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Ein Freund, ein guter Freund

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Ein alter Schlager aus der Welt von gestern begann mit »Ein Freund, ein guter Freund, das ist das Schönste, was es gibt auf der Welt … «. Nur war diese Welt nicht so eingerichtet, dass das »Schönste« dauernden Bestand haben konnte. Denn diese Welt, vorab die europäische, war in jenen Tagen, da besagter Schlager noch fröhlich ertönte, bereits zu ideologisiert, um Freundschaften Dauer zu gewähren. Die Politik, die Ungeister der Epoche, spalteten außer den Familien auch für schier ewig gehaltene Freundschaften. Als habe ein mittelalterlicher Wahn die Menschen ergriffen, entfremdete man sich voneinander auf eine unvorgeahnte Weise. Der Zerfall von Freundschaften wurde dadurch kompensiert, dass man sich jetzt einem scheinbar höheren Prinzip unterwarf, nachdem die individuelle Beziehung verendet war. Der brutale Spruch »Und willst du nicht mein Bruder sein,/dann schlag ich dir den Schädel ein …« regierte die Stunde. Da wo einstmals Freundschaften bestanden hatten, wurden nun ersatzweise Kameradschaften angeboten. Statt des Freundes, dem man aus dieser oder jener politischen Überzeugung die Freundschaft »kündigte«, bekam man einen Kameraden, von dem es, weil er wortwörtlich tot war, hieß, dass man einen besseren »nit« finden würde. Klang das nicht wie ein Nekrolog auf das Ende einer zwischenmenschlichen Beziehung, wie sie vordem der Freundschaft vorbehalten gewesen war? Den grandiosen Kulturbruch nach dem Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts begleitete ein ebenso alle Gemeinschaften und Gruppierungen durchdringender Vertrauensbruch. Ob rechts oder links, mit welcher Seite, mit welcher Partei auch immer liebäugelnd, im Vordergrund der zwischenmenschlichen Kontaktaufnahme stand eine zurückhaltende Empathie, eine gewisse Vorsicht, ehe man sich dem neuen Freund erschloss. Und, das glaube ich ganz sicher, ein Hauch von Urvertrauen blieb dennoch bestehen. Durfte man dem alten wie dem neuen Freund wirklich »sein Herz öffnen«? Waren die Empfindungen stark genug, die Zuneigung ausreichend, um über die ideologischen, über die ideellen Begrenzungen hinweg, dem anderen trotz unterschiedlicher Ansichten, verbunden zu bleiben? Ich denke, wir sind aus diesem mörderischen Jahrhundert mit einer Skepsis füreinander herausgekommen, die sich in unserem Unterbewusstsein sedimentiert hat. Denn nie vordem ist in allen öffentlichen Angelegenheiten Vertrauen so missbraucht worden wie damals, und es konnte gar nicht ausbleiben, dass daraus auch eine gewisse Intoxikation des Privaten, der Privatsphäre stattfand.

Freundschaft bedeutet primär: Ich muss mich bedingungslos auf einen Menschen verlassen können. Zweifle ich daran nur um ein weniges, ist es mit der Freundschaft schon nicht weit her. Das Sprichwort, dass man miteinander Pferde stehlen können müsse, benennt den Prüfstein. Dem Freund auch in schwierigen Zeiten treu zu bleiben, markiert den Kernpunkt des gegenseitigen Verhältnisses. Würde er mir helfen, wenn ich in Not wäre? Wäre er bereit, mich zu verstecken, falls ich verfolgt würde? Könnte ich ihm, dem Freund, Intimitäten mitteilen, ohne dass er sich (vielleicht angewidert) von mir abwenden würde? Darf man überhaupt einander alles, und was auch immer dieses alles sein mag, eingestehen, ohne die Freundschaft aufs Spiel zu setzen?

Der zu Unrecht vergessene Dichter Johannes R. Becher notierte in seinem Tagebuch, man müsse – und das war als Kriterium gemeint – dem Freund sagen können, dass er aus dem Mund rieche. Das ist nun nicht gerade jenes berühmtberüchtigte Hic Rhodus hic salta, nicht der Sprung über den eigenen Schatten mit dem Risiko, auf die Fresse zu fallen. Vertrauen muss über eine körperliche Diagnose hinausgehen. Aber wie weit darüber hinaus, ist wiederum Sache jedes Einzelnen. Gültig ist ja noch immer das nahezu eherne Gesetz: »Bei Geldsachen hört die Freundschaft auf«.

Ich formuliere es nur zögernd und so vorsichtig wie möglich. Zur Freundschaft gehört, oder ist geradezu die Voraussetzung, eine emotionale Nähe zu dem anderen, nicht ganz unähnlich der zu einer Frau oder einem Mann, obwohl gänzlich anders vom Ursprung her. Und doch! Etwas Unausgesprochenes, etwas schwer und wohl kaum Definierbares scheint mir die Grundbedingung für eine wirkliche Freundschaft zu sein. Liebe wäre ein zu großes Wort, vorbehalten dem 18. Jahrhundert, da man noch den Freund »an seinen Busen zog«, obwohl man, im heutigen Sprachgebrauch, ja gar keinen hatte. Da klang die Bezeichnung »Busenfreund« noch unerotisch. Heute ist die Rede (meist im politischen Bereich) von »Männerfreundschaft«, was einstens auch etwas anderes meinte als die aktuelle Kumpanei gewiefter Politiker.

Im Grunde bleibt Freundschaft nicht ganz erklärbar: Begriffe wie Vertrauen, Treue, Aufrichtigkeit, Verlässlichkeit, Hilfsbereitschaft – das alles sind Hilfskonstruktionen, die das Phänomen selber nicht zu fassen vermögen. Wir wissen nur, es gibt so etwas wie innige Freundschaft, aber die wenigsten bestehen bis in alle Ewigkeit. Sie können aufhören, unterbrochen werden, wieder aufgenommen werden, als sei zwischendurch nichts Wesentliches geschehen. Sie können enden. Man lebt sich auseinander, wie es auch sonstige Paare häufig tun, weil Leben keine Konstante ist, weder das eigene noch das des Freundes: Wir unterliegen Wandlungen und Verwandlungen jenseits unserer Ansichten und Absichten, und das Einzige, wozu wir fähig sein könnten und sollten, ist die Veränderungen eines anderen zu akzeptieren, wie man notwendigerweise auch die eigenen hinnehmen muss. Das sollte nicht als Absolution missverstanden werden. Aber insgeheim muss man sich doch fragen, ob man sich selber noch vertrauen kann. Unsere Erfahrungen haben uns gezeigt, wie anfällig wir dafür sind, an unserem Charakter Korrekturen vorzunehmen, sie geschehen fast unmerklich, bis man eines Tages merkt, ich bin eigentlich nicht derselbe oder dieselbe von gestern, ich reagiere ja ganz anders als eben noch, und der Buchtitel, der die Frage stellt, wie viele Personen man wohl sei, drückt dieses Debakel fröhlich aus. Seiner selbst nicht mehr sicher sein, macht empfänglich für Eingriffe von außen. Unter diesen Umständen eine konstante Freundschaft zu bewahren, ist bereits eine Leistung, die sich jedoch nicht jeder leisten kann oder will oder darf.


Helm Stierlin

Freundschaft

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