Читать книгу Die Bluterbin - Hildegard Burri-Bayer - Страница 8
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ОглавлениеMarie war gehorsam nach oben in ihre Kammer gegangen, wo sie nun traurig aus dem halb offenen Fenster hinaussah, eine bauliche Neuerung, die längst nicht jedes Haus in der Stadt aufwies und die den neu erworbenen Reichtum ihrer Familie zur Schau stellte. Denn nur wenige Bürger konnten sich ein Fenster aus Glas leisten, durch das man hindurchsehen konnte, als ob es gar nicht vorhanden wäre.
Katharinas Ablehnung tat ihr weh, obwohl sie ihre Schwester gut verstehen konnte.
Sie allein war schuld daran, dass ihre Familie ins Gerede gekommen war, und diese Schuld lag schwer wie ein Mühlstein auf ihrer Seele. Nach dem Vorfall in der Kathedrale hatte Katharina sie wütend beschimpft, aber ihre Stimme war dabei vor lauter Angst ganz schrill geworden. Marie hatte es nicht ertragen können, Katharina so voller Angst zu sehen.
»Die alte Frau hatte solche Schmerzen, ich musste ihr einfach helfen«, hatte sie ihr zu erklären versucht, aber Katharina hatte sie nur verständnislos angestarrt.
»Was willst du damit sagen?«
»Ich habe sie geheilt«, flüsterte Marie zitternd. Flehend sah sie Katharina an, in der Hoffnung, dass diese jetzt verstehen würde, dass sie keine Wahl gehabt hatte, doch nach einem Blick in ihr verkniffenes Gesicht wusste sie, dass ihre Hoffnung vergeblich war. Eine Stimme tief in ihrem Inneren hatte sie bisher davor gewarnt, darüber zu reden, aber der Wunsch, Katharinas Zuneigung zu erringen, war für einen Augenblick stärker gewesen.
Katharina hatte wortlos ausgeholt und ihr so heftig ins Gesicht geschlagen, dass ihre Wange brannte.
»Wie kannst du es wagen, mir so frech ins Gesicht zu lügen und dann auch noch Gott zu lästern. Gib doch endlich zu, dass du dich nur wichtig machen wolltest.« Ihre Stimme hatte sich beinahe überschlagen vor lauter Wut.
»Ich will nichts mehr mit dir zu tun haben. Hast du verstanden? Du bist nicht ganz richtig im Kopf und außerdem auch noch von Dämonen besessen. Niemand wird jemals etwas mit einer Besessenen wie dir zu tun haben wollen.«
Der Hass, der in Katharinas Stimme mitschwang, war mehr, als Marie ertragen konnte. Flehend streckte sie Katharina ihre Hand entgegen, doch Katharina hatte sie zur Seite gestoßen und war gegangen.
Danach hatte sie es nie wieder gewagt, mit jemandem über diese Dinge zu reden, die ihr selbst unerklärlich waren.
Eine Weile beobachtete Marie die kleinen Wölkchen, die mit unglaublicher Langsamkeit über den tiefblauen Himmel zogen. Danach wanderten ihre Gedanken wie immer, wenn sie Zeit zum Träumen fand, unweigerlich zur Kathedrale und der Anwesenheit Gottes, der ihr unerreichbar schien. Doch allein der Gedanke, dass es Ihn gab, war ein großer Trost für sie.
Sobald Marie die Menschen und ihre schmalen Häuser mit Gott und der mächtigen Kathedrale von Bourges verglich, konnte sie sich Seine unermessliche Größe besser vorstellen. Wie gerne hätte sie einmal mit Ihm gesprochen, um zu erfahren, warum Er ausgerechnet sie dafür auserwählt hatte, den Menschen ihre Schmerzen zu nehmen. Oder bildete sie sich das alles nur ein? War sie vielleicht doch nicht ganz richtig im Kopf, wie Katharina behauptet hatte? Als sie der alten Frau in der Kathedrale in das schmerzverzerrte Gesicht gesehen hatte, war es zu spät gewesen, um so zu tun, als ob sie nichts gesehen hätte. Sie hätte es auch nicht übers Herz gebracht. Es wäre nicht richtig gewesen.
Dennoch erfüllte Marie tiefe Scham, weil sie ihrer Familie so viel Sorgen bereitete. Die Ablehnung ihrer Eltern und Schwestern empfand sie deshalb als gerechte Strafe. Sie gab sich die größte Mühe, es allen recht zu machen, und hoffte verzweifelt, dass ihre Familie ihr irgendwann verzeihen und ihr die Liebe entgegenbringen würde, nach der sie sich mehr als alles andere sehnte. Aber sie durfte sich nicht so treiben lassen, sondern musste sich zusammennehmen.
Ohne weiter auf den Gestank zu achten, der durch die feuchte Schwüle noch verstärkt wurde, wandte sich Marie nun wieder den bunt gekleideten Menschen zu, die durch die Gasse eilten. Mitten im Gewühl entdeckte sie auch einen grauen Schecken, der einen breiten, mit Zunder beladenen Wagen zog und dabei die genüsslich vor ihm im Schlamm suhlenden Schweine aufschreckte.
Das Fell des kräftigen Pferdes glänzte vor Schweiß, als es gehorsam die Befehle seines Herrn befolgte, doch dann steckte es fest.
Direkt vor dem Wagen war eine Bande halbwüchsiger Gassenjungen gerade damit beschäftigt, mit Holzstecken in der Hand eine neue Rangordnung unter sich auszukämpfen, und unternahm daher keinerlei Anstalten, zur Seite zu treten, um das Fuhrwerk vorbeizulassen.
»Gebt endlich den Weg frei, ihr nutzlosen Kakerlaken«, schimpfte der Zunderhändler.
In seinem mehrfach gestreiften Überrock war er eine imposante Erscheinung, zumal er seine Worte auch noch unterstrich, indem er drohend die lange Peitsche hob.
Die Jungen bedachten ihn ihrerseits mit unflätigen Worten, gaben dann aber endlich nach und drückten sich eng an die Häuserwände, um den Wagen passieren zu lassen.
Plötzlich blitzte ein Feuerstrahl in der Hand eines der Jungen auf. Mit geübtem Griff entzündete er ein kleines Stück Zunder, das er aus seinem Beutel gezogen hatte, an einem Feuerstein, rannte hinter dem Zunderhändler her und warf den glimmenden Zunder auf den Wagen. Danach lief er, gefolgt von seinen Freunden, blitzschnell davon, um das weitere Geschehen aus sicherer Ferne zu verfolgen.
Voller Entsetzen konnte Marie beobachten, wie der Zunder Feuer fing und die Flammen sich in rasendem Tempo auf dem Wagen ausbreiteten.
Der Händler hob schnuppernd den Kopf und wandte sich, beunruhigt über den Brandgeruch, nach hinten. Die Ware auf dem Wagen stellte seinen gesamten Besitz da. Wenn er sie verlor, würden er und seine Familie den Winter über hungern müssen.
Als er sah, dass der Zunder auf dem Wagen brannte, kam Bewegung in seine behäbige Gestalt. Er sprang vom Kutschbock und begann verzweifelt und auf allen vieren die Zunderlappen, die bereits Feuer gefangen hatten, aus dem Wagen zu werfen. Dabei achtete er weder auf sein Pferd, das, beunruhigt durch den Brandgeruch, mit den schweren Hufen scharrte, noch auf seine Hände, an denen sich die ersten Brandblasen zeigten. Die Wut auf die verdammten Gassenjungen ließ ihn seine Schmerzen vergessen. Wie eine Wanze würde er jeden einzelnen von ihnen zerquetschen, wenn er ihn zwischen die Finger bekäme. Doch dazu blieb keine Zeit mehr. Er musste jetzt handeln.
Laut fluchend versuchte er zu retten, was noch zu retten war. Monatelang hatte er mit seinen Söhnen nach den begehrten Schwämmen gesucht und sie mühsam von den Bäumen geschnitten. Während seine Frau den minderwertigen gemeinen Feuerschwamm und den rotrandigen Baumschwamm zu Kappen, Hausschuhen und Trinkbechern weiterverarbeitete, hatte er die Zündwilligkeit der aus den Baumschwämmen gewonnenen Zunderlappen durch Einlegen in Urin und Holzaschenlauge verbessert, sie mit Holzschlägeln breit geklopft und anschließend zum Verkauf in gleich große Stücke geschnitten. Besondere Sorgfalt hatte er den höherwertigen Baumschwämmen zukommen lassen, die wegen ihrer blutstillenden Wirkung bei der Wundbehandlung unersetzlich waren. Mit der Arbeit eines halben Jahres auf dem Wagen hatte er schließlich den weiten Weg in die Stadt angetreten. Die Städter waren auf seinen Zunder angewiesen, da die Wälder in der näheren Umgebung längst abgeholzt und mit ihnen zusammen auch die Baumschwämme verschwunden waren.
Der Holzverbrauch der Städter war so hoch wie nie zuvor. Allein für den Bau einer einzigen der unzähligen Kirchen wurde das Holz von ungefähr zwanzigtausend Eichen benötigt. Die Städter benötigten außerdem immer mehr Holz für Kisten, Truhen, Besteck, Badezuber und Kerzenleuchter. Auch der Bedarf zum Kochen und Heizen im Winter stieg ständig weiter an. Dazu kam noch der Verbrauch der Handwerker.
Die Schmieden brauchten Holz für ihre Öfen, genauso wie die Bäcker, Töpfer, Kutschen-, Schiffs- und Brückenbauer. Doch am meisten Holz verbrauchten die Köhler, die das Holz zur Kohle verschwelten und damit die Ziegel- und Kalkbrennereien, aber auch die Salinen im Umkreis belieferten.
Einige Funken sprangen auf den Überrock des Händlers, der sofort zu brennen begann. Zwar versuchte er eilig, sich den brennenden Umhang vom Leib zu reißen, doch dazu musste er sich erst einmal wieder aufrichten.
Im gleichen Moment verlor das Kutschpferd endgültig die Nerven. Angstvoll schnaubend raste es in blanker Panik los. Durch den plötzlichen Ruck, mit dem sich der Wagen in Bewegung setzte, verlor der Zunderhändler das Gleichgewicht und stürzte rückwärts in den brennenden Zunder.
Der herrenlos gewordene Wagen raste in vollem Tempo auf den Marktplatz zu, der um diese Zeit hoffnungslos überfüllt war.
Fahrendes Volk und allerlei Gesindel hatten sich dort unter die Handwerker, Kaufleute und Bauern gemischt. Die Menschen, die den Markt aufgesucht hatten, um zu kaufen, Beziehungen zu knüpfen oder einfach nur ein Schwätzchen zu halten, ahnten nichts von der Gefahr auf vier Rädern, die auf sie zukam.
Ahnungslos bemühten sie sich darum, einen Platz im Schatten zu finden, um so wenig wie möglich von der gnadenlos brennenden Sonne abzubekommen. Dicht gedrängt umrundeten sie feilschend und streitend die verschiedenen Händler, Handwerker und Kesselflicker, die ihre Waren teils in überdachten Buden, teils auf grob gezimmerten, auf Böcken aufliegenden Ladentischen feilboten, an denen farbig bemalte Schilder mit den Namen der Standbesitzer hingen.
Die Standbesitzer, deren Stände in der prallen Sonne standen, versuchten durch das provisorische Aufspannen von Tüchern etwas Schatten zu erhalten, was den Nachteil besaß, dass der Blick auf die feilgebotenen Waren stark eingeschränkt wurde. Aus diesem Grund priesen sie lauthals ihre Waren an, um die Aufmerksamkeit der Leute doch noch auf sich zu lenken. Es war ein fast aussichtsloser Versuch, den vorherrschenden Lärm von Menschen und Tieren zu übertönen.
Der Wagen hatte jetzt das Ende der schmalen Gasse erreicht, die sich öffnete und direkt in den Marktplatz mündete. Das schrille Kreischen des Zunderhändlers, dessen Kleider lichterloh brannten, steigerte die Panik des Pferdes noch mehr. Als das Tier dem ersten Stand auswich, geriet der Wagen ins Schleudern. Er überschlug sich und zerbarst mit lautem Krachen in mehrere Einzelteile. Brennende Zunderlappen mischten sich mit den umherspritzenden Holz- und Eisenstücken und flogen in die Menge, die sich verzweifelt vor den Pferdehufen in Sicherheit zu bringen versuchte.
Der Zunderhändler wurde aus dem Wagen geschleudert und knallte gegen den Zaun eines Töpferstandes, wo er bewusstlos liegen blieb, während sich das mächtige Kutschpferd blind vor Angst weiter in die vor Panik schreiende Menschenmenge drängte, der nur wenig Platz zum Ausweichen blieb. Und so nahm das Unglück seinen Lauf.
Eine Frau, mit einem kleinen Mädchen an der Hand, sank getroffen von einem Hufschlag zu Boden. Ihre Tochter wurde zur Seite geschleudert, wo sie still und mit seltsam verdrehten Gliedern liegen blieb.
Der Kaufmann Pierre Gilbert achtete nicht auf die ängstlichen Schreie hinter sich, denn er war gerade auf dem Weg in die gegenüberliegende Schenke.
Ein kühler Krug Wein würde genau das Richtige sein, um seine ausgedörrte Kehle zu befeuchten. Zufrieden mit dem Geschäft, das er im Zelt des Gewürzhändlers gerade abgeschlossen hatte, war er ins Freie getreten und blinzelte noch immer in die Sonne, weil sich seine Augen noch nicht an das grelle Tageslicht gewöhnt hatten.
Da tauchte plötzlich wie aus dem Nichts das mächtige Kutschpferd vor ihm auf. Abwehrend hob er die Arme und fuchtelte wild mit ihnen durch die Luft.
Das Pferd bäumte sich erschrocken auf und wieherte schrill.
Trotz seiner Körperfülle erwies sich der Kaufmann als äußerst beweglich. Blitzschnell warf er sich zur Seite, noch bevor die schweren Hufe des Pferdes wieder den Boden berührten und es seine wilde Flucht fortsetzte.
Auf seinem Weg zertrampelte es alles, was ihm in die Quere kam. Buden und Stände brachen zusammen, Splitter und Verkaufsgegenstände flogen durch die Luft und verletzten auch Menschen, die nicht unmittelbar die Bahn des Tieres gekreuzt hatten. Mit großen Sprüngen setzte der verängstigte Schecke über Verkaufstische, wich mit Stöcken fuchtelnden Menschen aus und überrannte dafür andere, die nicht schnell genug etwas zur Hand hatten, womit sie das Pferd abwehren konnten, bis es endlich das andere Ende des Marktplatzes erreicht hatte und in eine ruhige Gasse gelangte. Schwer atmend und aus mehreren Wunden blutend blieb es zitternd vor Angst stehen.
Marie hielt es nicht länger in ihrer Kammer. Ohne weiter darüber nachzudenken, dass es ihr verboten war, das Haus zu verlassen, lief sie die schmale Treppe hinunter und folgte dem Wagen.
Nach wenigen Minuten erreichte sie den Markt und sah entsetzt auf die Verheerung, die durch den dummen Streich der Gassenjungen ausgelöst worden war. Eine Schneise der Zerstörung zog sich mitten durch den Marktplatz, und überall lagen mehr oder weniger schwer verletzte Menschen auf dem Boden.
Maries Herz zog sich vor Mitleid zusammen, als sie auf den Zunderhändler zulief, der gerade wieder stöhnend zu sich kam.
Trotz der Hitze begann sie zu frieren, ihr Atem ging stoßweise, und ihr war zum Weinen zumute.
Die Blicke der Menschen folgten dem zierlichen Mädchen, dessen außergewöhnliche Schönheit sie sofort in ihren Bann zog. Ihre helle, durchscheinende Haut ließ sie noch zarter wirken, und ihre Bewegungen waren voller Anmut, als sie sich über den schwer verletzten Mann beugte.
Eine alte Frau bekreuzigte sich mehrmals hintereinander. Sie war ärmlich gekleidet, und die Gicht hatte ihren Rücken so verkrümmt, dass sie ihren Hals verbiegen musste, um geradeaus sehen zu können.
»Ein Engel ist vom Himmel herabgestiegen«, murmelte sie und fuhr fort, sich zu bekreuzigen, während ihre Blicke dem Mädchen folgten.
Der Zunderhändler lag hilflos auf dem Rücken und erinnerte an eine fette Küchenschabe.
»Meine Beine«, schrie er verzweifelt. »Ich kann meine Beine nicht mehr bewegen.«
Marie strich ihm mitfühlend über die verschwitzte Stirn, die vom Ruß geschwärzt war, und begann, seine Verletzungen zu untersuchen. Die Haut des Mannes wies schwere Verbrennungen auf und war überall mit Brandblasen überzogen, die an manchen Stellen bereits aufplatzten.
Mit dem Erwachen aus der Bewusstlosigkeit waren auch die unsäglichen Schmerzen wieder zurückgekehrt.
Ein gequälter Ausdruck verzerrte seine Züge, verwandelte sich aber in ehrfürchtiges Staunen, als er in die schönen Augen des Mädchens blickte, die dunkel und tiefgründig waren. Auch ihm erschien das Mädchen wie ein Engel.
»Bin ich im Himmel?«, fragte er heiser. Marie musste lächeln und schüttelte sanft ihren Kopf. Sie spürte, wie die Schmerzen des Händlers von ihrem Körper Besitz ergriffen und ihre Sinne langsam schwanden.
Im Gegenzug begannen sich die Züge des Zunderhändlers immer mehr zu entspannen, bis das Mädchen schließlich bewusstlos neben ihm zusammensank und wie von unsichtbaren Händen geschüttelt wurde. Ihre unschuldigen, schönen Züge hatten nichts mehr mit der Fratze gemein, zu der sich ihr Gesicht jetzt verzerrte. Heller Schaum rann ihr aus den Mundwinkeln, während immer neue Krämpfe ihre Glieder in bizarr wirkende Zuckungen versetzten.
Der Zunderhändler erhob sich schwerfällig und strich sich die vom Rauch geschwärzten Haare aus der Stirn. In seinem Gesicht stand ein Ausdruck von Ungläubigkeit geschrieben, als er auf seine Hände herabsah. Seine Schmerzen waren vollständig verschwunden, genau wie die Brandblasen an seinen Händen. Eine nie gekannte Leichtigkeit beschwingte ihn. Es war wie ein Wunder.
Eine rasch größer werdende Menschenmenge umringte ihn und das Mädchen. In den Gesichtern der Menschen standen Sensationslust und Neugier.
Ein kleinwüchsiger Narr mit viel zu großem Kopf und spitzen, abstehenden Ohren drängte sich entschlossen nach vorne. Die Zuschauer wichen zurück, als er auf krummen Beinen um das bewusstlose Mädchen herumsprang und obszöne Grimassen in die Menge schnitt.
Als er sich der Aufmerksamkeit aller sicher war, die er wie die Luft zum Atmen brauchte, begann er in einer übertriebenen Darstellung, die Zuckungen des Mädchens zu imitieren, und stieß dabei kurze, schrille Schreie aus, die direkt aus der Tiefe der Hölle zu kommen schienen.
Ein bösartiger, hässlicher Kobold aus der Unterwelt, der für Satan tanzte. »Das geht nicht mit rechten Dingen zu«, flüsterte die krumm gewachsene Frau von vorher ängstlich ihrer Nachbarin zu, doch obwohl sie große Angst hatte, gelang es ihr dennoch nicht, ihren Blick von dem traurigen Schauspiel abzuwenden.
»Es ist Teufelswerk«, kreischte eine dürre Person nicht weit von ihr entfernt und wies mit dem Finger auf das zuckende Mädchen. »Die Dämonen der Hölle sind in sie gefahren und zeigen endlich ihr wahres Gesicht.«
Der Zunderhändler war kein gelehrter Mann. Er konnte weder lesen noch schreiben und hatte das Denken über höhere Dinge bisher dem Klerus überlassen. Aber nun beschlich ihn ein eigenartiges Gefühl, und es war ihm, als ob eine Stimme in seinem Inneren ihm befehlen würde, das Mädchen vor dem lärmenden Mob zu beschützen.
»Weiß irgendjemand, wer sie ist?«, fragte er und durchbrach damit für einen Moment die sich langsam aufbauende ungute Stimmung.
»Sie ist die Tochter des Tuchhändlers Jean Machaut, der erst vor wenigen Jahren in die Stadt gekommen ist. Sein Haus befindet sich dort drüben in der Kaufmannsgasse«, antwortete eine Frau.
Ohne sich weiter um die Menge zu kümmern, hob der Kutscher das Mädchen daraufhin hoch und lief mit weit ausholenden Schritten auf die angegebene Gasse zu. Er machte sich große Sorgen um sein Pferd, doch zuerst wollte er das Mädchen in Sicherheit bringen.
Schon von Weitem sah er das Zunftzeichen des Tuchhändlers, das auf ein Schild neben dem Eingang gemalt war. Noch bevor er klopfen konnte, wurde ihm die Türe bereits von Elsa geöffnet, der nicht entgangen war, dass Marie das Haus verlassen hatte.
Seitdem hatte sie immer wieder ihre Arbeit unterbrochen und war ans Fenster getreten, um in die Gasse hinunterzusehen, in der Hoffnung, Marie dort zu entdecken, bevor Eleonore ihr Verschwinden bemerken würde.
Es war noch nie vorgekommen, dass das Mädchen sich den Anordnungen seiner Mutter widersetzt hatte, und Elsa machte sich ernsthafte Sorgen. Ihre Sorge wuchs noch mehr, als sie Marie nun in den Armen des nach Rauch stinkenden und von Ruß geschwärzten Zunderhändlers entdeckte. In seinen dunklen Augen stand die Angst um Marie, aber auch seine Unsicherheit deutlich geschrieben. Die Situation, in der er sich befand, schien ihm allerdings wenig zu behagen.
Ruhig und bestimmt forderte Elsa ihn auf, ihr zu folgen, und wies ihm den Weg zu Maries Kammer. Behutsam, als wäre sie zerbrechlich, legte der Mann das Mädchen auf das große Bett. Anschließend wurde er von Elsa wieder zur Tür begleitet.
»Sie ist ein Engel«, begann der Mann, aber Elsa gebot ihm zu schweigen. Warnend legte sie einen Finger auf ihren Mund und lauschte nach unten. Doch zu ihrer Erleichterung drang kein Laut aus den unteren Geschäfts- und Lagerräumen zu ihnen nach oben.
»Geht jetzt«, wies sie ihn an. »Ich muss mich um Marie kümmern.«
So leise wie möglich schloss sie die Türe hinter dem Zunderhändler und lief dann zurück in die Küche, wo sie gerade damit beschäftigt gewesen war, das Mittagessen vorzubereiten. Sie stellte den schweren Eisenkessel mit dem Gemüseeintopf zur Seite und machte sich sofort daran, Bitterwurz und Alraune aufzukochen. Dann eilte sie nach oben, um Marie den stärkenden und beruhigenden Trank zu verabreichen. Mit ein bisschen Glück würden Maries Mutter und ihre Schwester nichts bemerken, und Marie würde einer Strafe ob ihres Ungehorsams entgehen.