Читать книгу Die Bluterbin - Hildegard Burri-Bayer - Страница 7

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Zwei Wochen nach ihrem Anfall erwachte Marie eines Morgens vom dröhnenden Hufgeklapper eines mächtigen Kutschpferdes, das sich mühte, mit dem vollbepackten Wagen, an den es geschirrt war, durch die schmalen Gassen zu kommen. Der Kutscher auf dem Bock fluchte laut, als ihn der übel riechende Inhalt einer Bettpfanne traf und sich genau über seinen Umhang ergoss.

Eine unerträgliche Hitze hatte sich über die Stadt gelegt, die mit jedem Tag schlimmer wurde und die Menschen ungeduldig und reizbar machte.

Marie warf einen raschen Blick auf ihre Schwestern und stellte erleichtert fest, dass diese noch schliefen. Schnell sprang sie aus dem Bett, wusch sich Gesicht und Hände in der Waschschüssel, die auf einem eigens dafür angefertigten Holztisch stand, und schlüpfte in ihr Gewand. Nachdem sie gekleidet war, griff sie nach ihrem Holzkamm, kämmte sich damit sorgfältig ihre langen Haare nach hinten und setzte sich dann zum Abschluss ihrer Toilette den schmalen bronzenen Reif auf.

Als sie fertig war, stieg sie mit leisen Schritten die Holztreppe hinunter und beeilte sich, in die Küche zu kommen, in der Elsa um diese Zeit das Feuer im Kamin schon immer geschürt hatte.

Der große, gemauerte Kamin bildete den Mittelpunkt des geräumigen Fachwerkhauses und führte durch das gesamte erste und zweite Stockwerk bis zum Dach hinauf, was den Vorteil hatte, dass man unten feuern und dadurch gleichzeitig fast alle anderen Zimmer mit beheizen konnte.

Vom Kamin aus gingen Diele, Stube und Küche ab. Letztere lag zum Garten hin, und unter dem Küchenfenster befand sich eine Kompostgrube, in die man die Küchenabfälle kippen konnte. Das vermied nicht nur viel Dreck, sondern ersparte auch eine Menge Lauferei.

In der Küche traf Marie auf Elsa, die der einzige Mensch im ganzen Haus war, bei dem sie etwas Wärme fand. Um wie viel lieber hätte sie bei der Magd in der winzigen Gesindekammer direkt unterm Dach geschlafen als bei ihren Schwestern, die sie immer nur herumschubsten und bei jeder sich bietenden Gelegenheit ärgerten. Doch ihre Mutter hatte es nicht erlaubt und ihr sogar mit der flachen Hand ins Gesicht geschlagen, als sie sich trotz des bestehenden Verbotes einmal heimlich in Elsas Kammer geschlichen hatte.

Beim Anblick des Mädchens legte sich ein gutmütiges Lächeln auf Elsas rundes Gesicht, das im Gegensatz zu sonst jedoch etwas gequält wirkte, denn auch sie litt unter der schrecklichen Hitze der letzten Tage.

Marie bemerkte es voller Sorge. »Ich werde dir helfen«, verkündete sie mit heller Stimme und begann mit geschickten Händen die einzelnen Zöpfe für den Hefekranz zu formen, den sich ihr Vater in den wenigen Tagen des Jahres, an denen er sich in seinem Haus aufhielt, anstelle des üblichen Haferbreis zum Frühstück wünschte.

Jean Machaut verbrachte den größten Teil des Jahres auf den großen Messen in der Champagne.

Von Anfang Januar bis zur Mittfastenzeit befand er sich in Lagny und bis Himmelfahrt dann in Bar-sur-Aube. Danach ging es nach Provins und anschließend zur »foire chaude«, zur Heißen Messe nach Troyes weiter, die von Johanni bis Mitte September dauerte. Auf diese folgte wiederum die Saint-Ayoul-Messe in Provins und nach Allerheiligen schließlich die »foire froide«, die Kalte Messe von Troyes.

»Bist ein gutes Kind.« Elsa strich ihr mit der mehlbepuderten Hand über die Wange und stellte ihr einen Becher Milch hin. Das arme Mädchen war viel zu blass und viel zu dünn. Die Milch würde Marie guttun und sie wieder zu Kräften kommen lassen.

»Dumme Elsa, du sollst die Milch nicht so verschwenden, ich werde es Mutter erzählen.« Die schrille Stimme von Katharina, Maries ältester Schwester, die hochmütig in die Küche hereinstolziert kam und sich auf den Stuhl neben Marie setzte, ließ sowohl Marie als auch Elsa erschrocken zusammenzucken.

Mit einem raschen Blick auf Elsa, die gerade den Hefekranz in den vorgeheizten Ofen schob, nahm sie Marie den Becher aus der Hand und trank ihn in einem Zug leer. Marie ließ es wortlos geschehen. Traurig sah sie Katharina an, doch die wandte ihren Blick ab.

Nach Katharina betraten nun auch die restlichen Familienmitglieder nach und nach die Küche und nahmen ihren Platz an dem mit einem weißen Linnen überzogenen Tisch ein. Martha, die zweitälteste der Schwestern, erschien wie immer zusammen mit der zierlichen Agnes, die gerade einmal elf Monate jünger war als sie selbst und die ihr wie ein Schatten überallhin folgte.

Die beiden Knechte, Henry und Pierre, saßen am unteren Ende der Tafel und warteten geduldig darauf, dass ihr Herr eintraf. Alle verstummten, als das Oberhaupt der Familie schließlich den Raum betrat.

Der Tuchhändler war ein hagerer, strenger Mann ohne jeden Sinn für Humor, dessen einziger Lebensinhalt ausschließlich darin bestand, sein Vermögen zu vermehren. Sein kantiges Gesicht mit dem spitzen Kinn wurde von den gleichen dunklen Augen beherrscht, die auch Marie besaß.

Machaut selbst hielt sich für einen gerechten Mann, der über seine Familie herrschte wie ein Vasall über seine Knappen. Mit lauter Stimme sprach er das Tischgebet und ließ sich anschließend ein großes Stück von dem duftenden Hefekranz reichen, den Elsa auf den Tisch gestellt hatte.

»Elsa hat Marie vor dem Frühstück Milch gegeben«, sagte Katharina und warf Marie dabei einen boshaften Blick zu.

Schon des Öfteren hatte sie Elsa dabei ertappt, wie sie Marie heimlich eine Leckerei zusteckte. Einmal war es ein Apfel, ein anderes Mal ein Stück von dem köstlichen Schinken gewesen, den es nur an besonderen Feiertagen gab. Katharina war eifersüchtig auf Marie, und sie konnte nicht verstehen, warum ihre Mutter ihre Schwester nach deren letzten beiden Anfällen auf der Straße und in der Kirche nicht im Haus eingesperrt hatte, wo sie keinen weiteren Schaden anrichten und nicht mehr unangenehm auffallen konnte.

Hatte ihre Mutter denn nicht gemerkt, dass die Leute schon über die Familie Machaut redeten und sich Gedanken über Maries seltsame Krankheit machten? Warum musste sie auch ausgerechnet während des Gottesdienstes diese unheimlichen Krämpfe bekommen? Sie würde nie vergessen, wie die Leute die anderen Familienmitglieder angestarrt hatten und zur Seite gerückt waren, als hätten sie alle eine ansteckende Krankheit. Am liebsten wäre Katharina im Boden versunken, so sehr hatte sie sich geschämt.

Seitdem zerrissen sich die Leute die Mäuler über die Machauts und beobachteten sie voller Misstrauen.

Erst einen Tag zuvor hatte Katharina gehört und gesehen, wie die Frauen aus der Nachbarschaft ihre Stimmen gesenkt und die Köpfe enger zusammengesteckt hatten, als sie die Gasse zu ihrem Haus hochgelaufen gekommen war.

Eine Schar bösartiger alter Krähen, deren Gesichter sich jedoch unter den gesenkten Hauben nicht alle hatten erkennen lassen.

»Es ist ein Zeichen für schlechtes Blut, aber vielleicht ist ja auch der Leibhaftige in sie hineingefahren. Jeder weiß doch, dass er dafür am liebsten unschuldige Jungfrauen auswählt.« Das feiste Gesicht der Frau des Salzhändlers drehte sich dabei vergewissernd nach allen Seiten. Rasch schlug sie ein Kreuzzeichen, bevor sie mit gesenkter Stimme fortfuhr:

»Und habt ihr neulich den Geruch bemerkt, der aus dem Haus der Machauts kam?«

Die Köpfe der anderen Frauen schossen aufgeregt vor. Zwei der farbenprächtigen Hauben stießen zusammen und verhedderten sich an den Nadeln, mit denen sie am Kopf befestigt waren. Es dauerte eine Weile, bis ihre Besitzerinnen sie zeternd und schimpfend wieder auseinanderbekamen. »Jetzt sagt schon, von welchem Geruch ihr sprecht.« Die neugierige Stimme kam aus einem langen, dürren Hals.

»Es war eindeutig Schwefel«, die Stimme der Frau des Salzhändlers vibrierte genussvoll vor wohligem Entsetzen.

Ein Ochsenkarren ratterte mit viel Lärm an ihnen vorbei, gefolgt von einer Schar tobender Kinder, die mit ihren Stecken ein paar ängstlich quietschende Ferkel vor sich her jagten.

Die Frauen warfen sich verschwörerische Blicke zu, während sie darauf warteten, dass der Lärm wieder abebbte und die Frau des Salzhändlers endlich fortfahren konnte.

»Ich sage euch, es war Schwefel, stinkender gelber Schwefel, der oben aus dem Dach gefahren ist und mitten in die riesige schwarze Wolke hinein, die direkt über dem Haus hing.«

Die Frauen schlugen hastige Kreuzzeichen und flatterten wie aufgeregte Hühner durcheinander.

»Das Böse ist also direkt in unserer Mitte, sodass wir nur beten und den Herrn anflehen können, uns und unsere Kinder vor ihm zu bewahren«, schloss sie theatralisch.

Katharina war rasch ins Haus gelaufen. Zuerst war sie nur unangenehm berührt gewesen. Nachdem sie jedoch Haube und Umhang abgelegt hatte, war ihr plötzlich die Gefahr bewusst geworden, die vom boshaften Geschwätz der Frauen nicht nur für Marie, sondern für sie alle ausging. Allein der Gedanke, dass ihr Verlobter Jacques davon erfahren und daraufhin ihre Verlobung lösen könnte, was wiederum zur Folge haben würde, dass sie ihr Leben als alte Jungfer in diesen stinkenden Gassen verbringen müsste, ließ Katharina den Atem stocken.

Doch dann hatte sie erkannt, dass alles noch viel schlimmer war. Grausige Bilder der Vergangenheit stiegen aus ihrer Erinnerung empor, und mit ihnen zusammen kamen Angst und Entsetzen. Katharina begann zu zittern. Eine eisige Kälte kroch ihren Leib empor und legte sich schwer auf ihr Herz.

Vor ihren Augen tauchte wieder das Gesicht des Juden und seine stumme Angst auf, die sich in namenloses Entsetzen verwandelt hatte, als er begriffen hatte, dass er sterben würde. Es war schrecklich gewesen. Nie würde sie es vergessen.

Der jüdische Geldverleiher war der Ketzerei angeklagt gewesen und vor den Augen der ehrbaren Bürger von Bourges auf dem Scheiterhaufen verbrannt worden.

Tage danach hatte sie noch immer seine entsetzlichen Schreie in den Ohren gehabt, die nicht hatten verstummen wollen.

Seitdem war die Heilige Inquisition in Bourges allgegenwärtig, und wo immer die Domini canes, die Hunde des Herrn, in ihren schwarzen Kapuzenkutten auftauchten, wichen die Menschen ehrfürchtig vor ihnen zurück. Durch ihre Anwesenheit waren die Einwohner der Stadt unablässig dazu gezwungen, an ihre Sünden zu denken und sich ihre jämmerliche Unzulänglichkeit schmerzhaft ins Bewusstsein zu rufen.

Katharina wusste zwar, dass der Angeklagte ein Jude gewesen war, also ein Ungläubiger, während sie selbst immerhin der achtbaren Bürgerschaft angehörte, doch der Schock, den sie damals erlitten hatte, war so groß gewesen, dass sie ihn nicht wieder hatte vergessen können.

Eleonore sah Elsa streng an. »Ich werde dir die Milch von deinem Lohn abziehen«, sagte sie und wandte sich dann an Marie: »Und du wirst zur Strafe auf dein Essen verzichten und in deine Kammer gehen.«

Schweigend nahm Marie ihre Strafe entgegen. Elsa sah ihr mitleidig nach, als sie sich traurig erhob, um den Befehl ihrer Mutter zu befolgen.

Niemand sprach mehr ein Wort, und nachdem Jean zusammen mit seinen Knechten die Küche verlassen hatte, erhob sich auch Eleonore vom Tisch, um sich ihrer täglichen Näharbeit zu widmen.

Sie würde sich wohl bald nach einer neuen Magd umsehen müssen, denn Elsa war störrisch und ungehorsam, sobald es um Marie ging. Sie hatte geradezu einen Narren an dem Mädchen gefressen, und Eleonore konnte diese Bevorzugung ihrer jüngsten Tochter auf keinen Fall noch länger dulden.

Jean würde wütend werden, wenn er merkte, dass sie nicht einmal die Magd unter Kontrolle hatte.

Elsa hatte die Küche verlassen und war die enge Treppe zum Vorratskeller hinuntergestiegen. Kaum war sie fort, da drehte sich Martha, die Zweitälteste, zu Katharina um.

»Jetzt müssen wir sogar noch das Geschirr wegräumen und das Gemüse putzen, während Marie es sich in der Kammer gemütlich machen kann«, beschwerte sie sich. Sie war kleiner und rundlicher als Katharina und hatte ebenso wie Agnes die dunklen Haare ihres Vaters geerbt.

»Marie ist dumm«, bemerkte Agnes und steckte ihren Finger in den offenen Honigtopf, um ihn anschließend genüsslich abzulecken. Sie war grundsätzlich derselben Meinung wie Martha, die sie über alles liebte.

»Marie ist schuld daran, dass die Leute sich die Mäuler über uns zerreißen«, grollte Katharina, immer noch ganz von ihren düsteren Gedanken beherrscht.

Doch Elsa hatte ihre Worte gehört. Mit einer heftigen Bewegung warf sie das Fleisch und die Fische, die sie aus dem Vorratskeller geholt hatte, auf den Tisch und drehte sich dann zu Katharina um.

»Du solltest dich schämen. Anstatt Mitleid mit deiner Schwester zu haben, denkst du nur an das Gerede der Leute. Aber die würden sich das Maul auch über uns zerreißen, wenn Marie nicht krank wäre, weil sie neidisch auf unseren Reichtum sind, den ihr ja deutlich genug zur Schau stellt«, rief sie aufgebracht und voller Empörung, auch wenn es ihr nicht zustand, die Tochter des Hauses zurechtzuweisen.

»Marie ist der Schandfleck unserer Familie«, bemerkte Katharina und bedachte Elsa mit einem hochmütigen Blick. Sie war jetzt erwachsen, und Elsa war nur eine unbedeutende Magd, die ihr nichts mehr zu sagen hatte, während sie selbst schon bald eine Gräfin sein würde.

»Ich werde mit Mutter darüber reden. Sie muss Marie verbieten, das Haus zu verlassen, sonst wird bald niemand mehr etwas mit uns zu tun haben wollen«, setzte sie entschlossen hinzu.

»Ich will nicht, dass die Leute schlecht über uns reden«, jammerte Agnes mit weinerlicher Stimme.

Martha legte tröstend einen Arm um ihre Schulter.

»Du brauchst keine Angst zu haben. Mutter wird nicht zulassen, dass so etwas passiert.«

Die Bluterbin

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