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Sechs Elemente der Freundschaft
ОглавлениеSchon bei Aristoteles ist zu lesen: »Lieben kann man auch den Wein, Freundschaft aber setzt Gegenseitigkeit voraus.« Doch auch uns stellt sich heute noch die Frage: Was macht denn im Grunde die Gegenseitigkeit einer Freundschaft aus, dass sie zu einem Ferment des Lebens werden kann? Was sind ihre elementaren Grundlagen und was muss geschehen, damit sie wachsen und gedeihen kann? Meine eigene Lebenserfahrung wie auch meine Berufserfahrung als Psychiater und Psychotherapeut haben mich zu folgenden Einsichten geführt:
♦ Es sind gemeinsame Erlebnisse wie Wanderungen, Reisen und dergleichen, die Leib, Seele und Geist bewegen.
♦ Es ist gegenseitige Wertschätzung, die sich immer wieder erneuert und verstärkt.
♦ Es ist die Fähigkeit und die Bereitschaft zum
wechselseitigen Austausch und zum offenen Gespräch.
♦ Es ist die Verständigung über Grundwerte, die die freundschaftliche Beziehung wie überhaupt alles menschliche Verhalten bestimmen und leiten sollte.
♦ Es ist das tiefe Vertrauen, dass selbst in Notsituationen auf die Freundschaft Verlass ist und dass Freunde auch dann zu gegenseitiger Hilfeleistung bereit sind. Das schenkt die Gewissheit: »Sollte ich den Freund auch in dieser Hinsicht einmal brauchen, dann wird er tatsächlich alles tun, um mir zu helfen.«
♦ Es ist Dankbarkeit, die wahre Freundschaft auszeichnet und die erfahrene Hilfe, welcher Art auch immer, nicht für selbstverständlich hält.
Man kann, so gesehen, von sechs Elementen der Freundschaft sprechen – von Elementen, die zur Grundlage gegenseitiger Freundschaft werden und auf diese Weise ein wesentliches Ferment des menschlichen Lebens darstellen. Man muss nur einen Blick auf die Geschichte, insbesondere die Geschichte der Literatur und der Kunst werfen. Um Friedrich Schillers Gedicht »Die Bürgschaft« als Beispiel zu erwähnen – ein Beispiel für unzählig viele. Doch kann einem mit einem solchen Rückblick auch deutlich werden, wie unterschiedlich Freundschaft oder Erfahrungen, die als Freundschaft gehandelt werden, im Grunde wahrgenommen, gedeutet und geschätzt werden. Denn die Wahrnehmung, Erklärung und Bewertung von Freundschaft unterliegen, genau betrachtet, wie alle menschlichen und zwischenmenschlichen Erfahrungen sozial und kulturell bedingten Deutungen.
Das ist mir selbst im Laufe meines Lebens immer wieder deutlich geworden. In jener Zeit beispielsweise, in der ich als Luftwaffenhelfer einberufen wurde, war unter uns jungen Leuten von »Freundschaft« kaum die Rede, wohl aber von »Kameradschaft«. Wir sangen als Hitlerjungen und Luftwaffenhelfer höchst selten ein Lied, in dem das Wort »Freundschaft« vorkam – ganz im Gegensatz zu den häufig gebrauchten Wörtern »Kameradschaft« und »Kamerad«. Es sei nur an das bekannte, sogenannte »Englandlied« erinnert:
»Kamerad, Kamerad, Alle Mädel müssen warten. Kamerad, Kamerad, Der Befehl ist da, wir starten. Kamerad, Kamerad, Die Losung ist bekannt: Ran an den Feind, ran an den Feind, Bomben auf Engeland.«
Genau so bekannt, wenn nicht sogar noch bekannter ist das andere Lied (mit dem Text von Ludwig Uhland), das oft bei Begräbnissen von Soldaten und aus Lautsprechern zu hören war und die Gemüter, insbesondere die Gemüter der Angehörigen von Gefallenen, oftmals tief erschüttert hat:
»Ich hatt’ einen Kameraden, Einen bessern findst du nit. Die Trommel schlug zum Streite, Er ging an meiner Seite Im gleichen Schritt und Tritt.«
Im Vergleich zu jenen unseligen Zeiten des Krieges (und nicht zuletzt auch der Kriegspropaganda), in denen der »Feind« unschwer auszumachen war und in denen ein Wort wie »Kamerad« eine sehr konkrete, oft lebensrettende Bedeutung gewann, verliert sich in den modernen Demokratien die Rede vom »Kameraden« offensichtlich. An ihre Stelle scheint die Begrifflichkeit von »Freundschaft« und »Freunden« zu treten – von Freunden, die sich nicht minder dazu herausgefordert fühlen, für andere einzutreten, wenn sie angegriffen werden. Ein markantes Beispiel dafür ist die homosexuelle Freundschaft von schwulen Männern und lesbischen Frauen, die sich schon seit geraumer Zeit in den westlichen Ländern gegen Demütigung, Stigmatisierung und Benachteiligung zur Wehr setzen. Ein Meilenstein ihres Mutes und ihrer Zivilcourage ist nicht zuletzt auch die rechtliche Gleichstellung von schwulen Lebenspartnerschaften und Ehen, wie sie in einigen Ländern Westeuropas mittlerweile errungen worden ist. Offenbar ist das freundschaftliche Element in den Lebenspartnerschaften ein so hohes Gut, dass selbst prominente Homosexuelle ihr »Coming-out« öffentlich machen und sich zu ihren Freunden oder Freundinnen ohne Scheu bekennen. Damit wird ein Phänomen beziehungsweise ein Prozess in den modernen Gesellschaften deutlich: So wie sich schon seit einiger Zeit die Bedürfnisse, Probleme und Erwartungen der Bürgerinnen und Bürger zunehmend differenzieren und individualisieren, so differenzieren und individualisieren sich auch die Bedürfnisse, Probleme und Erwartungen von Partnerinnen und Partnern, die sich in Freundschaft verbunden fühlen und für die Freundschaft eine hohe, lebenswichtige Bedeutung gewonnen hat.
Das gilt in gleichem Maße auch für den Bereich von Ehe und Familie. Gerade nach dem Abklingen einer mehr oder weniger stürmischen Verliebtheit wird die Erfahrung von Freundschaft unentbehrlich – nicht zuletzt um der Kinder willen wie auch im Falle der Berufstätigkeit beider Eltern. Ohne die beiderseitige Übereinkunft im Hinblick auf die Gegenseitigkeit und die sechs erwähnten Elemente der Freundschaft ist eine freundschaftliche und gedeihliche Gestaltung des gemeinsamen Lebens kaum vorstellbar.
Allerdings zeichnen sich in unserer Gegenwart Tendenzen ab, die eine solche Gegenseitigkeit offenbar immer mehr erschweren. Das zeigt sich nicht zuletzt in der Zunahme von Trennungen und Scheidungen, von Lebensabschnittspartnerschaften und von »Patchwork-Familien«, mit denen auch ich als systemischer Psychotherapeut in wachsendem Maße zu tun habe. Bisweilen bin ich sogar versucht, im Blick auf diese Entwicklung von einem »Beziehungswildpark« zu sprechen. Noch ist nicht abzusehen, in welchem Ausmaß und welcher Intensität auch Freundschaften mit ihrer Tendenz zur Individualisierung in diesen gesamtgesellschaftlichen Prozess hineingezogen werden und gar die Formen eines »Wildparks« annehmen. Doch muss das keine zwingende Entwicklung sein. Schließlich haben Menschen aller Epochen die Erfahrung machen können, welches lebensfördernde Ferment die Kultur von Freundschaft für das Zusammenleben und Überleben von Menschen ist.
Jörg Dittmer