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Das Ende von Werners Kinheit

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Januar 1945. Sie waren den dritten Tag unterwegs. Zum Glück hatten sie nicht nur einen großen Wagen mit zwei Pferden, sondern die Großeltern aus Palmnicken hatte auch noch viel Futter für die beiden Tiere gepackt. Werner, seine große Schwester Liesel und Erich waren gut eingepackt im Wagen verstaut. Unter die Kinder hatte der Opa zwei dicke Strohballen und darauf zwei Matratzen gelegt, damit die Kälte draußen blieb. Viele andere hatten das nicht. Die Großeltern wollten ihre Heimat nicht mehr verlassen. Durch nichts waren sie zu überreden, mitzukommen. Sie vertrauten darauf, dass der Russe auch Eltern hatte, und alten Leuten wohl nicht mehr viel passieren konnte. Elisabeth musste letztendlich ihre Schwiegereltern allein lassen. Sie kam sich vor als, würde sie sie im Stich lassen. Nachdem sie sich alle weinend voneinander verabschiedet hatten, ging es los. Das Grauen und Elend, welches ihnen bereits an diesem ersten Tage ihrer Flucht aus der Heimat begegnete, war unbeschreiblich. Bereits wenige Kilometer hinter Cranz sahen sie die ersten Leichen. Nachbarn, Fremde, Soldaten. Teilweise lagen sie einfach so da. Ohne Gepäck, ohne Mantel. Einfach tot im Schnee, als wäre es das normalste auf der Welt, tot im Schnee zu liegen. Der Treck kam, da sie sehr früh losgefahren waren, noch am hellen Nachmittag vor Frauenberg am frischen Haff, in einem Waldstück an. Da es unsagbar kalt war, wollte man trotz aller Eile anhalten, Feuer machen und für die Alten und Kinder, schnell etwas zu Essen richten. Nicht lange, aber gerade genug für eine kleine Erholung für Mensch und Tier. Die Pferde hatten es ebenso bitter nötig, wie die Menschen. Dort wo sie lagerten, fanden sie eine ehemalige Stellung des deutschen Heeres und einige tote Soldaten, sie lagen kreuz und quer durcheinander. Hier ein Hauptmann mit dem Gesicht nach unten, der an seinen Zeichen auf der Schulter zu erkennen war, da zwei Unteroffiziere, überall Soldaten, einfache Männer, die beim Versuch, Ostpreußen vor dem Feind zu schützen, ums Leben gekommen waren. Väter und Söhne, Brüder, Onkel, die jetzt in irgendeiner Familie für immer fehlen würden. Alle vor wenigen Stunden gestorben. Kaputte, zerschossene Fahrzeuge, Waffen, Landkarten, Essgeschirre und viele andere, teils persönliche Dinge der Soldaten, lagen herum, und schauten aus der dünnen Schneedecke heraus. Der kleine Treck aus Cranz konnte diesen Ort nicht so ohne weiteres hinter sich lassen. Der nächste Wald war ein gutes Stück entfernt und sie alle brauchten eine kurze Rast. Wahrscheinlich sah es im nächsten Waldstück ähnlich aus. Deswegen blieben sie jetzt hier, und versuchten, so gut es ging, die Toten nicht zu sehen. Zum Glück waren die Leichen schon mit einer leichten Schneeschicht bedeckt, so dass der Anblick eher zu ertragen war, da man keine Gesichter sondern nur Umrisse sah. Gerade als die ersten Menschen des Trecks die vorderen vier Wagen verlassen hatten, um sich endlich die Beine zu vertreten, kamen drei Männer mit Karabinern in den Händen, aus dem Wald auf den Treck zu gelaufen. Es gab keine Chance ihnen auszuweichen. Sie hielten die Karabiner auf die abgestiegenen Menschen gerichtet, und schrien teils auf Polnisch und deutsch. Es war zu verstehen, dass die drei eben abgestiegenen Mädchen von den Wagen zu ihnen rüber kommen sollten, und dass die Frauen ihre Wertsachen den Mädchen mitgeben sollten. Es fiel immer wieder das Wort: Gold. Die Frauen schauten sich hilflos an, die Alten begannen zu jammern und bekreuzigten sich. Die Mädchen zwischen zehn und vierzehn Jahren wussten gar nicht was los ist. Da standen drei Männer und schrien, es war eisig kalt und ihre Mütter fingen nun ebenfalls zu jammern und schluchzen an. Ein paar Jungs von zehn, zwölf Jahren kamen ebenfalls aus den Wagen, sie hatten noch gar nichts mitbekommen. Einer der Männer kam bis auf ein paar Meter heran und herrschte die Jungs an, sie sollen verschwinden und die Frauen, sie sollen sich gefälligst beeilen. Die Frauen sprangen auf die Wagen, kramten darin herum, und jede kam mit irgendeiner Tasche oder Schachtel wieder hervor. In der Zwischenzeit waren die Mädchen, durch das ständige Winken mit den Gewehrläufen und dem Gebrüll, gezwungen, auf die Männer zögernd zugegangen. Einer der Kerle griff sich die zwölfjährige Erna Krüger und fing an, ihr die Sachen an Ort und Stelle herunterzureißen. Allen Erwachsenen war klar, was hier gleich passieren sollte. Der Mann, der bis zu den Wagen gekommen war, nahm die Taschen und Schachteln der Frauen entgegen. Da es ihm nicht schnell genug ging, trat er Elisabeth Stephan fluchend in den Bauch, drehte sich anschließend zu seinen Kumpanen und stapfte davon. Elisabeth fiel um, und blieb gekrümmt stöhnend im Schnee liegen. Ihre Tochter Liesel rannte schreiend hinter dem Wagen hervor zu ihrer Mutter, ohne auf die Gefahr zu achten. Werner und sein Bruder Erich sprangen vom fünften Wagen nach hinten runter in den Schnee. Werner sprang dabei fast einem ungefähr gleichaltrigen, bildhübschen und unbekanntem Jungen auf die Füße. Dann sahen sie, genau zwischen ihren Hinterrädern, den alten Seilermeister aus Neukuhren hocken, er versuchte zu sehen, was dort wenige Meter vor ihnen ablief. Unmittelbar hinter dem Alten lagen die Leichen von mehreren Soldaten wild durcheinander unter der Schneedecke. Der Treck war gerade mit seinen schweren Wagen um ein paar Zentimeter an ihnen vorbeigerollt bevor sie anhielten. Als der Mann mit den Wertgegenständen sah, dass da noch ein Mädchen war, drehte er sich wieder zu ihnen um und schrie Liesel an, zu ihm zu kommen. Liesel kniete dort, wo ihre Mutter zusammengebrochen war, und hörte den Mann schreien. Sie war wie betäubt und noch bevor sie aufstehen und sich auf den Weg machen konnte, krachte ein Schuss. Der Mann, der dabei war Erna auszuziehen, fiel auf die Seite und schrie wie am Spieß. Erna stürzte durch den plötzlich befreiten Ruck nach hinten, und rollte sich durch den Schnee weg von dem Mann. Die anderen beiden Fremden richteten ihre Karabiner verwirrt auf die wehrlosen Frauen, als ein zweiter Schuss fiel. Dieser traf den Mann, der bisher nur dabei gestanden hatte, in den Bauch, er fiel mitsamt seinem Gewehr nach hinten und krümmte sich zusammen. Der Mann mit den Taschen schoss mit seinem Karabiner in der rechten Hand auf die Frauen und rannte Richtung Wald davon. Da er aber die linke Hand, und den ganzen Arm voller Taschen und Schachteln hielt, konnte er nur mit der einen freien Hand schießen. Er bekam den schweren Karabiner aber gar nicht hoch genug, um ihn in die richtige Position für einen gezielten Schuss zu bringen. Der Schuss ging zum Glück deswegen nur unweit vor ihm in den Boden. Der Mann rannte anschließend mit Taschen und Schachteln und seinem Karabiner in der Hand, durch den Schnee in die Richtung, von wo sie vorhin hergekommen waren, und kam vielleicht zehn Meter weit in seinen dicken Wintersachen, als nochmals zwei Schüsse krachten. Beide Male wurde der Mann getroffen und fiel in den Schnee. Eine der Schachteln öffnete sich dabei und ein Schwall Schmuck und Gold verteilte sich im Schnee. Der schreiende Mann, der Erna angefasst hatte, stöhnte nun leise im Schnee und wälzte sich hin und her. Das Blut kroch unter seinem dicken Mantel hervor, und färbte den Schnee in einem hässlichen Rot. Durch das Wälzen im Schnee verbreiterte der sterbende Mann die Blutspur wie ein skurriles Gemälde. Hinter dem dritten Wagen kamen ein alter Mann und ein Junge hervor. Beide hielten Gewehre in den Händen. Der Seilermeister und Werner sahen, was ihre Kugeln angerichtet hatten. Der Alte sagte zitternd. „Das hat gesessen, Jungchen“, und dann schluchzte er hemmungslos. Sein alter Körper bebte. Werner zitterte auch am ganzen Körper wie Espenlaub, war kreidebleich und fing an zu würgen. Er war gerade mal neun Jahre alt und hatte soeben mitgeholfen, drei Männer zu töten. Die Tränen schossen ihm nur so aus den Augen. Dann ließ er den schweren Karabiner in den Schnee fallen und sackte zusammen. Die Gewehre, mit denen sie geschossen hatten, gehörten den toten deutschen Soldaten, bei denen der Treck stehen geblieben war. Ohne darüber nachzudenken hatte der alte Mann den toten, schlaffen Händen zwei Gewehre entwunden, eines Werner in die Hand gedrückt und damit unter dem Wagen hindurch auf die Angreifer geschossen. Der alte Pahlke hatte noch kurz gesagt. „Du nimmst den Wachhund, ziel genau in die Mitte, dann hast du ihn. Ich nehme den Lorbas bei dem Mädchen aufs Korn. Ich schieße zuerst. Komm Junge, jetzt gilt es.“ Nach den ersten Schüssen, sahen sie den bepackten mühsam davonrennen. Sie luden beide gemeinsam die Karabiner durch und schossen fast gleichzeitig im nächsten Moment hinterher. Dass er selbst in dieser Situation, wo das Blatt sich gegen ihn gewendet hatte, nicht mal seine Beute fallen lassen wollte, sollte dem Mann wohl jetzt das Leben kosten. So endete Werners Kindheit.

Der Mann, der den Teufel zweimal traf

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