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In einer Welt fragiler Beziehungen

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Menschliche Beziehungen bewegen sich. Im Auf und Ab der Jahre werden sie dichter und intensiver, auch distanzierter und spannungsvoller. Menschliche Beziehungen erwärmen sich, kühlen sich ab, sprühen vor Temperament oder triften auseinander – bis hin zu abrupter Trennung oder einem langen, endgültigen Abschied. Selbst so klassische Modelle des Miteinanders mit ursprünglich hoher erotischer Anziehung und auf ewig gedachter Haltbarkeit wie die Ehe und die Familie folgen heutzutage eher dem Muster von Passagen – und drohen am Ende doch auch zu passageren, den Launen des Schicksals unterworfenen Lebensabschnitten zu werden. Von anderen Gestalten menschlicher Gesellschaft ganz zu schweigen: von Berufen und Nachbarschaften, Vereinen und Clubs, Kirchenchören und Dampferfahrten, Theaterbesuchen und Schulfesten. Das Leben der Menschen, das Zusammenleben zumal, sei heute so fragil geworden, hört man jetzt öfters, so zerbrechlich, verletzbar und unverbindlich – unverbindlich wohl auch zum eigenen Schutz. Wer aber und was schenkt dem Menschen unserer Zeit überhaupt noch Mut zu Verwundbarkeit, Berührung und Aufruhr? Wer oder was öffnet die Tür zu einem Raum der Akzeptanz und einer entspannten Atmosphäre, frei von Angst und überzogener Erwartung?

Offensichtlich hat in letzter Zeit die Sehnsucht, wie wir sahen, nach guten, wirklich guten Freunden hierzulande zugenommen. In dem Wertekatalog, der in unserer Welt weithin beschworen wird, ist »die wahre Freundschaft« sehr gefragt – jene wahre Freundschaft, die doch – so das Lied – »nicht wanken soll«. Nicht wanken soll beim nächsten Windstoß, einem Unglück über Nacht, einer beruflichen Widrigkeit, einer großen Bitte und Zumutung auch. Dem Kartenhaus gleich stürzt bisweilen eine vermeintlich gute Freundschaft in sich zusammen. Fluchtartig verlassen sie, die so genannten guten Freunde, den Ort des »Unglücks«, wechseln, sobald es brenzlig wird, nicht selten sogar die Seiten. Wie ein Film fühlt sich ein solcher Fall dann an – wie ein Film, dessen Drehbuch ganz aus der Passionsgeschichte der Evangelien zu stammen scheint. Das »Kreuz«, ein Kreuz im Leben, vertreibt oft genug die Menschen, die kurz vorher noch ihre Kleider auf den Weg der Erfolgreichen gebreitet und ihnen aus voller Kehle zugejubelt haben. Glück zieht oft magisch die Glücksritter an, Unglück aber vertreibt sie wieder. Es wird wohl auch immer so sein: Am Schicksal eines Menschen scheiden sich die Geister, zeigt sich, wer im Grunde die »wahren« Freunde sind und wer nicht.

Trotz solcher Tendenzen, die in archaischen Tiefen des menschlichen Lebens schlummern, ist bis heute weder die Sehnsucht nach »unbedingtem Angenommensein« (Paul Tillich) erloschen noch der Ruf nach »authentischem Leben« verstummt: Dass sich in dieser Welt durchaus Menschen finden lassen, zu deren Vokabular auch Wörter wie Anerkennung, Wertschätzung und Respekt gehören und die – ohne Hintergedanken – auf ihre Weise so etwas wie Halt geben, wo doch heutzutage und in dieser medienbesessenen Scheinwelt so vieles als haltlos erscheint. Nenne man die Einstellung solcher Menschen nun Authentizität oder Zivilcourage, Nächstenliebe – oder schlichtweg Freundschaft. Optionen und Wünsche dieser Art werden in Zukunft wohl nicht weniger werden. Mit der wachsenden Zahl der Singles und der Einzelhaushalte wächst auch die Einsamkeit – und das schon in der zweiten Lebenshälfte und erst recht im Alter. Freunde im Alter – wir ahnen bereits, welche Brisanz dieser Aspekt in Zukunft gewinnen wird. Denn sie, die wahren Freunde, sind nicht an jeder Straßenecke zu finden. Mit jedem guten Freund aber, von dem wir im Lauf der Jahre Abschied nehmen müssen, erlischt auch ein Licht. Wird unser Leben um eine Hoffnung ärmer.

Sicherlich. Neu ist das nicht. Zu allen Zeiten schon haben gute Freunde hohes Ansehen genossen, ob wir an die Epen Homers denken oder an die Erzählungen des Alten Testamentes von David und Jonathan, an die Helden des Nibelungenliedes oder die Gestalten der Gralslegende, die Reformatoren von Wittenberg oder die Romantiker in den Berliner Salons, die französische Resistance, den deutschen Widerstand im Dritten Reich und vieles mehr. Immer wieder aber kam und kommt es darauf an, dass die Konfrontation mit oftmals gewaltigen Gegnern und zumeist bei Gefahr für Leib und Leben alle Kräfte gefordert und dass sich in dieser »Konfrontation« – ob Krieg, Folter oder Hinrichtung – die Freundschaft auch bewährt hat. Wie ein unvorstellbares Wunder ist das Durchhalten der Freundschaft allemal in Zeiten großer Not denn auch gedeutet worden – und »wenn die Welt voll Teufel wär« (Martin Luther), die Teufel von Bosheit und Gewalt, Rachsucht und Tod haben doch nicht über sie gesiegt. Was für eine Ermutigung am Ende dann auch: Es gibt sie noch, das Einstehen des Einen für den Anderen und des Anderen für den Einen, die Solidarität im Miteinander, die Loyalität und den Mut zur eigenen Überzeugung und zum eigenen Glauben.

Und noch ein Anderes sei an dieser Stelle erwähnt: Zumeist ist es nicht der Kreis der »Blutsverwandten«, aus dem ein Freund oder die Freunde kommen, obgleich dies durchaus der Fall sein kann. Es ist weit mehr der Kreis der »Wahlverwandtschaften« (J. W. von Goethe), in dem wir oftmals unsere besten Freunde finden: Menschen mit einem Gleichklang im Denken und Fühlen, Glauben und Handeln. Und doch sind »Wahlverwandte« – im Unterschied zu den »Blutsverwandten« – zunächst fremde Menschen, fremd im Hinblick auf ihre Herkunft und Bildung, Begabung und Geschmack. Dass dann dennoch so etwas wie »Freundschaft« entsteht und diese Freundschaft nicht selten ein ganzes Leben anhält, gleicht wiederum einem Wunder. Denn einer Gesellschaft wie der unseren, der man ausgesprochen »narzisstische Tendenzen« (Christopher Lasch) nachsagt, geht es allem Anschein nach immer wieder darum, »den Anderen« gerade nicht als den »Anders-Gearteten« und »Anders-Denkenden« zu akzeptieren und ernst zu nehmen, sondern ihn auf jede erdenkliche Weise auszugrenzen. Wahre Freundschaft aber, die diesen Namen verdient, zielt nicht auf Ausgrenzung, Gleichschaltung und Erniedrigung. Im Gegenteil. Sie will den Spielraum zum Anderen hin erhalten und fördern, dieses »Dazwischen« (Martin Buber), in dem das Bewusstsein von Eigenständigkeit und die Entfaltung von Begabung, der Mut zum Widerspruch und die Fähigkeit zur konstruktiven Versöhnung von Divergenzen und Verschiedenheiten gedeihen. Freundschaft, der Freiraum für das »Dazwischen«, ist ein Ferment für Toleranz, Empathie und Respekt – ein Grundelement von »Kultur auf Augenhöhe«.

In einem der berühmtesten Märchen der Neuzeit von der »Freundschaft«, dem Mythos vom »Kleinen Prinzen« des Antoine de Saint-Exupéry, kommt es bekanntlich zur Freundschaft zwischen dem Fuchs aus der Wüste und dem Kleinen Prinzen vom anderen Stern. Und dies geschieht in einem äußerst sorgfältigen und zarten Prozess langsamer Annäherung – und das ohne jeden Hauch von Annexion, Hast und Verschmelzung. Sie werden in der Tat »wahre Freunde«, und doch bleibt der Fuchs immer noch der Fuchs aus der Wüste und der Kleine Prinz bleibt der Kleine Prinz vom anderen Stern. Tag für Tag verlassen sie ihren ursprünglichen Ort, lernen sich vorsichtig und scheu zu verständigen und nähern sich allmählich, Schritt für Schritt, einander an – bis ein jeder seinen eigenen Ort neu finden kann.

Bislang schien es so, als wäre dieses berühmte Märchen für die Kleinen und die Großen vergangener Generationen geschrieben worden und gehörte – auch mit seinem Pathos – in eine andere Zeit. Im Zeitalter von Mail, Twitter und Facebook aber gewinnt gerade dieses kosmopolitische Manifest mit seiner Botschaft von der »Freundschaft« und mit seiner Metaphorik von Wüste, Rose und Sternenwelt eine ungeahnt neue Brisanz. Und gerade mit dieser Metaphorik und dieser zarten Sprache des Märchens behält seine zeitlose Botschaft von der Freundschaft seine Bedeutung, ja gewinnt sie erst recht für unsere Gegenwart zurück.

Freundschaft

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