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2003 – Der »Daesh« – eine terroristische Realutopie

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Die bislang aggressivste und extremste Form einer realen Dystopie entwickelte die seit 2003 agierende salafistische Miliz, die im »Kalifat« ein dschihadistisch geprägtes Staatsprojekt zu etablieren versucht.

Indem der Daesh seine Staatsform nicht innerhalb von räumlichen Grenzen sieht, sondern generell von »Fronten« spricht, sieht die Kampforganisation ihr Imperium nicht als geschlossen auf die arabischen Staaten Vorderasiens beschränkt, sondern als weltweit offen.

Mitte 2006 verlas erstmals ein Vertreter des Informationsministeriums der »ISI« per Internetvideo eine Erklärung zur Gründung des Islamischen Staates. Zur religiösen Begründung wurde auf einen Spruch des Propheten Mohammed im Hadith verwiesen, demnach Muslime ausschließlich von einem Muslim regiert werden müssen. Als wichtigste politische Ziele wurden die Vertreibung aller »Invasoren und Aggressoren« aus dem Irak und nachfolgend die Schaffung von Frieden und Sicherheit sowie die buchstabengetreue Ausführung der Scharia und damit einhergehend die gerechte Verteilung der Ressourcen des Landes an alle Gläubigen genannt.

Anfang 2007 veröffentlichte der Daesh eine neunzigseitige Schrift. Mit diesem Grundsatzdokument »Benachrichtigung der Gläubigen über die Geburt des Islamischen Staates« wird versucht, die Terrorherrschaft religiös und politisch zu rechtfertigen. Unter Berufung auf Koranverse und Stellungnahmen berühmter, mittelalterlich sunnitischer Staatsgelehrter wird versucht, die Rechtmäßigkeit der Staatsgründung im Sinne des sunnitischen Rechtsverständnisses nachzuweisen. Die Bestimmung des Staatsführers soll als »Usurpation durch Unterwerfung mit dem Schwert« erfolgen, was auf das Recht des waffenstärksten Bewerbers auf die Führungsposition im Krisen- oder Streitfall abzielt.

Im Juni 2014 wurde mit Kalif Ibrahim als dem »Befehlshaber der Gläubigen« die Gründung eines Kalifats mit Gültigkeit von Scharia und verschärft ultraorthodoxem Wahhabismus erklärt, um die Rückkehr zum idealisierten Ur-Islam und den Anspruch auf den Nachfolger des Propheten Mohammed als weltweit wirkendes Oberhaupt aller Muslime auszurufen.

Gemäß der Scharia zu leben bedeutet als Glaubensbekenntnis und Lebensgestaltung, dem »gebahnten, deutlichen Weg zur Tränke, zur Wasserquelle« zu folgen. Zum wirklichen (!) Verständnis der Scharia ist allerdings entscheidend, dass es sich hierbei nicht um ein klar definiertes Rechtssystem handelt, sondern vielmehr um ein Regelwerk, das sich ausdrücklich in einem steten Wandel (!) befindet. Diese Offenheit, die darauf abzielt, Vorschriften in kommenden Zeiten immer wieder neu in der Rechtsfindungslehre zu prüfen, beinhaltet die Problematik, auch verworrenen Ideen und Instrumentalisierungen zur Machtausübung die Tür zu öffnen, wie es im Fall des Daesh möglich wurde.

Als Grundlage des Islam erfasst die Scharia die Gesamtheit aller religiösen und rechtlichen Normen sowie die Interpretationsvorschriften. Im Detail bedeutet dies neben vielen anderen Regeln das Verbot von Versammlungen, vom Erstellen von Götzenbildern, vom Rasieren des Bartes sowie das Verbot vom Genuss aller Drogen, auch Alkohol und Tabak sowie die züchtig bedeckende Kleidung bei Frauen.

In der extremen Interpretation durch den Daesh jedoch wird die Scharia zum Machtinstrument einer männlichen Religionspolizei, mit dem die völlige Unterwerfung des Individuellen durchgesetzt werden soll.

Dieser radikale Eingriff in die Integrität und Freiheit einer jeden Person gipfelt im Anspruch und im ritualisierten Akt, dem Führer Gefolgschaft zu schwören – bis in den Tod. Dieser Grundsatz verbindet die gewaltorientierte Ideologie des Daesh mit allen totalitären, auf radikale Geschlossenheit ausgerichteten Herrschaftssystemen, wie sie letztlich in Theorie und Praxis selbst der wohlgemeintesten Utopie angelegt sind.

Auch die Kämpfer des Daesh versprechen ihrer Gefolgschaft die Erfüllung der Sehnsüchte, nämlich die Sinngebung auf Erden und die gerechte Verteilung der Reichtümer im vergänglichen Heute sowie das Erlangen des ewigen Paradieses im Übermorgen.

Im Gegenzug jedoch verlangen die Führer das, was alle Führer verlangen, nämlich den uneingeschränkten Gehorsam und damit in aller Konsequenz die vollständige Unterwerfung.

HEIMWEH SUCHT UTOPIA

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