einen Fremden? – zu konsultieren, sich dem medizinischen System auszusetzen, dem Apparat, der patronisierenden Besserwisserei? Fangen wir mal beim schlimmsten an: Krebs. Kitty hat noch nie von jemandem gehört, der vom Magenkrebs geheilt worden, statt dessen von manchem, der nach mehrfachen qualvollen Operationen dann doch gestorben ist. Also ganz sicher keine chirurgischen Eingriffe, was voraussetzt, daß man sich vorsichtshalber gar nicht erst in die Nähe eines professionellen Bauchaufschneiders begibt. Dieser Entschluß steht fest! Wieso sollte es eigentlich Krebs sein? Zugegeben, in Kittys engster Familie hatte es zwei Krebstode gegeben, der Vater und eine Tante mütterlicherseits, und ob die tödliche Leberzirrhose der Mutter tatsächlich vom übermäßigen Alkoholgenuß herstammte oder ob es nicht doch Krebs gewesen war, das hatte man nie überprüft, wozu auch. Doch Krebs ist schließlich nicht erblich, und dem Gesetz des Zufalls nach und auch wegen der ausgleichenden Gerechtigkeit waren jetzt erst einmal ein paar andere Familien dran, fand Kitty. Ohnehin ist ja angeblich alles psychosomatisch: Kriegt man’s erst mal mit der Angst zu tun, dann hat’s einen auch schon erwischt. Darum vergessen wir jetzt erst mal den Krebs, befiehlt sich Kitty, und konzentrieren wir uns lieber auf die anderen Möglichkeiten, viele kleine Geschwüre, ein einzelnes großes, eine Reizung. Da Kitty momentan keine Schmerzen hat, da sie den Tee warm in sich und die optimistische Perspektive einer großen Ausstellung vor sich fühlt, entschließt sie sich für das kleinste Übel, eine nervöse Reizung, die auf die hektische Arbeit und die Unsicherheit während der letzten Zeit zurückzuführen ist, auf ihr leidenschaftliches Engagement für etwas, in das sie nun seit vielen Monaten ihre gesamten Reserven an Phantasie, Energie und auch Geld investiert hatte, ohne bislang auch nur auf die geringste Hilfe einer Bestätigung von außen her zurückgreifen zu können.
Nun, diese Bestätigung war heute gekommen und damit das Ventil, durch das Kitty jetzt, kurz vor dem Explodieren, gezielt Druck ablassen konnte, lieber Magen, hast du das vernommen, die Botschaft allein sollte schon heilen und den krampfigen Brand da drinnen löschen. Ach, Augusta, meine Blutsschwester, ohne dein Emilien-Opfer wäre heute gar nichts passiert, zwar tut es mir leid, daß ich dich derart benutzt habe – und es wird mit diesem einen Auftritt auch keineswegs ein Ende haben –, doch hoffe ich sehr, daß auf Dauer auch du einen Gewinn daraus ziehen kannst, ich spiele dich gegen die Wand, Gusta, Liebste, ich verwandle dich in Wasserschlangen, in Ledas, Danaes und Evas, in Küssende und Geküßte und vielleicht, wenn Manuel endlich etwas besser funktionieren wollte, sogar in die verschiedenen Versionen der Klimtschen Hoffnung, die doch auch, das wissen wir ja beide nur allzu gut, die deine ist.
Kitty nimmt den Schlüssel zu ihrem Kommödchen vom Hals und schließt das obere Fach auf, greift nach dem Packen Taschenkalender, die dort in chronologischer Reihenfolge ruhen. Außer den Eintragungen von Verabredungen und Beantwortung der Jahresendfragen enthält jeder Kalender ein paar Fotos, meist zufällige Schnappschüsse, die Kitty aus irgendeinem Grunde beziehungsreich erschienen und die sie darum in die durchsichtige Plastiktasche an der Innenseite vor dem Adressenteil geschoben hatte. Fotos von ihr selbst in den verschiedensten Situationen, an die sie sich erinnern wollte, Fotos von ihren Männern und Freunden und natürlich immer wieder von Augusta. Kitty zieht all die Augusta-Bilder heraus und legt sie nebeneinander auf die Bettdecke, über vierzig Fotos, Augusta von dreizehn bis siebenunddreißig. Oft ist Kitty selber mit auf dem Foto, und bei der Betrachtung wundert sie sich wieder einmal darüber, wie sehr sie, Kitty, doch immer die gleiche bleibt, mager, schlaksig, die dunklen Haare eng am Kopf, während Augusta sich ununterbrochen verwandelt. Ein Fremder würde wohl kaum eine Personengleichheit vermuten zwischen der tiefdekolletierten Dreiundzwanzigjährigen im Arm eines schmuddelig wirkenden Jünglings und der fünfzehnjährigen »jungen Mutter«, die beseligt lächelnd den kleinen Carlos im Arm hält, zwischen der brav lächelnden Zwanzigjährigen mit kurzen Kringellöckchen und Strohhut, der strahlenden Schönheit auf einer Terrasse hoch über dem Mittelmeer und der uneleganten Matrone vor dem König-David-Hotel in Jerusalem, zwischen dem spruchbandschwingenden Jeansmädchen im zweiten Studienjahr und der gesetzten Frankfurter Dame von 1975. Kitty weiß genau, welches Foto ihr am liebsten ist. Sie hat es selbst aufgenommen, damals im Jahr 1968 im Pflegeheim Wiesenau, Augusta vor nacktem Hintergrund im bodenlangen Nachthemd, mit kurzgeschorenen Haaren und glattem, ausdruckslosem Gesicht, Augusta pur sozusagen. Welch ein phantastisches Grundmaterial, denkt Kitty beim Anblick des Fotos, alles kann man damit machen, kann es in jede Rolle und Situation kneten, es zu einem Kunstwerk hochstilisieren oder in der Banalität verkommen lassen. Und welch eine Verantwortung für die Blutsschwester, welch ein angstvoller Schrecken jedesmal, wenn sich das Material fremdem Formungswillen verfügbar macht, gezielt angesetzten Energien, denen man wegen ihrer Vielfalt gar nicht ausweichen kann und die von den alltäglichen Reizen wie Angst vorm Vater, pubertären Mutterschaftswünschen, politischen Moden bis hin zu der ehrgeizigen Versöhnungsabsicht einer arischjüdischen Wiedergutmachung reichen. Aber bislang ist es mir immer noch gelungen, denkt Kitty weiter, Augusta festzuhalten, sogar gegen Ramon und Carlos, sie auf die Dauer vor fremdem Zugriff zu schützen; der Grund dafür scheint zu sein, daß nur ich die ganze Formel ihrer chemischen Zusammensetzung kenne und darum als einzige die Reaktionen genau provozieren kann. Zugegeben, einige Male geschahen diese Reaktionen so sehr verzögert, daß ich schon fürchten mußte, ich hätte diesmal etwas falsch begriffen, doch dann nahm es seinen vorbestimmten Lauf, und das Material wurde wieder mein Material, das ich, eingedenk der neuen Erfahrungen, nun mit einem klügeren Schutzmittel umgeben mußte.
Kitty schiebt die Fotos wieder zusammen und ordnet sie zurück in die Kalendertaschen. Augusta, Liebste, denkt sie dabei, ich kenne dich besser als mich selbst, vom Zopfalter bis hin zu dem Emilien-Auftritt heute, ich weiß alles über dich, und so muß es auch bleiben. Denn wenn ich den Zugang zu deinem Innenleben verlöre, dann könnte ich für nichts mehr garantieren, dann würdest du dir selbst verlorengehen, und jeder beliebige Imagemacher könnte dich in sein System einpassen. Du bist, meine Augusta, sehr gefährdet, und ich muß auf dich achtgeben.
Damit greift Kitty zum Telefon. Es ist nach sieben Uhr, und sie wird darauf bestehen, daß die Freundin auf jeden Fall zur Gruppe geht. Augusta war heute einigem Druck ausgesetzt, am Morgen offenbar dem Ärger mit dem zeugungsunfähigen Manuel und später der ihr aufgezwungenen Befriedigung eines Voyeurs, da muß man sie dringend vor sich selber bewahren. Nichts wäre momentan unpassender als ein neuerlicher deformierender Freßanfall. Augusta sah hinreißend aus heute morgen, nach Form und Inhalt gerade richtig zum Tragen von Kittys Ambitionen. Und man wird sie in der nächsten Zeit noch brauchen zur Übermittlung weiterer Botschaften.
Während Kitty Augustas Nummer dreht, versucht sie ihr erneut aufflackerndes schlechtes Gewissen zu beruhigen: Nein, ich tu’ es nicht nur für mich und gegen sie, es ist für uns beide ein Spiel gegen die Wand, genau das, was du willst und brauchst, Augusta, die bittere Medizin, die dir Leben bringt, und wenn dies zufällig auch mir nützt, um so besser.
Dann meldet sich Augusta am Apparat, und der Klang ihrer Stimme dringt, wie immer, Kitty tief in die Seele: Alles, alles würde sie für diese Liebe opfern, Arbeit, Ambitionen, sogar ihr Leben. Ja, wenn es denn sein müßte, würde sie sich selbst in Augustas Elixier verwandeln. Aber es muß ja nicht sein, Gott sei Dank, so dramatisch ist unser Leben nicht, und die neueste Entwicklung sagt weit eher eine glückliche Synthese voraus als etwa ein zerquältes Sie-oder-ich.