Читать книгу Die Bluterbin - Hildegard Burri-Bayer - Страница 6
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ОглавлениеNachdem das letzte Gerüst entfernt worden war, konnte niemand mehr sagen, wie viele Jahre es insgesamt gedauert hatte, um die Kathedrale größer und mächtiger in die Höhe wachsen zu lassen als jedes andere Bauwerk in der Provinz Berry.
Bischof Henri de Sully, der zu Ehren des Allmächtigen mit dem gewaltigen Bau begonnen hatte, war schon vor geraumer Zeit in dessen Reich eingegangen und genauso aus dem Gedächtnis der Lebenden verschwunden wie der Schweiß und das Blut mehrerer Generationen von Baumeistern, Handwerkern und Arbeitern, deren Leben allein durch den Bau der Kathedrale bestimmt worden war.
Das fünfschiffige, lichtdurchflutete Bauwerk mit seinen unzähligen Pfeilern und Bögen war schlichtweg überwältigend und erschien den Menschen wie ein Wunder, und so kamen jeden Tag mehr Besucher, um es zu bestaunen und zu begaffen. Mochten sie sich im ersten Augenblick im Schatten dieses machtvollen Bauwerkes auch armselig und klein fühlen, letztendlich überwog in ihnen doch stets das triumphale Gefühl, die Schwerkraft überlistet zu haben. Die unermesslichen Waldgebiete, die dem Bau zum Opfer gefallen waren, zählten nicht mehr und auch nicht die vielen menschlichen Dramen, die sich in den vergangenen Jahren rund um die Baustelle herum abgespielt hatten.
Obwohl es noch früh am Morgen war, hatte sich bereits eine lange Schlange gottesfürchtiger Menschen vor dem Westflügel gebildet, die geduldig darauf wartete, eingelassen zu werden, um auch das Innere dieses Wunders bestaunen zu können.
Die vierzehnjährige Marie, Tochter eines ehrgeizigen Tuchhändlers, hatte an diesem Morgen von ihrer Mutter den Auftrag erhalten, der Bäckerswitwe die übrig gebliebenen Reste einiger Stoffballen zu bringen, aus der sie Kleider für ihre neun Kinder nähen konnte.
Die Menschen, die ihr unterwegs begegneten, starrten Marie, deren ungewöhnlich helle, fast schon weiße Haut an jungfräulichen Neuschnee erinnerte, neugierig an. Ihr lockiges, dunkelbraunes Haar fiel ihr offen bis auf die schmale Taille herab und wurde nur am Kopf durch einen schmalen bronzenen Reif gebändigt. Das Auffälligste an Marie waren jedoch nicht ihre feinen ebenmäßigen Gesichtszüge, sondern ihre Augen, die so ungewöhnlich dunkel und dabei von solch außergewöhnlichem Glanz waren, dass sie dem Betrachter bis tief in die Seele zu blicken schienen. Nicht wenige, die ihr begegneten, drehten sich nach ihr um und sahen dem schlanken hochgewachsenen Mädchen hinterher, das in ihrem blauen Kleid mit den weiten Ärmeln und dem langen Mantel aus feinstem flandrischen Tuch, der von einer kupfernen Fibel zusammengehalten wurde, wie ein Engel wirkte.
Schüchtern nahm sie die Dankbarkeit der verhärmt aussehenden Frau entgegen, die ihr und ihrer Mutter Gottes Segen wünschte. Auf dem Rückweg konnte sie nicht widerstehen, den kleinen Umweg an der Kathedrale vorbei zu nehmen.
Das erhabene Bauwerk war Maries Freund, seitdem sie denken konnte. Innerhalb seiner breiten Mauern fühlte sie sich sicher und geborgen und glaubte Gott näher zu sein. Hier hing sie ihren kindlichen Träumen nach und wagte es leise flüsternd, den stummen, mit Gold bemalten Heiligenfiguren ihre Ängste und Hoffnungen anzuvertrauen.
In stiller Erwartung lief sie durch das Goldene Tor und betrat die »Heilige Stadt«, die sich weit über die Häuser der Handwerker und Kaufleute erhob.
Sie war eine Stadt in der Stadt, in der die hohen Kirchenherren, umgeben von einem Heer aus Mönchen, Dienern, Knechten und Mägden, nahezu ungestört für sich lebten.
Die »Heilige Stadt« besaß ihre eigenen Kornspeicher und Ställe, gut gefüllte Weinkeller, Kräuter-, Obst- und Gemüsegärten und natürlich die Zehntscheune, in der jeder Bürger einmal im Jahr seine Abgaben an den Klerus entrichtete. Zwischen der Zehntscheune und den unscheinbaren Holzhäusern der Dienerschaft lagen wiederum Bade- und Krankenstuben, und sie alle wurden vom Glanz des Bischofspalastes überstrahlt.
Marie hatte das Ende der Menschenschlange bei der Kathedrale schon beinahe erreicht, als plötzlich zwei halb verhungerte Straßenköter knurrend und zähnefletschend auf sie zugejagt kamen. Erst kurz vor ihr stoben sie auseinander, um sich direkt hinter ihr wieder aufeinanderzustürzen. Der kleinere der beiden hielt eine laut fiepende, aus mehreren Wunden blutende, fette Ratte im Maul und versuchte sie mit allen Mitteln gegen seinen größeren Rivalen zu verteidigen.
Maries Herz zog sich vor lauter Schreck und Mitleid mit der im Todeskampf zuckenden Ratte zusammen. Auch wenn die meisten Menschen Ratten für Ausgeburten der Hölle hielten, waren sie doch gleichfalls Geschöpfe Gottes, die wie jedes andere Lebewesen Schmerz empfanden.
Marie glaubte die unerträglichen Schmerzen des Tieres am eigenen Leib zu verspüren, und sie bekam zunehmend immer weniger Luft zum Atmen. Der Raum um sie herum begann auf einmal leer und kleiner zu werden. Was übrig blieb, war allein das furchtbare Knacken der Knochen im Leib der Ratte, das ihr in den Ohren dröhnte. Ein heftiger Schwindel ließ den Boden unter ihren Füßen wanken, und obwohl sie versuchte dagegen anzukämpfen, gelang es ihr nicht. Mit weit geöffnetem Mund rang sie verzweifelt nach Luft, dann schwanden ihr die Sinne, und sie sank bewusstlos auf das harte Kopfsteinpflaster.
Für die Gassenjungen, die überall stets dort auftauchten, wo es Fremde gab, und nur auf eine Gelegenheit lauerten, diese zu bestehlen, waren die Hunde eine willkommene Abwechslung. Vergnügt bildeten sie johlend einen Kreis um die miteinander kämpfenden Tiere. Beide Hunde hatten ihre Reißzähne jetzt tief in der Ratte vergraben und zerrten sie knurrend zwischen sich hin und her. Niemand achtete dabei mehr auf Marie, die sich mittlerweile von schweren Krämpfen geschüttelt auf dem harten Kopfsteinpflaster wand.
Stattdessen wurden schon die ersten Wetten auf die Hunde abgeschlossen und per Handschlag bekräftigt. Endlich war es den Tieren gelungen, die Ratte in zwei Teile zu reißen. Mit ihrer Beute im Maul suchten sie sich einen Weg zwischen den Beinen der Neugierigen und stoben in verschiedene Richtungen davon.
Erst jetzt wurden die Menschen auf das bewusstlos am Boden liegende Mädchen aufmerksam. Dunkle, weit aufgerissene Augen starrten den Gaffern blicklos entgegen, während der schmale Mädchenkörper immer wieder von Krämpfen geschüttelt wurde. Schaum rann Marie aus beiden Mundwinkeln und bildete eine kleine Pfütze auf den Steinen, und ihr vorher ebenmäßiges Gesicht war durch den Anfall zu einer hässlichen Fratze verzerrt, die den Menschen kleine Schauer über den Rücken laufen ließ.
Wieder bildete sich ein Kreis, und die Menschen stierten nunmehr genauso auf das zuckende Mädchen herab, wie sie zuvor auf die Hunde gestarrt hatten. Keiner der Zuschauer kam Marie zu Hilfe. Die Vorsichtigen unter ihnen hielten einen wohl berechneten Abstand zu dem Mädchen ein, während sich die Neugierigen weiter nach vorne drängten, um sich nur ja nichts von dem spannenden Schauspiel entgehen zu lassen.
»Es ist Marie, die Tochter des Tuchhändlers. Sie ist von Dämonen besessen«, brüllte einer der Gassenjungen in die schweigende Menge hinein, die sich noch nicht schlüssig war, was sie von dem Ganzen halten sollte und ob es hier überhaupt mit rechten Dingen zuging.
Ein kräftiger Mann mittleren Alters, bei dem es sich den feinen Kleidern nach zu urteilen um einen reichen Kaufmann handelte, sah den Jungen scharf an. »Was stehst du dann noch hier herum? Lauf und hol ihn«, forderte er mit befehlsgewohnter Stimme.
Verärgert, seinen Mund so weit aufgerissen zu haben, kam der Junge dem Befehl nach und rannte, so schnell er konnte, auf die schmalen, mehrstöckigen Fachwerkhäuser der Kaufleute und Händler zu, die sich eng aneinandergedrängt um den nahen Marktplatz herumzogen.
Geschickt sprang er dabei von einem Trittstein zum anderen, um nicht in den knöcheltiefen Unrat zu treten, der sich zwischen und neben den Platten befand. Jetzt würde er gewiss das Beste verpassen, doch er tröstete sich mit dem Gedanken, mit ein wenig Glück vielleicht etwas zu essen für seine Gefälligkeit heraushandeln zu können, und er sollte nicht enttäuscht werden.
Auf sein drängendes Klopfen hin wurde ihm die Türe zum Haus des Tuchhändlers von Elsa, der Magd der Familie, geöffnet. Misstrauisch sah sie auf den Jungen herab, dessen zerrissene Kleider vor Schmutz starrten.
»Was gibt es denn so Dringendes, dass du beinahe die Türe einschlägst?«, fragte sie unfreundlich.
»Marie ist zu Boden gefallen und sieht ganz komisch aus«, gab der Junge zur Antwort. »Ungefähr so.« Geschickt imitierte er das Zucken von Maries Gliedern und stellte erfreut fest, dass die Magd vor Schreck ganz blass wurde.
»Gott im Himmel, führe mich sofort zu ihr«, befahl ihm Elsa aufgeregt. Sie wischte ihre mit Mehl bestäubten Hände an der Schürze ab und rief dann nach dem Knecht, der mit hochrotem Kopf hinter ihr im Türrahmen erschien.
»Ich habe Hunger«, meinte der Junge entschieden, nicht bereit, die sich ihm bietende Chance nutzlos verstreichen zu lassen. Elsa überlegte nur kurz und kam dann zu dem Schluss, dass keine Zeit für lange Reden war. Rasch lief sie in die Küche zurück und kehrte von dort mit einem Stück duftenden Brotes in der Hand zurück.
Dem Jungen lief das Wasser im Mund zusammen. Gierig griff er nach dem Brot, doch die Magd zog die Hand, in der sie das Brot hielt, blitzschnell wieder zurück und versteckte sie hinter ihrem Rücken.
»Erst will ich sehen, ob du die Wahrheit gesprochen hast.«
Sogleich lief ihr der Junge mit flinken Schritten voran, und Elsa hatte Mühe, mit ihm Schritt zu halten. Keuchend musste sie einige Male stehen bleiben, um nach Luft zu ringen. Doch schließlich öffnete sich die schmale Gasse und gab ihr den Blick auf die alles dominierende Kathedrale frei.
Schon von Weitem konnte sie die Menschenmenge erkennen, die sich auf dem Kathedralenvorplatz gebildet hatte. Als sie schließlich bei ihr ankam, half ihr der Junge, sich einen Weg durch die Menschen zu bahnen, die dicht gedrängt nebeneinanderstanden. Doch noch bevor sich die Magd voller Sorge über Marie beugen konnte, hatte ihr der Junge auch schon blitzschnell das versprochene Brot aus der Hand gerissen und war damit davongerannt, um sich ein stilles Plätzchen an der Stadtmauer zu suchen, wo er sich in Ruhe darüber hermachen konnte.
Der Knecht war Elsa gefolgt und stand nun seitlich hinter ihr. Mit offenem Mund glotzte er auf Marie herab.
»Was stehst du da Maulaffen feilhaltend herum, heb sie schon auf«, zischte Elsa wütend und bedachte die Menge mit abfälligen Blicken. Was dachten sich diese Gaffer nur dabei, so nutzlos herumzustehen, ohne auch nur den geringsten Versuch zu unternehmen, dem Mädchen zu helfen?
Der Knecht zögerte, und ein ängstlicher Ausdruck legte sich über seine etwas dümmlich wirkenden Gesichtszüge.
»Jetzt mach schon, oder muss ich dir erst einige Stockhiebe versetzen lassen?«, fauchte Elsa ihn an, der Maries starr aufgerissene Augen große Angst bereiteten.
Der Knecht wagte es schließlich nicht länger, sich ihrem Befehl zu widersetzen. Gehorsam hob er das bewusstlose Mädchen auf und trug es hinter Elsa her, die, ohne noch weiter nach rechts und links zu blicken, zielstrebig voranlief und ihm den Weg durch die Menge frei machte.
Als sie zu Hause angekommen waren, ließ Elsa Marie sofort in die Kammer bringen, die sie sich mit ihren drei älteren Schwestern teilte. Danach herrschte sie den Knecht an, Wasser zu holen und die Herrin des Hauses zu verständigen.
Eleonore, Maries Mutter, war eine schöne und stolze, aber vom Leben verbitterte Frau, die an der Strenge ihres Herrn Gemahls beinahe zerbrochen war. Nie hatte sie auch nur das geringste Anzeichen von Zuneigung, geschweige denn Liebe von ihm empfangen, und so fiel es ihr schwer, Gefühle zu zeigen, selbst ihren eigenen Kindern gegenüber. Beherrscht und voller Pflichtgefühl verhielt sie sich stets, wie man es von einer Frau ihres Standes erwartete.
Sie war gerade dabei, die im Kontor gelagerten Stoffballen auf Motten und anderes gefürchtetes Ungeziefer hin zu untersuchen, als der Knecht aufgeregt hereinstürzte, um ihr zu berichten, was sich zugetragen hatte.
Eleonores schmales Gesicht mit der hohen Stirn zeigte keinerlei Regung; nur die schönen goldbraunen Augen blitzten ärgerlich ob der Störung auf. Sie legte den Stoff zur Seite und stieg mit angemessenen Schritten die steile Treppe zu Maries Kammer empor.
Die Herrin des Hauses hatte nie besonders viel für ihre jüngste Tochter übriggehabt, deren unnatürlich weiße Haut ein Erbteil der Familie ihres Mannes war und mit der sie auch sonst nur wenig gemein hatte. Marie war es außerdem gewesen, die Eleonores Traum, ihrem Mann einen Sohn schenken zu können, endgültig zunichtegemacht hatte.
Maries Geburt war schwer gewesen, und irgendein Körperteil war damals in ihrem Inneren so sehr beschädigt worden, dass sie nie wieder ein Kind hatte bekommen können. Zusammen mit ihrem Schoß hatten sich auch ihre Brüste für immer verschlossen.
Doch Gott hatte andere Pläne mit Marie gehabt und entschieden, das zarte Mädchen leben zu lassen. Noch am Tage ihrer Geburt hatten sie eine halb verhungerte junge Frau vor ihrer Türe gefunden, die zudem gerade ihr Neugeborenes verloren hatte; ihre Brüste waren schwer von Milch gewesen.
Auf Eleonores Gesicht zeigte sich ein Anflug von Ekel, als sie auf das bewusstlose Mädchen herabsah, dessen Körper noch immer von Zuckungen beherrscht wurde.
»Worauf wartest du noch? Nimm Bitterwurz, gib etwas Alraune hinzu, und dann wisch sie sauber«, herrschte sie Elsa an, bevor sie sich mit einem kurzen Seufzer abwandte und wieder nach unten ging. Als ob sie nicht schon genug Probleme hätte.
Elsa schob die blonde Haarsträhne, die sich durch den raschen Lauf gelöst hatte, wieder unter ihre weiße Haube zurück und begab sich in die Küche. Dort kochte sie eine kleine Menge Wein auf, in die sie, wie ihr geheißen, zerstoßenen Bitterwurz und eine kleine Menge Alraune gab. Anschließend goss sie den Wein in einen Becher und rührte ihn noch einmal sorgfältig um. Als sie zurück in die Kammer kam, wischte sie Marie sauber und flößte ihr den Wein Tropfen für Tropfen ein.
Es schien tatsächlich zu helfen, denn die Krämpfe begannen nachzulassen. Maries Atem wurde gleichmäßiger, aber sie erwachte nicht, sondern schlief erschöpft bis zum nächsten Tag.