Читать книгу Der Mann, der den Teufel zweimal traf - Herman Old - Страница 18
Werner
ОглавлениеWerner saß am Frühstückstisch verdrossen vor seinem Teller. Davor lag die Salzgitterzeitung und eine Schlagzeile die Inas Diagnose in aller Welt verbreitete, sprang dem Betrachter förmlich sofort ins Auge. Werner wusste genau, was alles in dem Artikel stehen würde, er brauchte es gar nicht noch einmal zu lesen. Die Ärzte in der Klinik hatten ihn schließlich hinreichend informiert. Er hätte am liebsten irgendetwas gepackt und aus dem Fenster gefeuert, so ungehalten war er, als er die Schlagzeile sah. Aber zugleich wurde ihm klar, dass das jetzt niemandem genutzt hätte. Nicht mal zum Abreagieren hätte es gereicht. Also versuchte er, sich wieder zu beruhigen. Seine große Kaffeetasse klapperte beim Absetzen und so nahm er sie nochmal hoch, trank einen kleinen Schluck und setzte sie dann schon etwas ruhiger wieder ab. „Nachwuchstalent nach schwerem Sturz querschnittsgelähmt.“ Schrie die Zeitung den Leser an. Das klang genauso banal wie: „Schweinehälften werden in diesem Jahr billiger.“ Man hätte noch den plausibelsten Nachsatz dazu schreiben können. „Das hat sie jetzt davon, selber schuld, blöde Kuh, was springt sie auch so herum?“ Dass der Sport, den Ina ausübte, gefährlich war, das wusste jedermann. Aber das jemand gleich so unglücklich enden sollte, das war neu und eigentlich unglaublich beängstigend. Werner fand es einfach ungerecht, dass der Artikel die Diagnose so reißerisch heraus posaunte. Etwas zurückhaltender, und vielleicht auf der zweiten Seite erst. Aber nein, mitten vorne drauf. Heute mal die Flüchtlinge aus Syrien und den anderen Ländern auf der zweiten Seite, neben den Meinungen der Weltpolitiker zum Tode Helmut Schmidts. Inas Schlagzeile schlug sie heute alle. Ein Talent war der Stadt verloren gegangen, und das wusste die Presse natürlich schleunigst an den Mann zu bringen. Das Talent war verloren, also schnell einen Artikel dazu, bevor das Thema wieder kalt wurde und keinen mehr interessieren würde. Der tote Altkanzler konnte warten, der lief der Presse erst mal nicht mehr weg. Dass es für ihn extra Seiten geben würde, mit Würdigungen angeblich bestürzter Politiker aus aller Welt, Lobpreisungen wegen seiner Verdienste um das Deutsche Vaterland, Berichten, vielleicht noch irgendetwas pikantem, unveröffentlichtem, das war schon klar. Aber das gelähmte Talent, das war brandaktuell. Unserem besten Rennfahrer war es auch nicht wesentlich anders ergangen, nach seinem schweren Skiunfall. Heute fragte kein Mensch mehr nach ihm. Der Lauf der Dinge ging eben weiter. Und mit Sicherheit war es seiner Familie auch ganz recht so. Das auch Inas Talent eigentlich der ganzen Welt verloren ging, brauchte niemand zu betonen. Aber nicht das Talent des Stabhochspringens stand im Vordergrund, nicht die Leistungen, die sie im Sport erbracht hatte. Das alles zählte überhaupt nicht. Zumindest für Werner. Der Mensch Ina, ihre Gesundheit, ihr aktives Leben, die Masse an Energie, die Freude am Leben die sie verbreiten konnte, die Liebe die sie geben konnte, all das war gerade für Werner verlorengegangen. Das wusste die Welt ja gar nicht, und wahrscheinlich hätte sie es auch nicht interessiert. Die Presse nutzte es eben auf ihre Weise. Was wusste denn der Redakteur dieses Artikels vom eigentlichen Drama? Nichts, absolut nichts. Ihm war ja nur seine Schlagzeile wichtig, damit die Zeitung wieder glänzend, als gut unterrichtet da stand. Sollte er doch zum Teufel gehen, der Kerl, dachte Werner. In seinem Zorn und seiner Hilflosigkeit wurde er langsam aber sicher ungerecht, ohne es zu merken. Er brauchte ein Ventil dafür, und der dämliche Redakteur, oder besser gesagt, der dämliche Artikel des dämlichen Redakteurs, kam ihm da gerade recht. Seine kleine Motte, wie er sie früher immer nannte, würde nie wieder in seinem Garten über den schmalen Bach springen und rufen: „Opa, schau wie ich springen kann. Wenn ich mal groß bin, werde ich Hochspringer. Jetzt springe ich erst mal weit, das reicht mir nämlich.“ Die kleine Motte würde nie wieder auch nur das geringste körperliche machen. Eigentlich war sie schon tot. Nur ihr Kopf lebte noch. Das erinnerte ihn an eine alte Filmszene aus den frühen vierziger Jahren mit Hans Albers als Baron von Münchhausen. Der Lügenbaron war mit seinem Diener Christian in einem Fesselballon bis zum Mond geflogen und dort gelandet. Etwas später kam ein Mondbewohner vorbei, der den sprechenden Kopf seiner Frau in den Händen trug. Dann wurde ihnen erzählt, dass die Mondbewohner sich von ihren Körpern trennen könnten. Der Körper der Frau sei jetzt in aller Ruhe zu Hause am Arbeiten, während die Frau mit ihrem Mann nach den Früchten im Garten schaute. Ina bestand jetzt auch nur noch aus ihrem Kopf. Aber sie war an ihren leblosen Körper gefesselt, für immer. Und der würde nie wieder auch nur das Geringste arbeiten. Werner angelte mit vertränten Augen nach der Kaffeetasse und schaute, um sich abzulenken, wieder auf die Zeitung. „Rawinder legt dir die Karten“. „Die Karten lügen nicht“ las er da in kleinen, fetten Buchstaben. „Ja, du Hexe,“ dachte er böse. „Du hättest Ina die Karten auch vorher legen können, wenn du das könntest.“ Natürlich war das nur Humbug. Kartenlesen, Tische rücken, Gespräche mit den Toten, Wahrsagen, schon klar. Ja, ja. Passt schon, Freunde der Dunkelheit, lasst mal stecken.