Читать книгу Die Bluterbin - Hildegard Burri-Bayer - Страница 11

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Nachdem der Zunderhändler Marie nach Hause gebracht hatte, suchte er voller Sorge nach seinem Pferd und fand es schließlich erschöpft und verwundet in einer kleinen Gasse.

Er wusste, dass es vergeblich sein würde, auf den Marktplatz zurückzukehren, um nach den Überresten seiner Ware zu suchen, die von den Flammen verschont geblieben waren. Bettler und anderes Gesindel hätten sich sicher schon längst darüber hergemacht und die allgemeine Verwirrung dazu benutzt, alles, was ihnen unter die Finger kam, an sich zu raffen und wegzutragen.

Er nahm das Pferd am Zügel und verließ auf Umwegen die Stadt, denn er wollte vermeiden, auf jemanden zu treffen, der ihm womöglich die Schuld an dem Unglück geben und Schadenersatz von ihm verlangen würde.

Obwohl er seinen gesamten Besitz verloren hatte, fühlte er sich leicht und frei wie nie zuvor in seinem Leben und dankte Gott im Stillen dafür. Irgendwie würde es schon weitergehen.

Er könnte das Pferd verkaufen und seine Familie mit dem Erlös über den Winter bringen. Vielleicht würde es sogar noch für einen Esel oder ein altes Maultier reichen. Im Frühjahr würde er dann noch einmal von vorne beginnen und so lange Baumpilze sammeln, bis er sich ein neues Pferd leisten konnte.

Immer wieder tauchte das Gesicht des engelsgleichen Mädchens vor ihm auf. Er spürte, dass sie etwas mit seiner wundersamen Genesung zu tun haben musste, auch wenn er sich nicht zu erklären wusste, wie das möglich sein sollte.

Gegen Abend kam er an einem aus Stein gebauten Kloster vorbei. Er klopfte an die Pforte und bat um eine Unterkunft für die Nacht, die ihm wie jedem Reisenden gewährt wurde.

Ein gebeugter, alter Mönch mit schlohweißer Tonsur wies ihm freundlich den Weg zu den Ställen, in denen er sein Pferd unterstellen konnte. Anschließend begab er sich zur Herberge, einem schlichten, scheunenähnlichen Gebäude, das sich an der Rückseite der Kapelle befand und den Reisenden als Unterkunft diente. Zwei Brüder in brauner Kutte standen neben einem grob gezimmerten Tisch und teilten schweigend das Abendessen an die lange Schlange der Reisenden aus.

Nachdem er eine Erbsensuppe, ein Stück Brot und einen Becher mit verdünntem Wein erhalten und seine Mahlzeit hungrig verzehrt hatte, begab er sich zu den Ställen auf der gegenüberliegenden Seite des Klosterhofs, wo ein älterer Mönch in einer braunen Leinentunika gerade damit beschäftigt war, Heu an die Pferde auszuteilen. Immer wieder hielt er dabei inne, um einem der Tiere über die weichen Nüstern zu streicheln. Er schien die Tiere zu mögen und nahm den Zunderhändler dadurch auf Anhieb für sich ein.

Als dieser näher trat, sah Bruder Gilbert auf. Seine kleinen, klugen Augen strahlten heitere Zufriedenheit aus.

»Gott schütze Euch, kann ich Euch behilflich sein?«, fragte er.

So viel Freundlichkeit hatte der Zunderhändler nicht erwartet. Verlegen blickte er zu Boden und meinte dann:

»Mein Pferd hat sich verletzt, und die Wunden haben angefangen zu eitern. Das Pferd ist alles, was ich noch besitze.«

Der Mönch lächelte ihn an. »Ich werde sehen, was ich tun kann, wartet hier auf mich. Ich bin gleich zurück.«

Der Zunderhändler konnte sein Glück kaum fassen. Das zweite Mal an diesem Tag begegnete er einem Menschen, der ihm, ohne lange zu überlegen, seine Hilfe anbot.

Während er noch immer überlegte, was das wohl zu bedeuten hatte, kam der Mönch auch schon zurück. In seiner Hand hielt er eine gedrechselte Holzdose, deren Deckel er jetzt öffnete. Ein scharfer Geruch stieg dem Kutscher in die Nase.

»Das ist Baumöl mit Alaun, Kampfer und Himmeltau«, erklärte ihm Bruder Gilbert.

Gemeinsam begaben sie sich zu dem verletzten Schecken, der freudig schnaubte, als er seinen Herrn erkannte. Mit einem dünnen Holzspatel trug der Mönch die Paste auf die Verletzungen auf.

»Wenn Ihr morgen früh aufbrecht, werden die Wunden geschlossen sein.«

Der Zunderhändler bedankte sich mit Tränen in den Augen.

Bruder Gilbert sah ihn streng an.

»Dankt Gott für Seine Hilfe, nicht mir, Ihm diene ich mit ganzem Herzen.«

Er wollte sich entfernen, doch der Händler hielt ihn zurück. Verlegen druckste er eine Weile herum. Es schien ihm unverschämt, den Mönch noch länger zu belästigen, doch sein Wunsch, eine Antwort auf seine Fragen zu erhalten, war übermächtig geworden und überwog seine Bedenken.

Der strenge Ausdruck im Gesicht Bruder Gilberts wurde weicher, als er die angespannte Aufregung des Händlers bemerkte. Ruhig wartete er, bis der Fremde zu reden begann.

»Heute Morgen ist ein Wunder geschehen: Eine Jungfrau, rein wie ein Engel, ist vor mir erschienen und hat mich geheilt.«

Nachdem er den Anfang gemacht hatte, sprudelten die Worte nur so aus ihm heraus, und er erzählte dem freundlichen Mönch von dem seltsamen Mädchen mit der weißen Haut, das wie ein himmlisches Wesen aussah und das irgendetwas mit seiner wundersamen Heilung zu tun haben musste. Während er erzählte, war es ihm, als würde er alles noch einmal erleben.

Bruder Gilbert hörte ihm aufmerksam zu. Seine Augen wurden dabei immer größer, und neue Hoffnung strahlte in ihnen, als ihn der Händler, nachdem er geendet hatte, voller Erwartung ansah.

»Jetzt wisst Ihr alles, und nun sagt mir, womit ich dieses Wunder verdient habe. Ich bin nur ein einfacher Mann, der versucht, seine Familie zu ernähren«, sagte er mit gesenktem Kopf, und Tränen der Rührung liefen dabei über seine Wangen.

Bruder Gilbert konnte nicht anders. In seinen Augen glitzerten ebenfalls Tränen, als er den Händler umarmte und ihm einen brüderlichen Kuss auf die unrasierte Wange drückte.

»Gott hat meine Gebete erhört und mir ein Zeichen gesandt, indem Er Euch hierhergeführt hat, um mir von diesem Wunder zu berichten und so meinen Glauben zu stärken«, stammelte er tief bewegt.

Überwältigt von seinen Gefühlen brach er die Ordensregel, seine Worte stets auf das Nötigste zu beschränken, und redete mehr als sonst in einem ganzen Monat: »Meine Familie ist von einer Horde Raubrittern überfallen worden, als ich noch ein kleiner Junge war. Sie erschlugen meinen Vater, schändeten meine Mutter und spießten meine Geschwister auf wie Spanferkel. Dann plünderten sie den Hof und steckten ihn in Brand. Unser alter Verwalter und ich waren die einzigen Überlebenden.

Erst nach einer langen, dunklen Zeit, in der mein Herz blind und voller Hass auf Gott und die Menschen war, habe ich in diesem Kloster meine Ruhe gefunden. Mit Gottes Hilfe ist es mir gelungen, meinen Hass zu überwinden, doch die schrecklichen Bilder haben sich in mein Gedächtnis eingebrannt, und die Zweifel kommen von Zeit zu Zeit wieder, um mich zu quälen.

Gott in Seiner großen Gnade hat Euch zu mir geschickt, um mir, einem Seiner geringsten Diener, neue Hoffnung zu geben, indem Er einen Engel wie dieses Mädchen auf die Erde gesandt hat. Was würde ich darum geben, ihr einmal begegnen zu dürfen.

Vacare deum non est otium, sed negotium negotiorum - sich Gott anheimzugeben, ist nicht Müßiggang, sondern die wichtigste aller Beschäftigungen.«

Die beiden Männer schwiegen bewegt. Bis auf das Rascheln der Mäuse im Stroh und das Stampfen der Pferde war es ruhig in dem Stallgebäude. Nach einer Weile unterbrach Bruder Gilbert die Stille und kratzte sich nachdenklich das stoppelige Kinn.

»Wisst Ihr, wer dieses Mädchen war?«, wollte er wissen.

»Sie ist die Tochter eines wohlhabenden Tuchhändlers in Bourges, ihren Namen kenne ich nicht«, antwortete ihm der Händler.

Bruder Gilbert reichte ihm die Hand.

»Ich werde in die Kapelle gehen, um Gott für seine große Gnade zu danken. Vielleicht sehen wir uns eines Tages wieder.«

»Habt Ihr etwas dagegen, wenn ich im Stall übernachte?«, fragte der Händler.

»Nein, nein, legt Euch ruhig ins Stroh.« Mit ruhigen Schritten verließ Bruder Gilbert den Stall.

Der Händler schob daraufhin das in einer Ecke liegende Stroh zu einem Lager zusammen und legte sich zum Schlafen darauf. Die unterschiedlichsten Gedanken gingen ihm durch den Kopf. Was er heute erlebt hatte, war einfach zu viel für ihn, und erst jetzt merkte er, wie müde er war.

Am nächsten Morgen reichten die Mönche Brot und einen Becher verdünnten Weines zum Frühstück. Anschließend segneten sie die Reisenden und entließen sie nach draußen.

Der Zunderhändler hätte sich noch gerne von Bruder Gilbert verabschiedet, doch er konnte den Mönch nirgendwo entdecken, als er sein Pferd aus dem Stall holte und sich schließlich auf den Weg machte.

Ein feuchter Nieselregen hatte eingesetzt und die herrschende Schwüle nochmals verstärkt, aber er achtete nicht darauf. Er konnte es kaum erwarten, seine Familie wiederzusehen und seiner Frau zu erzählen, was ihm alles widerfahren war.

Jean Machaut saß hoch aufgerichtet auf seinem neuen Reitpferd und ritt hinter dem mit kostbaren Stoffballen vollbeladenen Wagen her, der von Henry kutschiert wurde. In seinem scharlachfarbenen, aus edlem Stoff gefertigten Reitmantel und dem dazu passenden Reithut bot er fürwahr das wohlgefällige Bild eines wohlhabenden Bürgers. Obwohl sie sich mit dem ersten Licht des Tages aufgemacht hatten, waren sie nicht die Einzigen, die bereits unterwegs waren. Bauern trieben ihre Schweine in die Stadt, und auch die Krüppel und die Aussätzigen mit ihren Klappern waren schon längst unterwegs, immer auf der Suche nach einer milden Gabe.

Jean achtete nicht auf die neugierigen und oft auch neidischen Blicke, die ihm folgten. Eleonore hatte ihm am Tag zuvor schmerzhaft einen Teil seiner Vergangenheit ins Bewusstsein zurückgerufen, den er am liebsten für immer vergessen hätte. Aber er hatte sich etwas vorgemacht, als er geglaubt hatte, die Vergangenheit dadurch verdrängen zu können, dass er einfach nicht mehr an sie dachte oder über sie sprach.

Unwillkürlich wanderten seine Gedanken nun zu dem Tag zurück, an dem seine sorglose Kindheit ein brutales Ende gefunden hatte, und längst vergessen geglaubte Bilder stiegen wieder vor ihm auf.

Es war ein heller sonniger Tag gewesen, und er hatte fröhlich und unbeschwert mit seinem Holzschwert im Hof gespielt und so lange unsichtbare Feinde bekämpft, bis ihn der Hunger irgendwann zurück ins Haus getrieben hatte.

Seine Eltern hatten am Küchentisch gesessen und nicht bemerkt, dass er an der Türe stand und ihr Gespräch mit anhörte. Das Gesicht seines Vaters war düster gewesen, und er selbst hatte auf Jean seltsam hilflos gewirkt.

»Du darfst niemanden mehr heilen, es ist einfach zu gefährlich. Sie haben schon wieder Steine auf unser Haus geworfen. Es wäre besser, wenn wir die Stadt so schnell wie möglich verlassen würden.«

Er hatte die Angst in der Stimme seines Vaters gehört, den er bislang immer für unbesiegbar gehalten hatte, und hätte sich am liebsten in Mutters Armen verkrochen, um sich von ihr trösten zu lassen. Doch er war wie angewurzelt stehen geblieben.

»Es ist Gott, unser Herr, der die Menschen heilt, nicht ich. Ich bin nur Sein Werkzeug«, hatte seine Mutter mit sanfter Entschlossenheit widersprochen. »Vor Ihm können wir nicht fliehen. Wenn es Sein Wille ist, wird er uns beschützen.«

Doch Gott hatte sie nicht beschützt, sondern einfach vergessen.

Er konnte noch immer die weichen Arme seiner Mutter spüren, die ihn liebevoll umschlossen und ihn über die Gefahr hinweggetäuscht hatten, die unaufhaltsam näher gerückt war.

Dann hatte sich jedoch von jetzt auf gleich der Höllenschlund vor ihnen geöffnet, und die Flammen waren überall gewesen. Gefräßig und unbarmherzig wie Raubtiere hatten sie alles verschlungen, was ihm lieb und teuer gewesen war. Er war aus den weichen Armen seiner Mutter fortgerissen worden, die verzweifelt versucht hatte, ihn festzuhalten.

»Ich liebe dich, mein kleiner Jean«, waren ihre letzten Worte gewesen, und er hatte ihr Gesicht nicht sehen können, als sie ihn ein letztes Mal fest an sich gedrückt hatte, aber die furchtbare Angst, die ihn umklammerte, hatte für einen Moment nachgelassen. Doch dann hatte er ihre schützenden Arme nicht mehr gespürt, und die schrecklichen Flammen, die vor ihm hochschossen, versperrten ihm die Sicht. Es war so entsetzlich heiß gewesen, und er hatte so furchtbare Angst gehabt, dass seine Kehle wie zugeschnürt gewesen war.

Das Grauenvollste von allem war aber der grässlich süßliche Geruch gewesen, der ihn auch heute noch regelmäßig aus dem Schlaf hochfahren ließ und den er wohl bis zu seinem letzten Atemzug nicht mehr vergessen würde, ebenso wenig wie den unversöhnlichen Hass, der ihm und seinen Eltern aus den verzerrten Gesichtern der Leute entgegengeschlagen war und der sich schließlich in zügelloser Gier und purer Mordlust entladen hatte.

Der wütende Pöbel hatte seinen Vater erschlagen und das Haus mitsamt seiner Mutter in Brand gesetzt. Nur das mutige Eingreifen der alten Magd hatte ihn vor einem ähnlichen Schicksal bewahrt.

Kurz bevor sie das Stadttor erreichten, wandte Henry sich um. Sein Herr sah aus, als wäre er dem Leibhaftigen persönlich begegnet, wie er da so abwesend und mit bleichem Gesicht auf seinem Pferd saß, das brav hinter dem Wagen hertrottete.

Sofort hielt Henry den Wagen an und sprang vom Kutschbock. Jeans Pferd blieb ebenfalls stehen.

»Herr, was ist mit Euch?«, fragte Henry besorgt.

Jean sah ihn an, als würde er gerade erst aus einem tiefen Traum aufwachen.

»Es ist nichts«, meinte er leise. »Lass uns weiterreiten.«

Aber die Worte seiner Frau gingen ihm nicht mehr aus dem Kopf. Würde ihn die Vergangenheit selbst in Bourges und nach so vielen Jahren noch einholen?

Sein Onkel, bei dem er nach dem Brand gelebt hatte, hatte nie wieder über seine Eltern gesprochen, und er selbst hatte ihn nie zu fragen gewagt, was damals eigentlich wirklich geschehen war, auch nicht, als er längst erwachsen gewesen war. Jetzt war es zu spät, denn sein Onkel war vor drei Jahren verstorben und hatte sein Wissen für immer mit ins Grab genommen.

War es möglich, dass Maries Krankheit etwas mit der seiner Mutter zu tun hatte? Seine Mutter hatte ebenfalls unter diesen merkwürdigen Anfällen gelitten, die immer dann aufgetreten waren, nachdem sie jemanden geheilt hatte.

Die Erkenntnis traf ihn wie ein Schock.

Gott wollte ihn strafen, weil er seine Herkunft verleugnet hatte!

Nicht einmal Eleonore ahnte, dass seine Mutter eine Jüdin gewesen war.

Er spürte, wie die alte Wut und der Hass wieder in ihm hochstiegen. Gott hatte sie damals im Stich gelassen, obwohl sie Ihm aus ganzem Herzen vertraut hatten, und das würde er Ihm nicht verzeihen. Alle hatten sie ihn alleingelassen, und er hatte sein Herz verschlossen, weil er niemals mehr einen so großen Schmerz hatte erleiden wollen. Er hatte gelernt, nur sich selbst zu vertrauen, und es mit eisernem Willen unaufhaltsam zu Ansehen und Reichtum gebracht. Das konnte und wollte er jetzt nicht aufs Spiel setzen. Niemand hatte bisher von seinem Geheimnis erfahren. Doch nun drohte durch Marie alles ans Licht zu kommen.

Er versuchte sich damit zu beruhigen, dass Nürnberg weit genug von Bourges entfernt war. Immerhin war er ein angesehener Bürger, der seine Steuern bezahlte und darüber hinaus die Kirche durch großzügige Spenden unterstützte.

Marie würde im nächsten Sommer das fünfzehnte Lebensjahr erreichen und damit heiratsfähig sein. Und damit lag auch die Lösung seines Problems nahe. Er beschloss, ihr einen Ehemann weit weg von Bourges zu suchen und diesen über eine großzügige Aussteuer, die Marie mit in die Ehe bringen würde, zu unterstützen. Darüber hinaus würde er Radulfus, dem Bischof von Bourges, einen halben Ballen von dem golddurchwirkten Brokatstoff, den er in Venedig erworben hatte, stiften, um Gott gnädig zu stimmen.

Die Bluterbin

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