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Facetten der Freundschaft

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Es war Martin Luther, der in seiner theologischen Anthropologie das Thema »Einsamkeit«, insbesondere »metaphysische Einsamkeit«, explizit zur Sprache gebracht hat. Kennzeichnend für seine Sicht ist bekanntermaßen die klassisch gewordene Formel vom Menschen als dem »homo in se ipsum incurvatus« – dem Menschen als dem Geschöpf, das sich bewusst von seinem Schöpfer abwendet, sich immer mehr in sich selbst verstrickt und in sich selbst gefangen bleibt. Erst Zuwendung und Zuneigung von außen (»extra nos«) befreien ihn dazu, sich aus diesem Zustand zu lösen und sich in Freiheit und Selbstverantwortung seiner Welt zu öffnen. Das tiefgreifende Erleben, sich ganz mit Leib und Seele willkommen, angenommen und wertgeschätzt zu werden, zeichnet vor allem Freundschaft unter Menschen aus.

Später, im Spanien des 17. Jahrhunderts, hielt der Philosoph und katholische Theologe Balthasar Gracián die Freundschaft sogar für das einzig wirksame Mittel gegen das Unglück und die Unbilden des Schicksals.5

So einleuchtend Einsichten dieser Art im ersten Augenblick auch erscheinen mögen – Fleisch und Blut werden sie freilich erst im »Projekt« des Lebens selbst, im Rahmen von Zeit und Raum, im Alltag und vor Ort. Für das Entstehen und die Entfaltung von Freundschaft spielt denn auch eine ganze Reihe von Faktoren eine gewichtige Rolle:

♦ Freundschaft beginnt und geschieht, wie gesagt, zumeist im Prozess einer langsamen Annäherung – dem weisen Ratschlag des Wüstenfuchses zufolge, den er dem Kleinen Prinzen mit auf den Weg gibt: »Wenn du einen Freund willst, so zähme mich …!«6

♦ Freundschaft bedingt die Wechselseitigkeit der Beziehung: die Entdeckung des Einen durch den Anderen und des Anderen durch den Einen, Bereitschaft zu Austausch und offenem Gespräch wie überhaupt das Wechselspiel von Geben und Nehmen. Sie scheitert, wenn sie auf Dauer nur zum Nutzen des Einen oder des Anderen unterhalten wird.

♦ Freundschaft bedeutet »Arbeit« auf beiden Seiten: Bereitschaft, die gemeinsame Beziehung auch über lange Zeit aktiv mitzugestalten, Aufmerksamkeit zuallererst und Einfühlung, Initiative und Raum für viele Kontakte. Insofern ist »Hegen und Pflegen« im Sinne des lateinischen »colere« gefordert. Und insofern ist die aktive, verantwortungsvolle Pflege von Freundschaft in der Tat eine Form von »Kulturarbeit« par excellence.

♦ Freundschaft baut auf einer Balance auf und strebt zu neuer Balance hin: der Balance von Außen und Innen und Innen und Außen. Freundschaft mit Anderen wird nur gelingen, wenn man auch »freundlich« mit sich selbst umgeht und sich bis in den Grund seiner Seele selbst »befreundet«: mit seinen Stärken und Schwächen, seinem Schatten und seinem Schicksal.

♦ Freundschaft besteht aus einer Fülle gemeinsamer Erfahrungen und bleibender Erinnerungen, sensibler Anteilnahme und Achtung voreinander. Aus einer Vielzahl unvergesslicher Augenblicke, Episoden und Geschichten formt sich im Lauf der Zeit eine gemeinsame Geschichte – Grundlage für jenes einmalige Miteinander, das – allen Ängsten, Konflikten und Umbrüchen zum Trotz – das Zusammenleben auch heutzutage immer noch auszeichnet. Was der Freundschaft freilich im Grunde ihre Kraft und ihren Zauber verleiht, bleibt ihr Geheimnis. Es gibt auch keine Formel und keinen Kunstgriff, sie aus eigener Kraft herzustellen. Freundschaft ist – ohne Pathos und jenseits aller Klischees sei es gesagt – letzten Endes ein Geschenk. Das macht sie auch so kostbar, so einmalig, so unersetzbar, wenn sie – sei es durch Tod oder Streit, Umzug oder Leichtsinn – verlorengeht. Und das vor allem im Alter.

♦ Freundschaft lässt sich letztlich auch wie ein lautloser Vorgang von »Transzendenz« verstehen: Wenn der Eine und der Andere aus dem Gehäuse seiner Welt aufbricht, seine festgemauerten Grenzen übersteigt und beginnt, über sich selbst hinauszugehen. Man mag diesen Akt bereits als den Anfang eines tiefergehenden spirituellen Prozesses begreifen oder auch nicht. Er hat – im buchstäblichen Sinne des Wortes – bereits etwas von einer »Ekstase« (S. Kierkegaard) in sich, und auch schon den Widerschein einer über sich hinausweisenden Wirklichkeit über sich, die Paulus in dem berühmten 13. Kapitel seines 1. Korintherbriefes mithilfe der Trias »Glaube, Liebe, Hoffnung« umschreibt. Freundschaft ist – sofern man diesem Gedankengang folgt – gewissermaßen ein Grundmuster von »Transzendenz«.

Freundschaft

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