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Die Messe in Troyes war in jeder Hinsicht gut verlaufen. Jean hatte äußerst lohnende Geschäfte abgeschlossen und neue Kontakte nach Flandern und Venedig knüpfen können. Am letzten Abend entschloss er sich, in der Herberge »Zum roten Hahn« zu übernachten, in der sich während der Messe überwiegend Kaufleute aufhielten.

Die Unterkünfte in der Stadt waren zum jetzigen Zeitpunkt alle überfüllt, und die Wirte nutzten die Situation, indem sie die Preise kräftig anhoben.

Henry war am Stand geblieben, um den Wagen und die Pferde zu bewachen. Wie die meisten Angestellten und Knechte schlief er unter einer einfachen Zeltplane.

Und ebenso zogen es die weniger betuchten Händler im Sommer vor, unter freiem Himmel zu schlafen, anstatt die Nacht in einer stickigen, verdreckten Kammer und einem Bett voller Flöhe und Wanzen zu verbringen, für das man zudem noch teures Geld bezahlen musste.

Die Luft in dem verrußten Gastraum war schlecht und unerträglich stickig.

Der Geruch von Gebratenem und ranzigem Tran vermischte sich mit den Ausdünstungen der Gäste und etwas anderem Undefinierbarem, dem man besser nicht auf den Grund ging.

Über dem Feuer hing ein saftiger fettiger Braten, der von einem schmierigen Kerl bewacht und von Zeit zu Zeit gewendet wurde, damit er nicht anbrannte und schwarz wurde.

Jeans Magen machte sich mit einem lauten Knurren bemerkbar. Er fand einen Platz in der Nähe der steilen Treppe, die zu den Schlafkammern hinaufführte, und betrachtete das rege Treiben um sich herum, während er auf den Wirt wartete, um seine Bestellung aufzugeben.

Am Nebentisch saßen einige Kaufleute und Händler, die sich lautstark die Zeit mit Würfeln vertrieben. Ihre verschwitzten Gesichter waren vom Alkohol gerötet, und sie schienen schon eine ganze Weile hier zu sein, was darauf schließen ließ, dass auch sie gute Geschäfte getätigt haben mussten.

Die Tische in dem kleinen Gastraum waren allesamt besetzt, und die vielen Kreidestriche an den Wänden, mit denen der Wirt die Anzahl der bestellten Krüge markierte, zeigten, dass dieser ebenfalls ordentlich verdiente.

Neben dem Eingang räkelte sich eine abgetakelte Dirne mit rot bemalten Lippen auf dem Schoß eines Händlers, dem man unschwer ansehen konnte, dass er weit über den Durst hinaus getrunken hatte.

Seine linke Hand grabschte prüfend nach den schweren Brüsten der nicht mehr ganz jungen Frau. Er schien mit dem Ergebnis zufrieden, denn er erhob sich wankend und verschwand mit der Hure in einer der oberen Kammern.

Nicht weit von Jean entfernt versuchte ein anderes, nicht minder spärlich bekleidetes junges Mädchen mit langen dunklen Haaren vergeblich, die Aufmerksamkeit der spielenden Männer auf sich zu lenken. Verführerisch wiegte sie sich in den Hüften und zeigte ihren kleinen, festen Hintern, doch sie hatte weit weniger Glück als ihre ältere Kollegin. Die Männer waren zu sehr mit ihren Würfeln beschäftigt, um ihr Beachtung zu schenken.

Der Blick des Mädchens richtete sich daher nach einer Weile voller Hoffnung auf den Neuankömmling Jean, aber schon nach wenigen Minuten sah sie ein, dass sie sich auch hier umsonst bemühte, und begab sich daraufhin mit gelangweiltem Gesichtsausdruck zu der breiten, wurmstichigen Holztheke, hinter der verschiedene Wein- und Bierfässer standen.

Der neue Gast war noch entschieden zu nüchtern und würde erst essen und trinken wollen, bevor sie andere Bedürfnisse in ihm wecken konnte.

Jean hörte, wie der Wirt sie kräftig ohrfeigte und als faule Schlampe beschimpfte, bevor er sich endlich dazu bequemte, Jean seine Aufmerksamkeit zukommen zu lassen.

Fettige schwarze Haare hingen ihm in sein aufgedunsenes Gesicht, und sein halb geöffneter Mund zeigte eine Reihe teils verfaulter, teils gelber Zähne.

Mit energischen Schritten stapfte er auf Jean zu und musterte ihn ungeniert von oben bis unten.

»Bring uns noch einen Krug von deinem gepantschten Wein, oder willst du uns verdursten lassen?«, schrie ihm einer der Händler vom Nebentisch zu.

Der Wirt schien nicht im Geringsten beleidigt zu sein. Aus geröteten Augen stierte er auf seinen neuen Gast hinunter. Sein Atem roch nach billigem Wein.

»Bringt mir Essen und einen Krug von Eurem besten Wein«, verlangte Jean.

Der Wirt brüllte etwas in die Küche und kam bereits nach kurzer Zeit wieder mit dem bestellten Wein zurück.

Jean hatte den Krug jedoch schon längst geleert, als der Wirt endlich mit dem Essen kam und ihm auf einem speckigen Holzteller Selchfleisch, Kraut und dunkles Brot servierte. Dennoch bedankte er sich höflich und machte sich hungrig über sein Essen her. Er war fast fertig, als ein weiterer Gast den Schankraum betrat. Nach einem kurzen Blick auf die spielenden Kaufleute setzte er sich höflich grüßend zu Jean an den Tisch.

Der Mann war leicht untersetzt und mochte um die vierzig Jahre alt sein. Sein dunkles halblanges Haar war an den Schläfen bereits ergraut, und über seiner Nasenwurzel hatten sich tiefe Kummerfalten eingegraben.

Er trug einen leicht verschlissenen rot-blau gestreiften Mantel aus feinstem flandrischen Tuch und darunter eine blaue Hose aus dem gleichen Stoff. Schweigend beobachtete er Jean beim Essen.

Als der Wirt ihm seinen Wein brachte, stürzte er den Krug in einem Zug hinunter und bestellte sofort einen neuen, den er ebenfalls, ohne auch nur einmal abzusetzen, leerte. Aus trüben Augen starrte er auf den fleckigen Holztisch, dessen Oberfläche mit eingeritzten Sprüchen und Namen übersät war.

»Diese Juden sind gottlose Halsabschneider und Betrüger, man sollte sie allesamt aus der Stadt werfen«, sagte er nach einer Weile wie zu sich selbst.

Jean spuckte einen Knorpel aus, der sich beim besten Willen nicht klein kauen ließ, und sah von seinem leeren Holzteller auf.

Er entnahm den Worten seines Gegenübers, dass dieser Geldsorgen hatte.

»Wenn man sich einmal in den Klauen dieses raffgierigen Packs befindet, lassen sie einen nie wieder los«, fügte der Mann grimmig hinzu.

Der Wein machte ihn gesprächig, und Jean erfuhr, dass er Raymond Chandos hieß und wie er selbst Tuchhändler war. Auf dem Seeweg von Venedig nach Frankreich hatte er in einem Sturm seine gesamte Ware ans Meer verloren. Und so war ihm nichts anderes übrig geblieben, als sich bei einem der jüdischen Geldverleiher Geld zu borgen, um damit neue Handelsgüter kaufen zu können. Doch der Zins, den der Jude verlangte, war hoch und die unzähligen Zollstationen so teuer, dass er von seinem aufgenommenen Kredit nicht mehr herunterkam und ihm kaum mehr etwas zum Leben übrig blieb.

»Ich habe drei Söhne, doch ich kann sie kaum ernähren und finde keine Frau für sie. Wer gibt schon seine Tochter einem Mann zur Frau, dessen Vater hoch verschuldet ist? Jetzt haben sie alle drei beschlossen, sich dem von König Ludwig geplanten Kreuzzug anzuschließen. Sie werden in den Tod reiten, weil ich ihnen nicht einmal Schwerter und Rüstungen kaufen kann.« Seine Stimme troff vor Selbstmitleid.

Jean bestellte noch zwei Krüge Wein. Raymond Chandos schien ein aufrichtiger Mann zu sein, der schuldlos ins Unglück gestürzt war.

Er selbst würde sein gesamtes Handelsgut nicht einem einzigen Schiff anvertrauen. Schon seit Jahren verringerte er das Transportrisiko, indem er einen Teil seiner Stoffe auf dem Wasserweg und den anderen zu Land transportieren ließ.

Plötzlich begann eine Idee in Jeans Kopf Gestalt anzunehmen, die ihn nicht mehr losließ. Er beugte sich etwas vor, um sein Gegenüber noch etwas genauer mustern zu können. Raymonds leidenschaftsloses, klares Gesicht wirkte ehrlich und bestärkte ihn in seinem Vorhaben.

»Woher stammt Ihr, wenn ich fragen darf?«

Raymond hob erstaunt die Brauen. Er schien unschlüssig. Was konnte dieser zweifelsfrei erfolgreiche Kaufmann wohl für ein Interesse daran haben zu erfahren, woher er kam? Doch dann kam er zu dem Schluss, dass nun auch das keine Rolle mehr spielte.

»Aus Aurey«, erwiderte er daher gleichgültig.

»Dann habt Ihr einen weiten Weg auf Euch genommen, um an der Messe teilzunehmen«, stellte Jean fest.

Raymond sah ihn gequält an.

»Die Messe war meine letzte Hoffnung«, erwiderte er leise. »Aber ich habe gerade einmal so viel verkauft, dass ich dem verfluchten Juden seine Zinsen bezahlen kann.«

Jean richtete sich entschlossen auf.

»Ihr habt mir von Euren Sorgen erzählt, doch Ihr seid nicht der Einzige, der vor Kummer nicht in den Schlaf findet. Gott hat mich mit einer Tochter namens Marie gestraft, die unter einer merkwürdigen Krankheit leidet. Sie tritt nur hin und wieder auf und ist schnell wieder vorüber.

Auch ist sie ansonsten hübsch anzusehen, außerdem fleißig und bescheiden, doch die Leute in der Stadt zerreißen sich ihre Schandmäuler über uns, und meine Frau befürchtet, dass wir für die anderen beiden Töchter keinen Ehemann mehr finden werden, sollte sich Maries Krankheit noch weiter herumsprechen. Dabei sind wir alle gesund und ich glaube nicht, dass es an unserem Blut liegt. Es muss etwas anderes sein.«

Raymond hörte ihm gleichgültig zu. Er hatte noch nicht begriffen, worauf der Großhändler hinauswollte.

»Ich würde Marie gerne außerhalb von Bourges verheiraten. Sie wird im nächsten Jahr fünfzehn und ist damit heiratsfähig. Der Mann, der sie heiratet, wird eine großzügige Morgengabe von mir erhalten, sagen wir einmal so an die dreißig Pfund Silber?«

Erwartungsvoll blickte er Raymond an, hinter dessen Stirn es fieberhaft zu arbeiten begann. Aber es dauerte noch eine ganze Weile, bevor dieser begriff, dass ihm gerade die Lösung für all seine Probleme angeboten worden war.

Ungeduldig wartete Jean auf seine Antwort. Waren dreißig Pfund Silber etwa zu wenig? Raymond hatte nicht über die Höhe seiner Schulden gesprochen. Er gab sich einen Ruck.

»Darüber hinaus würde ich Euch, als Schwiegervater meiner Tochter, so viel von meiner Ware auf Kommission zur Verfügung stellen, wie Ihr für einen Neuanfang benötigt«, setzte er hinzu.

Ein Leuchten lief über Raymonds Gesicht.

»Das würdet Ihr wirklich tun?«, fragte er ungläubig.

»Ihr habt mein Wort darauf.« Jean hielt ihm seine Hand hin.

Raymond zögerte nicht lange und schlug ein, worauf Jean noch zwei weitere Krüge Wein bestellte.

»Was haltet Ihr davon, wenn Ihr nach der Messe mit Eurem Sohn nach Bourges kommt und wir das Geschäft perfekt machen?«, schlug er vor. Raymond war mit allem einverstanden. Sein Gesicht strahlte, als würde er das himmlische Jerusalem selbst erblicken.

Sie redeten noch eine Weile über allgemein geschäftliche Belange, bevor sie sich schließlich zum Schlafen in ihre Kammer begaben, wo Raymond das erste Mal seit Langem wieder Pläne für die Zukunft zu schmieden begann. Er konnte es kaum erwarten, seiner Familie die gute Nachricht zu überbringen.

Auch Jean Machaut war zufrieden. Nicht nur, dass er schneller als erwartet einen Mann für Marie gefunden hatte, er war darüber hinaus auch davon überzeugt, in Raymond Chandos einen zuverlässigen Geschäftspartner gefunden zu haben, mit dessen Hilfe es ihm gelingen würde, seine Beziehungen weiter auszubauen.

Katharina fieberte währenddessen dem Tag ihrer Hochzeit entgegen. Sie konnte nicht mehr schlafen und steckte die restlichen Familienmitglieder mit ihrer Aufregung an. Von morgens bis abends schallte ihre schrille Stimme durchs Haus, und alle waren froh, als endlich der Tag ihrer Abreise bevorstand.

Die Truhen waren gepackt, und schon am nächsten Morgen würde sich die Familie Machaut auf die Reise nach Poitiers begeben.

Jean, der kein Risiko eingehen wollte, hatte deshalb beschlossen, dass Marie bei Elsa und dem Knecht zu Hause bleiben sollte, und Eleonore hatte ihm, erleichtert über seine Entscheidung, sofort zugestimmt.

Marie verbarg ihre Enttäuschung, so gut sie konnte. Dabei hatte sie sich schon so sehr auf die Reise gefreut und ganz besonders darauf, Katharina in ihrem wunderschönen Hochzeitskleid zu sehen, an dem sie unzählige Stunden lang gestickt hatte. Es tat ihr weh, immer ausgeschlossen zu werden. Denn obwohl ihre Schwestern alles andere als freundlich zu ihr waren, liebte Marie sie dennoch.

Katharina war so glücklich, dass sie an ihrem letzten Abend in der Kammer sogar ein wenig zur Seite rutschte, um Marie in dem großen Bett Platz zu machen. Und als sie bemerkte, dass Marie weinte, sprang sie auf und wühlte in ihrer Truhe herum. Sie wollte nicht, dass auch nur der kleinste Wermutstropfen auf ihre Hochzeit fiel.

Mit dem kleinen Jadevogel in der Hand kam sie zurück ins Bett.

»Bitte, wünsch mir Glück«, flüsterte sie und reichte Marie den Vogel. Marie konnte vor lauter Freude nicht einschlafen. Doch es war nicht nur die Freude über das kostbare Kleinod, die sie am Schlafen hinderte.

Das erste Mal in ihrem Leben war Katharina freundlich zu ihr gewesen, und so strich sie immer wieder über das kostbare Kleinod, das ihr von nun an ganz allein gehörte und sie stets an Katharina erinnern würde.

Es war ein regnerischer, kalter Tag, an dem Katharina ihrem neuen Leben entgegenfuhr, und Marie winkte dem Wagen so lange nach, bis er hinter einer Biegung verschwunden war.

Elsa hatte hinter ihr gestanden und zog sie nun zurück ins Haus, als sie bemerkte, dass Marie vor Kälte zitterte. Besorgt legte sie dem Mädchen einen Arm um die schmale Schulter und zog sie mit sich in die Küche.

»Du bist ja ganz kalt, ich werde dir etwas von dem guten Wein aufkochen, damit dir schnell wieder warm wird.«

Kurze Zeit später stellte sie Marie einen mit heißem Würzwein gefüllten Becher und dazu frisch gebackenes Brot und etwas Käse auf den Tisch.

»Jetzt werden wir es uns gemütlich machen und die Abwesenheit deiner Familie auf unsere Art feiern«, erklärte sie mit Nachdruck in der Stimme.

Pierre, den der Duft des Würzweines angezogen hatte, steckte hoffnungsvoll seinen Kopf durch die Küchentüre.

Elsa öffnete schon den Mund, um ihn zurück an seine Arbeit zu scheuchen, doch dann überlegte sie es sich anders. Pierre war zwar einfältig und dumm, aber auch willig und fleißig, und sie beschloss, dass auch er eine Freude haben sollte.

»Nicht dass du denkst, es geht jetzt jeden Tag so«, brummelte sie streng. »Doch heute werden wir feiern und es uns gut gehen lassen.«

Sie stellte zwei weitere Becher mit Wein auf den Tisch und holte noch mehr Brot und Käse, dazu ein kleines Stück Schinken, das sie in drei gleich große Teile schnitt. Das Feuer im Ofen verbreitete eine gemütliche Wärme, und Elsa zwang Marie dazu, den Wein auszutrinken und etwas zu essen.

Es wurde ein schöner Vormittag und Marie, deren Wangen vom Wein leicht gerötet waren, warf Elsa einen bittenden Blick zu.

»Darf ich heute die Kathedrale besuchen? Ich möchte so gerne für Katharina beten«, drängte sie.

Elsas Gesicht verzog sich abfällig.

»Deine Schwester hat es nicht verdient, dass du für sie betest. Ich habe noch nie erlebt, dass sie auch nur ein einziges Mal an jemand anders gedacht hat als an sich selbst.«

Marie warf der alten Magd einen seltsamen Blick aus ihren dunklen Augen zu.

»Sie ist meine Schwester«, erwiderte sie ernst und zog dann das kostbare Vögelchen aus dem Beutel an ihrem Gürtel hervor und hielt es strahlend vor Freude hoch.

»Katharina hat ihn mir letzte Nacht gegeben, ist er nicht wunderschön?« Elsa betrachtete das Kleinod. Dass dem Vogel ein Auge fehlte, schien Marie nicht weiter zu stören, und es war schön, Marie endlich einmal glücklich zu sehen.

»Ich bin einverstanden, aber Pierre wird dich begleiten«, gestand sie Marie schließlich zu, aber Marie sah sie fest an.

»Pierre hat zu arbeiten. Mein Vater wird böse sein, wenn er erfährt, dass er seine Arbeit liegen lässt, nur um mich zur Kathedrale zu begleiten. Du brauchst dich nicht zu sorgen, mir wird schon nichts geschehen.«

Glücklich sprang sie auf und lief in die Kammer, um ihren Umhang zu holen. Und bevor Elsa noch etwas sagen konnte, war sie schon wieder die Treppe hinunter und auf die Straße hinausgelaufen.

Eiskalter Wind schlug ihr entgegen, und es regnete in Strömen. Nur wenige Menschen kamen ihr entgegen. Wer bei diesem Wetter nicht unbedingt nach draußen musste, zog es vor, am warmen Ofen zu bleiben. Marie schlang ihren Mantel fester um sich, während sie mit schnellen Schritten durch die Gassen eilte.

Allerdings vermied sie es, durch die Gasse der Fischhändler und Fleischhauer zu gehen, weil der Geruch des Blutes, der dort überall aus den Läden heraus und direkt auf die Straße floss, für sie nur schwer zu ertragen war.

Stattdessen nahm sie den etwas längeren Weg, der sie an den großen Steinhäusern der jüdischen Geldverleiher vorbeiführte.

Als die mächtigen Mauern und Türme der Kathedrale vor ihr auftauchten, wurde ihre Vorfreude immer größer. Der große Platz vor der Kathedrale, auf dem es normalerweise vor Menschen nur so wimmelte, lag verlassen vor ihr. Selbst die Bettler und die unzähligen stromernden Katzen und Hunde hatten sich irgendwo verkrochen.

Mit klopfendem Herzen trat Marie durch das große Portal. Einige Frauen beteten vor der Heiligen Jungfrau und trugen ihr ihre Anliegen vor. Andere Gläubige blieben im äußeren Seitenschiff stehen und bestaunten das große Doppelfenster mit dem bekrönenden Oculus.

Sie schienen Bauern zu sein. Unfreie, die darauf hofften, dass sie in der Stadt Arbeit finden und ihre Freiheit gewinnen würden. Das neue Gesetz, dessen Inhalt besagte, dass jeder Unfreie nach einem Jahr in der Stadt seine Freiheit erlangen konnte, wenn es seinem Besitzer bis dahin nicht gelungen war, ihn aufzuspüren und zurückzufordern, hatte sich schon längst bis zu den entlegensten Dörfern herumgesprochen.

Viele der Bauern litten um diese Jahreszeit bitteren Hunger, während sich ihre Herren, die Fürsten und Grafen, mit den Früchten ihrer Arbeit fette Bäuche anfraßen.

Marie betrat die kleine Kapelle und kniete vor der Heiligen Jungfrau nieder. Sie dachte an Katharina, die ihre Familie verlassen hatte und schon bald eine verheiratete Frau sein würde.

Ihre Hand fuhr hinunter zu dem Beutel an ihrem Gürtel, in dem sie den kleinen Vogel verwahrte. Sie unterdrückte den Wunsch, ihn herauszunehmen, um ihn zu betrachten, und begann stattdessen kaum hörbar zu Gott zu sprechen.

In der heiligen, von Weihrauch geschwängerten Atmosphäre der Kathedrale konnte sie seine Anwesenheit deutlich spüren. Sie redete sich alle ihre Sorgen und Ängste von der Seele, und als ihr nichts mehr einfiel, stand sie einfach nur da und träumte vor sich hin.

Dass sie seit einer geraumen Zeit beobachtet wurde, bemerkte sie nicht. Robert de Forez hatte nach Beendigung seines Unterrichts die Kathedrale aufgesucht, um ein wenig für sich allein sein zu können. Er war der einzige Sohn des Grafen Guido de Forez und der Mathilda von Artois, der Gräfin von Courtenay und Nevers. Sein Vater hatte ihn nach Bourges gebracht, damit er dort studieren konnte. Nach Beendigung seines Studiums würde er dann nach Forez zurückkehren und die Verwaltung der Grafschaft übernehmen.

Robert nahm das Lernen sehr ernst. Im Gegensatz zu seinen Freunden, allesamt Söhne von Adligen oder reichen Bürgern, bereitete ihm das Studieren große Freude, und er verbrachte seine freien Stunden lieber in der Kathedrale oder der Bibliothek als in den Tavernen und Schenken der Stadt, die seine Kameraden mit Vorliebe aufzusuchen pflegten, um sich das Leben mit Glücksspielen und Trinken zu versüßen.

Die Folge davon war, dass nicht wenige ihrer Väter große Summen aufbringen mussten, um die unüberlegten Streiche ihrer Söhne entweder zu vertuschen oder zu bereinigen und deren Schulden zu bezahlen.

Er erkannte Marie sofort und musste an den merkwürdigen Ausdruck in ihren dunklen Augen denken, nachdem er sie aufgefangen und vor dem Fallen bewahrt hatte. Sie wirkte so schutzlos und einsam, wie sie im Gebet versunken dastand und nichts um sich herum wahrzunehmen schien. Dabei war sie so schön wie ein Engel. Er wollte sie nicht stören und suchte sich deshalb einen Platz, von dem aus er sie unbemerkt beobachten konnte.

Nach einiger Zeit läuteten die Glocken die Hora vesperalis, den Sonnenuntergang, ein. Sobald der Glöckner den Turm nach dem Läuten wieder hinuntergestiegen wäre, würde der Sakristan die Gläubigen dann dazu auffordern, die Kathedrale zu verlassen, und hinter ihnen die Portale der Kirche bis zum nächsten Tag verschließen.

Marie erhob sich ohne Eile und begab sich zum Ausgang. Robert beeilte sich, ihr zu folgen. Als er sie beinahe eingeholt hatte, zögerte er jedoch.

Sein Herz schlug ihm bis zum Hals, und plötzlich wusste er nicht mehr, was er ihr sagen sollte.

In diesem Moment drehte Marie sich um, als ob sie gespürt hätte, dass ihr jemand folgte. Ihre Augen weiteten sich vor Überraschung, als sie Robert erkannte. Schüchtern lächelte sie ihn an, wandte sich wieder um und verließ mit raschen Schritten die Kathedrale.

Robert sah ihr nach. Er kam sich wie ein Trottel vor. Was war nur los mit ihm? Wie kam es, dass ein Mädchen ihn derart verwirren konnte? Er strich sich die schulterlangen dunkelblonden Locken aus dem Gesicht und trat ebenfalls aus dem Portal. Eisige Kälte schlug ihm entgegen.

Die Dämmerung zog bereits herauf, und nur wenige Menschen waren noch unterwegs und überquerten den Kathedralenvorplatz. Suchend sah er sich um. Das Mädchen war nicht mehr zu sehen. Es konnte nicht mehr lange dauern, bis auch die Tore der Heiligen Stadt geschlossen werden würden.

Auf der anderen Seite der Mauer begann das Gewirr aus schmalen Gassen, in denen die Handwerker und Kaufleute mit ihren Familien lebten.

Robert versuchte, sich an die Angehörigen des Mädchens zu erinnern, um dadurch wenigstens einen Anhaltspunkt zu haben, der Rückschlüsse auf ihre Herkunft zuließ, doch es gelang ihm nicht. Gedankenverloren begab er sich ins Dormitorium, das er mit elf anderen Schülern teilte.

Er legte Wachstafel, Schreibgriffel und das teure Pergamentpapier auf seine Bank und ließ sich auf das große Bett fallen.

Kaum hatte er seine Augen geschlossen, als die Türe auch schon wieder geöffnet wurde und sein Freund Bernard von Auvergne hereingewankt kam. Er war der dritte Sohn des Grafen Robert von Auvergne, dessen Vorfahren bislang noch an jedem Kreuzzug teilgenommen hatten, weshalb die Familie überall großes Ansehen genoss. Sein Vater hatte ein hohes kirchliches Amt für seinen Sohn vorgesehen und ihn dazu gezwungen, das Studium anzutreten, obwohl Bernard bereits als kleiner Junge von nichts anderem geträumt hatte, als Ritter zu werden und ebenfalls an einem Kreuzzug teilzunehmen. In seinen Augen war das Studium überflüssig, und er betrachtete es als eine lästige Angelegenheit, die er notgedrungen über sich ergehen lassen musste. Das Leben in der Stadt war da schon wesentlich aufregender, und er genoss die Zeit, die er in Bourges verbringen musste, in vollen Zügen.

Seine Augen waren glasig, und er roch nach billigem Wein. Wie immer, wenn er getrunken hatte, redete er munter und ohne Luft zu holen drauflos:

»Ihr wisst nicht, was Euch entgangen ist. In der Schenke ›Zur Fetten Henne‹ gibt es ein neues Mädchen, das Ihr Euch unbedingt ansehen müsst, ihr Name ist Catherine. Sie verlangt zwei Sous, aber die ist sie wert. Sie macht mich noch ganz verrückt mit ihren roten Locken und ihrem biegsamen Körper.«

Er breitete seinen linken Arm aus, um seinen Worten mehr Nachdruck zu verleihen. Die schnelle Bewegung brachte ihn jedoch aus dem Gleichgewicht, das er nur mit Mühe wiedergewann.

»Ihr solltet sie einmal zwischen Eure Schenkel nehmen, sie wird Euch eine ganz neue Form der Rhetorik beibringen«, riet er Robert kichernd.

Achtlos ließ er seinen Umhang auf den Boden fallen und warf sich neben seinem Kameraden aufs Bett.

»Ich habe genug für heute, und außerdem besitze ich keinen einzigen Sous mehr. Ich werde einen Boten zu meinen Eltern schicken müssen.«

Prüfend betrachtete er Robert, der ihm schweigend zugehört hatte. »Könntet Ihr mir in der Zwischenzeit nicht etwas borgen? Denn es wird wohl eine Weile dauern, bis der Bote zurück sein wird, und der Wirt verlangt schon beinahe so hohe Zinsen, wie die hakennasigen Juden es tun, wenn man bei ihm anschreibt. Ich weiß wirklich nicht, wie lange ich es hier noch aushalte, wenn ich mir nicht einmal mehr einen Schenkenbesuch erlauben kann. Am liebsten würde ich das ganze Studium einfach beenden und an König Ludwigs Kreuzzug teilnehmen, aber mein Vater besteht nun einmal darauf, dabei habe ich schon lange mehr als genug von all der Rhetorik, Grammatik und Dialektik.«

Sein schönes Gesicht verzog sich verächtlich, und er wirkte fast wieder nüchtern. Plötzlich nahm seine Stimme einen dramatischen Tonfall an:

»Lieber würde ich mit dem Schwert in der Hand auf dem Schlachtfeld sterben, wie es jedem Ritter zur Ehre gereicht, als am Schreibpult bei Tinte und Feder zu verrotten.«

Bittend sah er Robert an. Und obwohl Robert wusste, dass Bernard bereits überall Schulden hatte, brachte er es trotzdem nicht übers Herz, ihm seine Bitte abzuschlagen.

»Ich kann Euch zwanzig Sous borgen, mehr habe ich nicht«, versprach er. Bernard sah ihn dankbar an.

»Ihr seid ein guter Freund, und wenn ich Euch einmal helfen kann, dann zögert nicht, mich anzusprechen.«

Schon fielen ihm die Augen zu, und er begann laut zu schnarchen.

Robert betrachtete ihn nachdenklich. Bernard war das genaue Gegenteil von ihm. Er war ein Mann, dem die Mädchen und Frauen bewundernd nachsahen, und das nicht nur, wenn sie sich unbeobachtet glaubten. Schwarze glänzende Locken fielen Bernard bis auf die Schultern herab und umrahmten ein kühnes, scharf geschnittenes Gesicht mit tiefblauen Augen, die meistens voller Übermut blitzten. Bernard war leichtfertig und sorglos, trotzdem war er ein guter Freund, der niemals ein Versprechen brechen würde, weil ihm die Ritterideale wie Treue, Glaube und Mut heilig waren. Er war beseelt vom Gedanken, Ritter zu werden und gleich seinen Vorfahren Jerusalem aus der Hand der Ungläubigen zu befreien.

Im Stillen musste er Bernard recht geben. Schwert und Rüstung würden ihm tatsächlich besser anstehen als der Schreibgriffel. Das einzige Fach, in dem er wirklich glänzte, war Rhetorik.

Roberts Gedanken wanderten zurück zu dem wunderschönen Mädchen mit den unergründlichen Augen, die wie kostbarer Samt schimmerten. Er hatte sich bisher nicht für Mädchen interessiert. Doch dieses Mädchen war anders als alle Mädchen, die er bislang kennengelernt hatte.

Die Bluterbin

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