Читать книгу Die Bluterbin - Hildegard Burri-Bayer - Страница 14

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Am nächsten Tag erschien sie wieder in der Kathedrale, ganz wie er es sich erhofft hatte. Er wartete vor dem Portal auf sie.

»Darf ich Euch nach Hause begleiten? Es ist nicht ganz ungefährlich für ein junges Mädchen, allein in der Dämmerung zu gehen.«

Marie sah überrascht auf und betrachtete Robert genauer. Sie konnte kaum glauben, was sie gerade gehört hatte. Er schien tatsächlich ihre Gesellschaft zu suchen, anstatt sie zu meiden. Die hellbraunen Augen in seinem offenen, klaren Gesicht wirkten freundlich und passten gut zur Farbe seiner Haare, die ihm bis auf die Schultern fielen.

Zudem wirkte er vertrauenerweckend und war ihr ohne Zögern zu Hilfe geeilt, als sie zu stürzen drohte. Schüchtern hielt sie seinem Blick stand und nickte dann unmerklich mit dem Kopf.

Sie gingen los, und Robert hatte zunächst Mühe, sich ihren Schritten anzupassen, obwohl er viel größer war als sie.

Marie wagte nicht zu sprechen, aus Angst, es könnte dumm klingen. Schweigend lief sie neben ihm her und genoss mit flatterndem Herzen die unaufdringliche Gesellschaft ihres Begleiters. Robert schwieg ebenfalls. Es genügte ihm, einfach nur neben ihr herzugehen und auf diese Weise bei ihr sein zu können.

Viel zu schnell erreichten sie die Kaufmannsgasse.

Marie blieb vor einem stattlichen Fachwerkhaus stehen.

»Hier wohne ich«, wendete sie sich erstmals an ihn. »Es war sehr freundlich von Euch, mich zu begleiten.«

Zögernd reichte sie ihm ihre schmale Hand.

Robert sah ihr in die glänzenden Augen.

»Es war mir ein Vergnügen, und wenn ich darf, werde ich Euch das nächste Mal wieder begleiten.« Da fiel ihm ein, dass er noch nicht einmal ihren Namen wusste. »Verratet Ihr mir, wer Ihr seid?«

»Ich heiße Marie Machaut, und mein Vater ist der Tuchhändler Jean Machaut«, erwiderte Marie leise.

Maries offensichtliche Verlegenheit gab Robert seine Selbstsicherheit zurück.

»Ich bin ein Esel, verzeiht mir«, begann er fröhlich. »Ich verlange von Euch, mir Euren Namen zu nennen, ohne mich selbst vorgestellt zu haben. Sicher interessiert es Euch, wer Euch nach Hause begleitet hat.«

Er wartete ihre Antwort nicht ab, sondern fuhr lächelnd fort.

»Mein Name ist Robert de Forez, Sohn des Grafen Guido de Forez, ich absolviere gerade mein Studium an der Kathedralenschule.«

Darauf wandte sich Marie, ohne ein weiteres Wort zu sagen, um und lief auf die Haustüre zu.

»Es war schön, mit Euch zu reden, Marie Machaut«, rief er ihr nach.

Bevor sie die Türe öffnete, drehte sie sich noch einmal um. Grüßend hob Robert seine Hand.

Wie im Traum eilte Marie die steile Treppe zu ihrer Kammer hinauf und sah Robert von ihrem Fenster aus nach, bis er in einer der Gassen verschwunden war.

Ihr Herz klopfte noch immer ungestüm in ihrer Brust, und sie konnte kaum glauben, was sie gerade erlebt hatte. Sie hörte, wie Elsa die Treppe heraufkam. Eigentlich wäre sie gerne noch eine Weile allein gewesen, doch schon öffnete sich die Türe, und Elsa betrat die Kammer.

Sie sah das Leuchten in Maries Augen und die feine Röte auf ihren hellen Wangen. Einmal mehr wurde ihr voller Sorge bewusst, dass Marie kein Kind mehr war. Aus dem kleinen blassen Mädchen von einst war im letzten halben Jahr eine wunderschöne junge Frau geworden. Die plötzliche Aufregung und die sichtbare Veränderung im Gesicht ihres Schützlings machten sie misstrauisch.

Da konnte nur ein Mann dahinterstecken, irgend so ein Kerl mit schmutzigen Gedanken, der sich an ihr kleines Mädchen herangemacht hatte, um ihre Unerfahrenheit auszunutzen.

Sie kniff die Augen zusammen und sah Marie auffordernd an.

»Erzähl mir, was geschehen ist«, sagte sie streng.

Marie seufzte. Elsa konnte man einfach nichts vormachen, und so blieb ihr schließlich nichts anderes übrig, als ihr von ihrer Begegnung mit Robert zu erzählen.

Die Magd schnappte aufgeregt nach Luft. Es war genau das eingetreten, was sie befürchtet hatte, und noch dazu zu einem Zeitpunkt, zu dem sie allein die Verantwortung für das Mädchen trug.

In diesem Moment bedauerte sie beinahe, dass Maries Eltern nicht hier waren. Bei dem Gedanken an die Kathedralenschüler stieg jedoch heller Zorn in ihr hoch.

In feinen Kleidern liefen diese Burschen durch die Stadt und machten den Mädchen mit schönen Worten Versprechungen, die sie danach nicht einzuhalten gedachten.

»Du wirst nicht mehr allein zur Kathedrale gehen«, donnerte sie los. Maries Augen füllten sich mit Tränen. Das erste Mal in ihrem Leben war sie wirklich glücklich, und nun wollte nicht einmal Elsa sie verstehen.

Flehend sah sie Elsa an.

»Robert wollte mich nur beschützen«, verteidigte sie ihn. »Er hat nichts Unrechtes im Sinn. Und es war so schön, von ihm begleitet zu werden.«

Ein Schatten überzog ihr schmales Gesicht. »Wenn Robert erst einmal von meiner Krankheit erfahren hat, wird er sowieso an mir vorbeigehen, genau wie die anderen Menschen es auch tun.«

Tränen stiegen ihr in die Augen, als sie daran dachte, dass niemals jemand zuvor so aufmerksam und liebevoll zu ihr gewesen war wie Robert. Sie schluckte.

»Du brauchst dich also nicht zu sorgen. Ich werde ihm aus dem Weg gehen.«

Elsa war von Maries Worten nicht sehr überzeugt, aber sie brachte es nicht länger über sich, weiterhin so streng mit ihr zu sein.

»Du musst mir versprechen, dass du mir erzählst, wenn der junge Mann dich noch einmal anspricht, und dass du heimkehrst, bevor die Dämmerung hereinbricht.«

Dankbar sah Marie sie an.

Es war bereits so dunkel in der Kammer, dass Elsa die Talglampe von der Wand nahm und sie anzündete.

»Es ist Zeit zum Essen«, erklärte sie daraufhin und schritt mit der Lampe in der Hand die Treppe zur Küche hinunter. Marie folgte ihr. Sie verspürte keinen Hunger, aber sie wollte Elsa nicht noch mehr erzürnen, indem sie nichts aß.

Uns so zwang sie sich, etwas von der Bohnensuppe zu essen, die Elsa vor sie auf den Tisch gestellt hatte, und begab sich anschließend sofort in ihre Kammer. Es war kalt in dem großen Bett ohne die Wärme der Schwestern, und Marie kroch tiefer unter die Decke. Immer wieder musste sie an Robert denken, und es dauerte lange, bis sie endlich in einen unruhigen Schlaf gesunken war.

Als sie am nächsten Tag aus der Kathedrale kam, erwartete Robert sie bereits. Er sah sie so liebevoll an, dass sie hören konnte, wie ihr das Herz in der Brust schlug. Wie selbstverständlich lief er neben ihr her, und Marie ließ es geschehen.

Sie brachte es einfach nicht fertig, ihn abzuweisen, obwohl sie es Elsa versprochen hatte. Einmal noch wollte sie die Freude über seine Begleitung genießen.

»Besucht Ihr die Kathedrale jeden Tag?«, fragte Robert, nachdem sie einige Schritte gegangen waren.

»Ich komme, so oft ich kann«, erwiderte Marie mit leuchtenden Augen. »In der Kathedrale ist alles so erhaben und heilig, dass ich es manchmal kaum wage zu atmen, um die Stille dort nicht zu stören.«

Erschrocken sah sie zu Robert auf. Ohne es zu wollen, hatte sie ihm ihre geheimsten Gedanken verraten. Ob er sie jetzt wohl für töricht halten würde? Doch Robert lächelte nur.

»Ich kann Euch gut verstehen. Manchmal fällt es mir schwer zu glauben, dass es tatsächlich Menschen waren, die dieses gewaltige Bauwerk erschaffen haben.«

Sie bogen in die Gasse ein, in der Marie wohnte. Entschlossen blieb Marie stehen.

»Danke, dass Ihr mich begleitet habt, aber es ist besser, wenn ich jetzt allein weitergehe. Wenn Elsa Euch zusammen mit mir sieht, lässt sie mich nicht mehr in die Kathedrale gehen. Sie trägt die Verantwortung für mich, solange meine Eltern fort sind.«

Ängstlich sah sie ihn an. Jetzt würde er sicher ärgerlich werden, doch Robert nickte nur ernst mit dem Kopf.

»Eure Elsa hat ganz recht, wenn sie Euch vor den Männern warnt«, gab er der Magd recht. »Obwohl ich wirklich nichts Böses im Sinn habe, das glaubt Ihr mir doch, oder?«

Marie nickte erleichtert.

»Dann werde ich jetzt gehen.«

Er wandte sich ab und lief zurück. Marie blieb stehen und sah ihm nach. Sie hatte sich daran gewöhnt, den Menschen in ihrer Umgebung auszuweichen, weil es ihr wehtat, mit anzusehen, wie sie bei ihrem Anblick hastig das Kreuzzeichen schlugen und mit abgewandtem Gesicht an ihr vorbeiliefen. Die Gassenjungen aus der Umgebung riefen ihr üble Beschimpfungen nach, vermieden es aber tunlichst, ihr zu nahe zu kommen. Noch wusste Robert nichts von ihren Krämpfen. Daher würde es leichter und entschieden besser für sie sein, ihn nicht mehr wiederzusehen, als eines Tages seine Ablehnung ertragen zu müssen.

Doch als sie später in ihrer Kammer lag, konnte sie nicht anders, als an ihn zu denken. Jeden Augenblick mit ihm würde sie wie einen kostbaren Schatz in ihrem Herzen bewahren. Ihre Hand schloss sich um den kleinen Jadevogel.

»Du hast mir Glück gebracht, kleiner Vogel«, flüsterte sie leise. Marie hatte sich damit abgefunden, niemals dazugehören zu dürfen. Gott hatte es so gewollt, und sie musste dankbar dafür sein, dass Er ausgerechnet sie auserwählt hatte, um die Leiden anderer Menschen zu lindern, auch wenn das nicht leicht für ihre Familie war, so war es anscheinend doch ihr Schicksal, das sich nun einmal nicht mehr ändern ließ. Nichtsdestoweniger lebte tief in ihrem Inneren der Wunsch, irgendwann ein normales Leben führen zu können und einen Mann und Kinder zu haben.

Am nächsten Tag wartete Robert vergeblich am Portal auf Marie, und auch die Tage darauf ließ sie sich nicht sehen. Robert konnte an nichts anderes mehr denken als an sie. Sie war das schönste Mädchen, das er je getroffen hatte, und der Gedanke, sie vielleicht nie wiederzusehen, war unerträglich für ihn. Sobald er die Augen schloss, sah er ihr Gesicht vor sich, und nie gekannte Sehnsucht erfüllte jede Faser seines Körpers.

»Was ist los mit Euch?«, fragte Bernard nun schon zum dritten Mal. »Ihr seid doch nicht etwa verliebt? Wollt Ihr mir nicht sagen, wer sie ist? Kommt schon, ich bin Euer Freund. Ihr könnt sie mir wenigstens vorstellen«, drängte er. »Ihr wisst doch, dass Ihr mir vertrauen könnt.«

Er war neugierig darauf, das Mädchen kennenzulernen, das es geschafft hatte, sich in Roberts Gedanken zu schleichen und ihn von seinem Studium abzulenken. Sie musste etwas ganz Besonderes sein, und es war nicht anständig von Robert, ihm das Mädchen vorzuenthalten.

Aber Robert gab ihm keine Antwort. Er hatte ihm nicht einmal zugehört. Angestrengt dachte er darüber nach, wie er es anstellen sollte, Marie wiederzusehen. Er musste einfach herausfinden, ob sie seine Gefühle erwiderte, doch was würde dann sein? Sein Vater hatte bereits Heiratspläne gemacht, die ihn betrafen, und er würde ihm nicht ohne Weiteres erlauben, die Tochter eines Tuchhändlers zu heiraten. Er musste unbedingt mit ihm reden, doch zuvor musste er erst mit Marie sprechen. Es war zum Verzweifeln. Ob er es wohl wagen konnte, ihr einen Besuch abzustatten? Kopfschüttelnd verwarf er den Gedanken wieder. Maries Eltern würden ihn nicht empfangen, solange sie nicht von seinen ehrbaren Absichten überzeugt waren, doch dazu brauchte er erst die Erlaubnis seines Vaters.

Bernard trat ungeduldig von einem Fuß auf den anderen. Roberts Verhalten verletzte ihn, und er fühlte sich von ihm zurückgesetzt.

»Wenn Ihr hier versauern wollt, dann ohne mich. Ich werde mir noch ein bisschen die Beine vertreten«, teilte er ihm mit und wartete noch einen Augenblick, ob Robert es sich nicht doch noch anders überlegen würde, dann warf er sich seinen Umhang über und verließ ohne ein weiteres Wort die Schlafkammer.

Der nächste Tag war ein Sonntag. Marie ging mit Elsa und Pierre in die Kathedrale, um an der heiligen Messe teilzunehmen. Robert wartete am Portal auf sie, er wollte sie wenigstens sehen, wenn er schon nicht mit ihr sprechen durfte.

Marie wurde es abwechselnd heiß und kalt, als sie ihn entdeckte. Ihre Blicke trafen sich für eine kleine Ewigkeit, und Robert spürte, wie ihm warm ums Herz wurde. Obwohl sich Hunderte von Menschen um sie herum in der Kathedrale drängten, hatte er das seltsame Gefühl, ganz allein mit Marie zu sein.

Und von diesem Augenblick an war er sich sicher, dass ihm Marie zum Schicksal werden würde.

Die Bluterbin

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