Читать книгу Die Bluterbin - Hildegard Burri-Bayer - Страница 16
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ОглавлениеDas Leben im Hause Machaut nahm wieder seinen gewohnten Gang.
Und als Marie einige Tage später an einem Wintermorgen gemeinsam mit Martha und Agnes das Haus verließ, war es klirrend kalt.
Es hatte die ganze Nacht über geschneit, und die Mädchen sahen bewundernd auf den glitzernden Neuschnee, der die Stadt mit einer weißen Decke überzogen hatte und selbst die Berge von Unrat in den Gassen überdeckte. Es war Weihnachten, und Elsa hatte auf Eleonores Anweisung schon früh am Morgen angefangen, Brot für die vielen hungernden Bettler zu backen. Wie jedes Jahr im Winter hatten diese den Strom der reisenden Kaufleute abgelöst und gesellten sich nun zu den Krüppeln und Aussätzigen, die sich in der Hoffnung auf etwas Essbares überwiegend auf dem Kathedralenvorplatz aufhielten, wo sie an das Gewissen der Gläubigen appellierten und sich zwischendurch immer wieder in der überfüllten Kathedrale aufwärmten.
Jedes der drei Mädchen trug einen großen Korb voll duftenden Brotes am Arm, um es an die Hungrigen zu verteilen. Als die Mädchen den großen Platz erreichten, waren sie innerhalb kürzester Zeit von einer riesigen Traube von Bettlern, Krüppeln und Aussätzigen umringt. Männer, Frauen und Kinder starrten ihnen aus flehenden Augen entgegen.
Maries Herz zog sich vor Mitleid zusammen, als sie in die bleichen Gesichter der Ärmsten unter den Armen sah. Rasch begann sie ihr Brot zu verteilen, wobei sie darauf achtete, dass die Frauen und Kinder zuerst etwas zu essen bekamen. Der Korb war schon fast leer, aber noch immer drängten sich Menschen aus den hinteren Reihen nach vorne, aus Angst, nichts mehr abzubekommen. Es kam zu einem regelrechten Gerangel, und die Bettler rissen Marie das Brot förmlich aus der Hand.
Ein ausgemergelter Junge mit tief in den Höhlen liegenden Augen kam zu spät, er war nur mit Lumpen bekleidet. Das rotblonde Haar fiel ihm wirr ins Gesicht und verdeckte nur teilweise die tiefe Narbe, die sich quer über seine hohe Stirn zog.
Gerade reichte Marie einer Frau mit einem Säugling im Arm das letzte Brot. Maries Umhang hatte sich durch das Gedränge halb geöffnet und gab den Blick auf ihren seidenen Beutel frei, den sie an einer Schnur befestigt am Gürtel trug. Ein gieriger Ausdruck trat in die grünblauen Augen des Jungen. Das Mädchen war kein Gegner für ihn.
Er nutzte das Gedränge um Marie herum aus und sprang mit einem Satz auf sie zu. In seiner Hand blitzte ein Messer auf. Mit einer schnellen Bewegung zerschnitt er ihre Kordel und nahm den Beutel an sich. Dann war er auch schon wieder in der Menge untergetaucht.
Das Ganze war so schnell vor sich gegangen, dass Marie im ersten Moment gar nicht begriff, was überhaupt geschehen war.
Erst als ihr Blick auf die abgetrennte Kordel fiel, bemerkte sie, dass ihr Beutel verschwunden war und mit ihm ihr geliebter Jadevogel.
Die Bettler begannen sich sofort zu zerstreuen, als sie feststellten, dass es hier nichts mehr zu holen gab.
Allein stand Marie auf dem Kathedralenvorplatz und sah sich suchend nach ihren zwei Schwestern um, doch die waren längst verschwunden. Voller Ekel angesichts der vielen Frostbeulen und Geschwüre in den Gesichtern und auf den ausgestreckten Händen der Bedürftigen, hatten sie sich beeilt, ihr Brot möglichst schnell loszuwerden. Innerhalb kürzester Zeit waren ihre Körbe leer gewesen, und sie hatten sich erleichtert auf den Rückweg begeben, froh, den Anblick der Bettler nicht länger ertragen zu müssen.
Andere Frauen und Mädchen betraten mit Körben an den Armen den Platz und waren innerhalb kürzester Zeit erneut von einer Ansammlung von Bettlern umringt.
Marie hatte nicht bemerkt, dass Robert nur wenige Ellen von ihr entfernt gestanden und sie von seinem versteckten Platz aus beobachtet hatte.
Der kleine Beutelschneider lief ihm direkt in die Arme. Robert sah das Messer in seiner Hand und auch Maries blauen Beutel, den er noch im Laufen unter seinem abgewetzten braunen Umhang zu verbergen suchte.
Der Junge warf einen raschen Blick hinter sich, um sich zu vergewissern, dass er nicht verfolgt wurde. Dieser Augenblick genügte Robert, um ihm das Messer aus der Hand zu schlagen und ihn am Kragen zu packen.
In den Augen des Jungen stand die nackte Angst. Er wusste genau, was für eine Strafe ihn erwartete, wenn man ihn beim Stehlen erwischte.
Dieben und Beutelschneidern wurde ohne langes Zögern die rechte Hand abgehackt, damit sie sich für immer an ihr Verbrechen erinnerten.
»Gib mir den Beutel, den du gerade dem Mädchen gestohlen hast«, forderte Robert leise, aber mit bestimmter Stimme.
Der Junge zögerte, und Robert verstärkte den Druck an seinem Hals. Da gab er nach und zog den Beutel unter seinem Umhang hervor.
»Ich habe seit drei Tagen nichts mehr gegessen, und der Korb war leer«, versuchte er sich zu verteidigen.
»Das rechtfertigt noch lange nicht dein Verhalten«, meinte Robert streng. Trotz allem tat ihm der Junge leid. Er konnte kaum älter als zwölf Jahre sein. Sollten andere über ihn richten, er hatte keine Lust dazu.
»Wenn du bei Gott schwörst, ab sofort nie mehr etwas zu stehlen, werde ich dich ausnahmsweise laufen lassen.«
Ein dankbarer Blick aus den grünblauen Augen traf ihn. Das war mehr, als der Junge zu hoffen gewagt hatte.
»Ich schwöre es«, versprach er feierlich.
»Solltest du deinen Schwur brechen, wirst du in der finstersten Hölle schmoren, darauf gebe ich dir mein Wort.« Robert hatte seine Stimme erhoben.
Der Junge starrte ihn erschrocken an. In der Kathedrale hatte er Bilder von dem riesigen Höllenkessel gesehen, in dem alle Sünder unter größten Qualen bis zum Jüngsten Tag ausharren mussten. Robert sah, wie er schluckte. Er würde seine Worte beherzigen, davon war er überzeugt.
Einige Leute waren stehen geblieben und hatten das Geschehen neugierig beobachtet. Robert lockerte seinen Griff, und der Junge rannte los, als ob der Teufel hinter ihm her wäre. Er befürchtete, dass Robert es sich vielleicht doch noch anders überlegen könnte. Ein lauter Ruf von ihm würde genügen, und die Meute würde sich auf ihn stürzen, um ihn festzunehmen.
Es war nur eine kleine Bewegung, mit der ein kräftiger, grobschlächtiger Mann seinen rechten Fuß nach vorne setzte, aber sie genügte, um den Jungen aus dem vollen Lauf heraus zu Fall zu bringen.
In die Augen des Mannes, der den roten Umhang eines Büttels trug, trat ein grausamer Zug, als er sich blitzschnell bückte und den Jungen mit festem Griff am Arm packte, noch bevor dieser sich zur Seite rollen und entwischen konnte. Robert bekam von dem, was sich hinter seinem Rücken abspielte, nichts mit. In seinen Gedanken war er schon bei Marie. Suchend schweifte sein Blick über den großen Platz, der überfüllt mit Bettlern, allerlei Gesinde und ehrbaren Bürgern in festlichen Kleidern war.
Endlich entdeckte er sie am Ende der langen Schlange, die sich vor dem Portal der Kathedrale gebildet hatte. Mit großen Schritten eilte er auf sie zu. »Ich glaube, ich habe etwas, das Euch gehört«, sagte er und hielt ihr den Beutel hin.
Maries Augen weiteten sich vor Freude. Sie nahm den Beutel und öffnete ihn. Der kleine Jadevogel war unversehrt. Dankbar fasste sie Robert beim Arm, und ihre Augen versanken in einem stummen Zwiegespräch, das jedoch jäh unterbrochen wurde.
Ein angstvoller Schrei ließ Marie den Kopf wenden. Nicht weit von ihr entfernt versammelten sich immer mehr Schaulustige um den Büttel, der den kleinen Gauner so fest gepackt hielt wie ein Jäger seine Beute. Zwei weitere Büttel bahnten sich, gefolgt vom Scharfrichter, einen Weg durch die Leute. Ihre scharlachfarbenen Umhänge hoben sich grell vor dem Hintergrund des hellen Schnees ab.
Marie ließ Robert stehen und lief schnell auf den Jungen zu. Ein stummer Vorwurf stand in seinen angstvoll aufgerissenen Augen.
In aller Eile wurde ein grob zusammengehauener Tisch herbeigeschafft und vor dem Büttel aufgestellt. Ungerührt sahen die Leute zu, wie dieser den Jungen zum Tisch schleifte und seinen rechten Arm auf die Holzplatte drückte. Sein Gehilfe packte den mageren Arm und band ihn mit einem groben Hanfseil so fest auf die Tischplatte, dass das Seil tief in die Haut des Jungen schnitt.
Dieses räuberische Gesindel war eine wahre Plage, und es geschah dem kleinen Lump ganz recht, dass er erwischt worden war, bevor er noch mehr stehlen konnte.
Der Büttel wandte sich an die Menge und forderte sie durch eine Handbewegung auf zu schweigen. Mit drohend erhobenem Schwert stellte sich der Scharfrichter neben ihn, bereit, seine Pflicht zu erfüllen.
Ein aufgeregtes Raunen ging durch die Menge, als er das riesige Eisenschwert Unheil verkündend über den Köpfen der Leute schwang.
»Dieser Junge ist ein Beutelschneider und Dieb, der ehrbaren Bürgern ihr Hab und Gut stiehlt, das sie mühsam im Schweiße ihres Angesichts erworben haben«, brüllte der Büttel. Die Menge quittierte seine Worte mit lautem Beifall.
Voller Verachtung sah er auf den Jungen hinab.
»Gibst du deine Schuld zu?«
Namenloses Grauen packte den Jungen. Seine Lippen zitterten, und er brachte vor Angst und Entsetzen keinen Ton heraus.
Triumphierend wandte sich der Büttel an den Scharfrichter.
»Laut Gesetz wird er dafür seine rechte Hand verlieren, damit jeder, der ihn sieht, weiß, wen er vor sich hat.«
Das Raunen verstummte sofort. Gespannte Erwartung lag über dem Platz.
Marie wandte ihren Blick von dem Jungen ab und versuchte gegen den Schwindel anzukämpfen, der den Boden unter ihren Füßen wanken ließ wie ein Schiff auf den Wellen. Mit letzter Kraft drängte sie sich durch die Menge nach vorne.
»Der Junge ist kein Dieb.« Ihre Stimme drang glockenhell durch die kalte Luft.
Die Köpfe der Menschen fuhren herum, alle Blicke hefteten sich auf das zierliche Mädchen. Empörtes Stimmengewirr ertönte.
Die Miene des Büttels verfinsterte sich. Er liebte diesen Augenblick kurz vor der Vollstreckung des Urteils, denn er genoss die Macht, die er in diesem Moment besaß. Sie allein wog die Verachtung der ehrbaren Bürger auf, die seinen Blick genauso mieden wie den seiner Frau und seiner Kinder.
Der Scharfrichter wartete auf das vereinbarte Kopfnicken des Büttels. Feine Schweißperlen erschienen auf seiner Stirn. Lange würde er das Schwert nicht mehr oben halten können. Er konnte es aber auch nicht herunternehmen, weil das Senken des Schwertes vor der Vollstreckung des Urteils Unglück über ihn bringen würde.
Es begann wieder zu schneien. Feine weiße Schneeflocken schwebten lautlos vom Himmel herab und legten sich wie ein weißer Schleier auf Maries Haar und ihren Umhang. Die Menschen traten zur Seite, sodass sie alsbald für jedermann gut zu erkennen war.
Schützend stellte sie sich vor den Jungen und strich ihm über das verfilzte Haar. Dann öffnete sie ihren Beutel und reichte ihm den Jadevogel.
»Ich bringe ihn dir zurück, er gehört dir.« Ihre Angst um den Jungen war größer als die vor dem grobschlächtigen, hartherzigen Mann, der sie wütend anstarrte und seine Hände bedrohlich in die Hüften stemmte.
Ihre Knie zitterten vor Aufregung, als sie sich an ihn wandte und ihm direkt in die harten Augen sah. Er versuchte seinen Blick abzuwenden, doch es gelang ihm nicht. Der ärgerliche Ausdruck in seinem Gesicht wich alsbald ungläubigem Staunen.
Die Stille über dem Platz war jetzt mit beiden Händen greifbar. Noch wusste niemand, in welche Richtung die Stimmung umschwenken würde. Mit offenem Mund starrten die Menschen auf den Büttel und das Mädchen und warteten ab, was weiter geschehen würde.
Plötzlich riss die graue Wolkendecke auf. Ein Sonnenstrahl fiel auf Marie und tauchte sie in strahlendes Licht. Der Schnee in ihrem Haar und auf ihrem Umhang glitzerte wie kostbare Kristalle.
Die Heilige Jungfrau schien leibhaftig erschienen zu sein, unschuldig und rein wie ein Engel.
Ehrfürchtig wichen die Menschen zurück. Einige sanken von heiligen Schauern geschüttelt auf die Knie und begannen laut zu beten.
Es war ein Zeichen des Himmels, ein Wunder, das der Herr vor ihren Augen vollbracht hatte.
»Macht den Jungen endlich los, er ist unschuldig«, brüllte jemand.
Andere Stimmen fielen in die Forderung mit ein.
Der Scharfrichter warf dem Büttel einen verzweifelten Blick zu. Es war ihm nicht möglich, das Schwert noch länger in der Luft zu halten.
Doch der Büttel reagierte nicht. Verwundert strich er sich über die Stirn. Er fühlte sich, als würde er aus einem tiefen Traum erwachen.
Langsam senkte sich das Schwert über ihren Köpfen nach unten. Die Leute hielten den Atem an, doch nichts geschah. Der Scharfrichter steckte das Schwert in die lederne Scheide zurück und wandte sich ab.
Sofort sprang ein kräftiger Mann vor und versuchte, den Jungen zu befreien. Ein weiterer kam ihm mit seinem Messer zu Hilfe und zerschnitt das Hanfseil, mit dem der Junge an den Tisch gefesselt war.
Der Büttel reagierte auf all das nicht. Seine schwieligen Hände falteten sich zum Gebet, und er richtete seinen Blick gen Himmel, als suche er dort nach einer Antwort auf seine Fragen. Er verstand nicht, was mit ihm geschehen war, und doch war er noch nie so glücklich gewesen wie in diesem Augenblick.
Robert, der Marie keine Sekunde lang aus den Augen gelassen hatte, sah, wie sie wankte. Sofort eilte er zu ihr, um sie zu stützen.
Schon richtete sich die Aufmerksamkeit aller wieder auf Marie.
»Sie ist eine Heilige«, flüsterte eine ärmlich gekleidete Frau. Vor lauter Rührung liefen ihr dicke Tränen über die Wangen.
Zwei zerlumpte Gestalten stürzten auf Marie zu und berührten mit ihren Lippen den Saum ihres Gewandes.
»Sie ist keine Heilige, es ist Marie, die Tochter des Tuchhändlers, und sie ist von Dämonen besessen«, kreischte die Frau des Salzhändlers.
Sofort entstand ein wütendes Wortgefecht, bei dem sich zwei Lager bildeten.
»Bitte bringt mich von hier fort«, flüsterte Marie.
Robert kam ihrem Wunsch nur zu gerne nach. Der Streit wurde immer heftiger, und schon kam es zu den ersten Handgreiflichkeiten. Keiner der Menschen achtete mehr auf den jungen Mann und das Mädchen, die sich unbemerkt davonstahlen.
»Ihr seht erschöpft aus«, sagte Robert besorgt. »Ich werde Euch nach Hause bringen.«
Marie schüttelte den Kopf.
»Es geht mir gut. Ich würde gerne in die Kathedrale gehen, um Gott für Seine große Güte zu danken.«
Sie ließ es zu, dass er neben ihr die Kathedrale betrat, und warf ihm von der Seite einen verstohlenen Blick zu. Die Kathedrale war bis auf den letzten Platz besetzt, selbst zwischen den Gängen standen die Menschen dicht gedrängt.
Robert legte schützend seinen Arm um Maries Schulter und zog sie neben einen Pfeiler. Hunderte von Kerzen erleuchteten die Kathedrale, und der Geruch von Weihrauch und Wachs überdeckte die Ausdünstungen der vielen Gläubigen. Still vor Glück standen Robert und Marie eng nebeneinander und lauschten dem Gesang der Mönche. Beide wünschten sich, dass dieser Moment nie vorübergehen möge.
Von nun an trafen sie sich täglich.
Sie hatten ein verschwiegenes Plätzchen im großzügig angelegten Garten des Bischofs gefunden, wo sie vor neugierigen Blicken geschützt waren und in Ruhe miteinander reden konnten. Robert wollte alles über Maries Familie wissen, und sie erzählte ihm von Elsa und ihren Schwestern. Doch mit dem feinen Gespür eines Liebenden merkte Robert, dass Marie etwas vor ihm zurückhielt. Dennoch drängte er sie nicht, es ihm zu erzählen, obwohl es ihm oft schwerfiel, vor allem wenn er spürte, dass sie traurig war. Nichts sollte ihr Glück trüben oder gar zwischen ihnen stehen. Um sie abzulenken, erzählte er ihr von seinen Eltern und dem Leben auf der Burg, von den Pferden und der Jagd, und Marie hörte ihm zu, glücklich darüber, dass er bei ihr war.
»Könntet Ihr Euch vorstellen, meine Frau zu werden und mit mir auf der Burg zu leben?«, fragte er eines Tages überraschend und nahm Maries Hand zärtlich in die seine. Das Herz klopfte ihm bis zum Hals, als er Marie erwartungsvoll ansah und auf ihre Antwort wartete.
Feine Röte stieg ihr in die Wangen, sie konnte kaum glauben, was sie gerade gehört hatte, es konnte nur ein Traum sein, aus dem sie jeden Moment erwachen würde.
Ihre Liebe zu Robert erschien ihr vermessen und gleichzeitig so zerbrechlich wie das hauchdünne Glas, das der Vater ihr von einer Reise aus Venedig mitgebracht hatte, aber sie war auch voller Hoffnung. Es war, als würde sie nach den Sternen greifen, obwohl diese unerreichbar für sie waren, und sie bekam Angst vor ihrem eigenen Mut.
Robert beobachtete die widerstreitenden Gefühle, die sich deutlich auf ihrem Gesicht widerspiegelten. Wie schön sie war. Es gelang ihm kaum, den Blick von ihr zu wenden. Er unterdrückte den Wunsch, sie an sich zu reißen und zu küssen, um sie nicht noch mehr zu erschrecken.
Wilde Freude durchfuhr ihn, als Marie endlich nickte.
»Ich werde meinem Vater schreiben und ihn um sein Einverständnis bitten, Euch heiraten zu dürfen«, versprach er entschlossen.
Hand in Hand saßen sie danach schweigend nebeneinander und waren wie berauscht von ihrem Glück.
Es war schon später Nachmittag, als Robert Marie nach Hause begleitete. Bevor Maries Elternhaus in Sichtweite kam, verabschiedete er sich von ihr.
»Ich kann es kaum erwarten, Euch wiederzusehen«, sagte er, und seine Stimme klang rau vor Zärtlichkeit. Marie stellte sich auf die Zehenspitzen und hauchte ihm einen Kuss auf die Wange, dann wandte sie sich errötend ab und bog in die Tuchgasse ein.
Robert war vollkommen überrascht. Verblüfft blieb er stehen und starrte ihr nach.
Eine junge Frau kam die Gasse hoch und lief direkt auf Marie zu. Sie war für die Jahreszeit viel zu leicht gekleidet, trotzdem schien sie nicht zu frieren, denn der Schweiß rann ihr in Strömen über das Gesicht. Immer wieder blieb sie stehen und krümmte sich unter einer neuen Schmerzwelle. Offensichtlich hatte sie kein Geld, um einen Bader bezahlen zu können, und die Kathedrale war ihre letzte Hoffnung.
Dort würde sie wohl den heiligen Erasmus anflehen, ihr zu Hilfe zu kommen und ihre körperlichen Leiden von ihr zu nehmen.
Marie sah ihr entgegen und wusste sofort Bescheid. Ihrer beider Augen trafen sich, und Marie spürte, wie die Pein der jungen Frau auf sie überging und immer stärker wurde, bis ihr schließlich schwindelig wurde und der Boden unter ihren Füßen zu wanken begann.
Kurz bevor sie das Bewusstsein verlor, nahm sie jedoch noch das ungläubige Erstaunen in den Augen der jungen Frau wahr, die sie überrascht ansah.
Erschrocken sah Robert, wie Marie zu Boden stürzte, und rannte los, so schnell er konnte. Die Fremde hatte sich über Marie gebeugt und bemerkte voller Entsetzen, wie sich das Gesicht des Mädchens zu verzerren und ihr Körper zu zucken begann.
Robert zögerte nicht lange. Am meisten Angst bereiteten ihm Maries Augen, die starr und leblos wirkten. Er hob sie vorsichtig hoch und trug sie eilig und behutsam zugleich zu ihrem Elternhaus.
»Ihr dürft nicht sterben«, flüsterte er ihr immer wieder ins Ohr. »Bitte sterbt nicht.« Allein der Gedanke, Marie zu verlieren, war unvorstellbar und ließ ihn sich völlig hilflos fühlen.
Elsa hatte gerade das Fenster geöffnet, um die Stube zu lüften, als sie Robert mit Marie auf den Armen die Gasse hochkommen sah. Sie stürzte die Treppe hinunter und riss die Türe auf, noch bevor Robert klopfen konnte. Ihre Augen blitzten zornig, und auf ihren Wangen hatten sich vor lauter Aufregung hektische Flecken gebildet. Was hatte dieser Kerl ihrem kleinen Mädchen nur angetan?
Vor ihren Augen stiegen wieder die furchtbaren Bilder der Vergangenheit hoch. Der grausame Blick, mit dem der Sohn des Grafen sie verschlungen hatte, bevor er ihr rücksichtslos die Kleider vom Leib gerissen hatte und brutal über sie hergefallen war.
Nur die Tatsache, dass der junge Mann Marie auf seinen Armen trug, hielt sie davon ab, sich wütend auf ihn zu stürzen, obwohl sie den Anblick, wie inniglich Robert Marie umfasst hielt, kaum ertragen konnte.
Doch dann sah sie die heillose Angst in seinen sanften, hellen Augen. Der junge Mann wirkte ungewöhnlich ernst für sein Alter und schien sehr besorgt um Marie zu sein, was sie etwas besänftigte.
Mit einer knappen Kopfbewegung forderte sie ihn auf, ihr hinauf in die Kammer zu folgen, wo Robert Marie behutsam und sanft auf das große Bett legte.
»Geht jetzt«, forderte Elsa ihn nur mühsam beherrscht auf. »Ich muss mich um Marie kümmern.«
Robert sah sie verzweifelt an. In seinen Augen konnte Elsa die Sorge um Marie lesen.
»Sie wird wieder gesund werden, doch jetzt geht«, wiederholte sie ihre Aufforderung.
Robert erwiderte nichts, blieb aber noch eine ganze Weile stehen. Schließlich warf er Marie noch einen letzten Blick zu, bevor er sich umdrehte und widerwillig das Haus verließ.
Vor der Türe sah er sich suchend nach der fremden Frau um, die sich zuvor auf der Gasse über Marie gebeugt hatte, doch er konnte sie nirgendwo mehr entdecken. Gerne hätte er sie gefragt, was eigentlich geschehen war.
Die Sorge um Marie ließ ihn ziellos durch die Stadt laufen, und als er sich endlich auf den Heimweg begab, läuteten die Glocken schon die Nacht ein.
Es war bereits heller Tag, als Marie erwachte. Sie fühlte sich schwach und hatte schrecklichen Durst. Mit weichen Knien erhob sie sich und zog ihr Gewand über. Sie hatte sich gerade angekleidet, als Elsa die kleine Kammer betrat, in der Hand eine Schale mit Suppe.
»Ich habe solchen Durst«, sagte Marie und sah Elsa bittend an.
Elsa stellte die Holzschale auf den Boden und lief zurück in die Küche, um Marie einen Becher mit verdünntem Wein zu holen. Gierig trank Marie den Wein und sträubte sich nicht lange, als Elsa ihr befahl, sich wieder ins Bett zu legen.
»Deine Mutter ist sehr erzürnt. Sie möchte, dass du dich ausruhst, weil dein Vater heute Abend einen wichtigen Gast erwartet. Ich glaube fast, sie haben einen Ehemann für dich ausgewählt.«
Marie starrte Elsa erschrocken an. Ihre Eltern hatten mit ihr bislang niemals über eine Eheschließung gesprochen, was nicht weiter verwunderlich war. Welcher Mann würde schon freiwillig ein Mädchen zur Frau nehmen, von dem es hieß, es wäre von Dämonen besessen? Sie dachte an Robert. Er war der einzige Mann, dem sie vertraute und den sie mit Freuden heiraten würde. Was konnte sie nur tun?
Elsa beobachtete sie mitleidig. Sie wusste, dass Marie sich an nichts mehr von dem, was geschehen war, erinnern konnte, zögerte aber, ihr von dem jungen Mann zu erzählen, der sie nach Hause getragen hatte, um sie nicht noch mehr zu beunruhigen. Sie war überzeugt davon, dass es sich dabei um denselben jungen Mann handelte, der Marie schon einmal nach Hause begleitet hatte.
Marie hatte ihr zwar versprochen, ihn nicht wiederzusehen, doch es sah ganz danach aus, als ob sie ihr Versprechen nicht gehalten hätte. Doch das Wichtigste war jetzt, dass Marie erst einmal wieder zu Kräften kam.
Sie hörte die harte Stimme ihrer Herrin, die schon ungeduldig nach ihr rief, und beeilte sich, in die Küche zurückzukommen.
»Wie geht es Marie?«, fragte Eleonore. Sie war ärgerlich, weil Elsa sich so lange in der Kammer aufgehalten hatte.
»Es geht ihr schon besser, sie wird zum Essen herunterkommen können«, gab die Magd zur Antwort.
Eleonore seufzte erleichtert auf.
Jean war wütend geworden, als er von dem Vorfall erfahren hatte, und hatte ihr schwere Vorwürfe gemacht, weil sie Marie allein aus dem Haus hatte gehen lassen.
Gegen Mittag trafen die Gäste ein. Raymond Chandos hatte seinen ältesten Sohn mitgebracht, genau wie er es mit Jean Machaut vereinbart hatte. Renaud war klein, dunkelhaarig, und ein verschlagener Ausdruck lag in seinem Gesicht. Seinen flinken Augen entging nicht die geringste Kleinigkeit. Er hatte sich sofort bereit erklärt, Marie zu heiraten, wenn es dadurch endlich mit dem Geldmangel vorbei sein würde. Schließlich gab es genügend Möglichkeiten, um sich einer unbequemen Ehefrau nach der Hochzeit wieder zu entledigen, wenn man sie nicht mehr brauchte.
Jean begrüßte seine Gäste höflich und stellte ihnen seine Familie vor. Nachdem sich alle um die Tafel versammelt hatten, überreichte Raymond Chandos dem zukünftigen Schwiegervater seines Sohnes ein Rechentuch aus blau schimmerndem Samt, auf dem in gleichmäßigen Abständen Goldfäden eingestickt waren, sowie einen Beutel, der aus dem gleichen Material genäht war.
Neugierig breitete Jean das kostbare Tuch auf dem Tisch aus. Unter den staunenden Augen der Familie erklärte Raymond ihm, wie es funktionierte. »Es stammt von den Muselmanen, aber in Venedig benutzt beinahe jeder erfolgreiche Geschäftsmann diese Rechenmethode.«
Er nahm einige dünne Elfenbeinplättchen in Form einer Münze aus dem Beutel und legte sie nebeneinander zwischen die Goldfäden. Dann fuhr er mit seiner Erklärung fort:
»Die Null ist für sich allein ein Nichts, aber wenn man sie einer Zahl hintenansetzt, verzehnfacht sie deren Wert. Die Kirche behauptet zwar, die Null stamme vom Teufel persönlich, aber sie erleichtert das Rechnen von größeren Summen doch sehr.«
Jean probierte es aus und war begeistert.
Elsa, die neugierig zugehört hatte, schlug heimlich ein Kreuzzeichen. Das mit der Null konnte nicht mit rechten Dingen zugehen. Wie konnte ihr Herr nur solch ein gottloses Geschenk annehmen und sich darüber auch noch freuen, wo es dazu noch von Heiden stammte? Kopfschüttelnd ging sie zurück in die Küche, um den Wein zu holen.
Mit Maries Schönheit hatten weder Raymond noch Renaud gerechnet. Heißes Begehren stieg Renaud in die Lenden, als er das zartgliedrige Mädchen mit der ungewöhnlich weißen Haut genauer musterte. Die unschuldige Schönheit seiner Braut war ganz nach seinem Geschmack, die das genaue Gegenteil von dem war, was er vorzufinden befürchtet hatte, nachdem sein Vater ihm von dem Handel berichtet hatte.
Zufrieden nahm er den ihm zugewiesenen Platz am Tisch ein und genoss das gute Essen und den Wein. Es gelang ihm kaum, seinen Blick von dem jungen Mädchen zu wenden, das so still am Tisch saß, als würde sie das alles gar nichts angehen.
Lediglich bei der Begrüßung hatte sie ihn für einen winzigen Moment mit einem merkwürdigen Ausdruck in den Augen angesehen.
Das Mädchen wirkte weder krank noch schwachsinnig, und er hätte es auch für weniger als dreißig Pfund Silber genommen.
Nach dem Essen führte Jean die beiden Männer in sein Lager und zeigte ihnen seine Stoffe. Es stellte sich heraus, dass Raymond über weitaus bessere Handelsbeziehungen in Venedig verfügte, als Jean gehofft hatte, und so waren alle drei Männer hochzufrieden mit dem Handel, den sie mit einigen Krügen Wein nochmals bekräftigten.
Am nächsten Tag überreichte Jean dem zukünftigen Schwiegervater seiner Tochter fünf Pfund Silber als Vorschuss und einige Ballen Brokat auf Kommission, die es ihm ermöglichten, seine Geschäfte sofort wieder aufzunehmen.
Die Verabschiedung der drei Männer verlief beinahe freundschaftlich, und Jean begab sich gut gelaunt zurück in sein Lager.
Auch Eleonore war erleichtert. Wenn Marie erst einmal aus dem Haus war, würden die Nachbarn mit Sicherheit ihre üble Nachrede einstellen, und sie könnten endlich wieder in Frieden leben.
Marie war entsetzt bei dem Gedanken, den dunkelhaarigen Fremden heiraten zu müssen. Sie hatte die Gier in seinen verschlagenen Augen bemerkt und sich schutzlos und verletzbar unter seinen begehrlichen Blicken gefühlt. Roberts klares Gesicht tauchte vor ihr auf, alles an ihm war anders. Warum konnte er nicht ihr Ehemann werden, wenn sie schon heiraten musste? Alles in ihr sträubte sich dagegen, ihren Eltern zu gehorchen, doch dann dachte sie wieder an die Schuld, die sie trug, und wusste, dass sie wohl kaum eine andere Wahl haben würde. Allein schon um diese zu begleichen, durfte sie ihren Eltern den Gehorsam nicht verweigern.
Kurz bevor Renaud mit seinem Vater eingetroffen war, hatte Eleonore ihr noch klargemacht, was für ein großes Glück es für sie war, dass es ihrem Vater gelungen war, trotz ihrer Krankheit einen Ehemann für sie zu finden.
Von diesem Tag an ließ man sie in Ruhe, und es war fast so, als ob sie ihr Elternhaus schon verlassen hätte und nicht mehr vorhanden wäre.
Robert hatte in dieser Nacht keinen Schlaf gefunden. Mehrmals war er am nächsten Tag an dem Haus, in dem Marie wohnte, vorbeigelaufen in der Hoffnung, entweder sie selbst oder die Magd zu sehen. Doch er wagte es nicht zu klopfen, um sich nach Maries Befinden zu erkundigen, und so blieb ihm nichts anderes übrig, als zu warten. Erst am darauf folgenden Tag sah er sie endlich wieder.
Maries Augen leuchteten vor Freude auf, als er sich aus dem Schatten eines der gegenüberliegenden Häuser löste und ihr entgegenkam. Schweigend liefen sie eine Weile nebeneinanderher und über den großen Platz, bis Robert schließlich stehen blieb und ihr fragend in die dunklen Augen sah.
»Was ist mit Euch geschehen? Ich habe mir große Sorgen um Euch gemacht.«
Es dauerte eine Zeit lang, bevor Marie anfing zu begreifen. Ihre Wangen glühten vor Scham, und ihre schönen Augen füllten sich mit Tränen.
Es war also eingetreten, wovor sie sich am meisten gefürchtet hatte: Robert hatte sie gesehen, als die schrecklichen Krämpfe von ihrem Körper Besitz ergriffen hatten. Sie wollte nur noch fort, um seine Ablehnung und seinen Ekel, den er nunmehr sicher empfand, nicht ertragen zu müssen. Blind vor Tränen drehte sie sich um und rannte, so schnell sie konnte, nach Hause.
Robert war von ihrer unerwarteten Reaktion viel zu überrascht, um ihr sofort zu folgen. Verzweifelt überlegte er, was er wohl falsch gemacht hatte, doch ihm fiel besten Wissens und Gewissens nichts ein. Allerdings hätte er sie nicht fortgehen lassen dürfen, ohne sie zu fragen.
Doch Marie hatte schon das Ende des Platzes erreicht und lief an der Zehntscheune vorbei. Damit war sie bereits zu weit entfernt, um sie jetzt noch einholen zu können.
Elsa kam ihr auf der Treppe entgegen. Maries gerötete Augen verrieten ihr, dass sie geweint hatte. Voller Anteilnahme sah sie das Mädchen an.
»Du hättest es mir sagen müssen«, meinte diese.
Elsa starrte sie verständnislos an.
»Was hätte ich dir sagen müssen?«, fragte sie zurück.
»Dass Robert mich gesehen hat, dass er es war, der mich zurückgebracht hat.«
Endlich begriff Elsa, was Marie meinte. Ihr Gesicht wurde streng.
»Du hast mir dein Versprechen gegeben, ihn nicht wiederzusehen. Jetzt musst du auch die Folgen tragen, es gebrochen zu haben.« Ungläubig schüttelte sie ihren Kopf. »Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich nicht glauben, dass ausgerechnet du dich heimlich mit einem jungen Mann triffst.«
Sie packte Marie an den Schultern und schüttelte sie, als könne sie sie dadurch wach rütteln. »Hast du den Verstand verloren? Wo es doch immer auf das Gleiche hinausläuft mit den Männern. Erst stammeln sie heiße Liebesschwüre, und dann fallen sie wie ein Tier über dich her, um dich anschließend mit einem dicken Bauch sitzen zu lassen.«
Marie senkte schuldbewusst ihren Blick.
»Ich habe es nicht gewollt, und jetzt ist es geschehen.« Ihre Stimme klang so traurig, dass Elsa nicht anders konnte, als ihr mitleidig über die Wange zu streichen.
»Ich wollte dich nicht beunruhigen, aber du musst wissen, dass der junge Mann in großer Sorge um dich war. Er schien ganz vernarrt in dich zu sein, und ich hatte große Mühe, ihn von deinem Bett fortzubekommen.«
Überrascht hob Marie ihren Kopf, und eine leise Hoffnung stieg in ihr auf.
»Ist das wirklich wahr, er hat sich nicht abgewandt wie die anderen?«
»Ich schwöre es bei Gott und allen Heiligen.«
Zufrieden sah Elsa, dass Marie sich ein wenig zu beruhigen schien.
Ihr Blick war nachdenklich geworden. Mit weit geöffneten Augen starrte sie vor sich hin. Es übertraf einfach ihre Vorstellungskraft, dass es außer Elsa noch einen Menschen geben sollte, der so bedingungslos zu ihr stand.
Plötzlich griff sie nach Elsas Händen und klammerte sich an sie.
»Bitte hilf mir«, bat sie. Ihr Gesicht glühte vor Entschlossenheit. »Ich bete jeden Tag zu Gott, damit Er diese schreckliche Krankheit von mir nimmt, doch Er scheint meine Gebete nicht zu hören. Kannst du mir nicht helfen?« Dabei sah sie Elsa so inständig und flehentlich an, dass Elsa sie mitleidig in ihre Arme zog.
»Ich werde sehen, was ich tun kann«, versprach sie, dann wurde ihre Stimme wieder streng. »Du siehst, dass ich recht hatte mit meinen Befürchtungen, was die Männer angeht. Sie bringen nur Aufruhr und Unglück in unser Leben. Man sollte sich von ihnen fernhalten, anstatt ihre Nähe zu suchen wie eine heiße Hündin.«
Maries Gesicht überzog sich mit flammender Röte. Sie war so geschockt über Elsas Worte, dass sie keine Erwiderung herausbrachte.
Elsa merkte, dass sie zu weit gegangen war.
»Ich habe es nicht so gemeint, obwohl ich recht habe. Wer die Gefahr sucht, kommt auch in ihr um. Eines Tages wirst du noch an meine Worte denken. Doch jetzt muss ich zurück an meine Arbeit, und du wirst dich ausruhen«, sagte sie so bestimmt, dass Marie sofort nach oben ging und in ihrer Kammer für die nächsten zwei Stunden in einen tiefen Schlaf fiel.
Die nächsten Tage verbrachte Marie im Haus und stickte von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang an einem Altartuch, das für die Kathedrale bestimmt war. Als sie es schließlich nicht mehr länger aushielt, immer nur im Haus zu sein, begann sie schon morgens in aller Frühe, die Kathedrale zu besuchen und dort den langen Litaneien der Mönche zu lauschen.
Um diese Tageszeit betraten nur wenige Frauen die Kathedrale, und Marie war überzeugt davon, dass Gott ihr nun viel leichter zuhören konnte, wenn sie zu Ihm sprach. Seitdem sie Robert nicht mehr traf, fühlte sie sich einsamer als je zuvor.
Unterdessen war Robert verzweifelt. Noch nie zuvor hatte er sich so sehr zu einem Menschen hingezogen gefühlt wie zu Marie, die ihm mehr bedeutete als alles andere auf der Welt.
Ob es vielleicht etwas mit ihrer Krankheit zu tun hatte, dass sie nicht mehr in die Kathedrale kam? Oder war ihre Familie dahintergekommen, dass sie sich heimlich getroffen hatten?
Nachdem sie zusammengebrochen war, hatte er sich so hilflos gefühlt, weil es nichts gegeben und er nicht gewusst hatte, womit er ihr hätte helfen können. Schon wieder versank er ins Grübeln. Seine Gedanken drehten sich nur noch um Marie, und es fiel ihm jeden Tag schwerer, sich auf sein Studium zu konzentrieren.
Am nächsten Morgen sollte ihm jedoch das Schicksal zu Hilfe kommen.
Er war früher aufgewacht als sonst und beschloss nach einem Blick auf seine laut schnarchenden Kameraden, noch vor dem Studium in die Kathedrale zu gehen und Gott anzuflehen, dass Er ihm Marie zurückgeben möge.
Er betrat die Kathedrale durch den Seiteneingang, den auch die Mönche benutzten. Als er durch das Mittelschiff ging, erblickte er Marie. Im Gebet versunken stand sie in der Seitenkapelle und betete zur Heiligen Mutter.
Sie bemerkte ihn erst, als er neben sie trat.
Er sah die Freude in ihren Augen, doch nur für einen kurzen Augenblick, dann verschloss sich ihr Gesicht und wurde abweisend.
Robert fasste sie sanft am Kinn und zwang sie, ihn anzusehen.
»Warum seid Ihr nicht mehr in die Kathedrale gekommen? Ich glaube beinahe, dass Ihr mich meidet. Sagt mir, wovor Ihr Euch fürchtet«, forderte er sie leise auf.
Zögernd blickte sie ihm in die Augen, in denen sie jedoch nichts anderes als aufrichtige Sorge und Zuneigung lesen konnte, und ihr Herz begann wie wild zu schlagen. Elsa hatte recht gehabt. Obwohl er von ihrer Krankheit wusste, sah er sie noch immer genauso liebevoll an, wie er es vorher getan hatte.
»Ich hatte Angst, dass Ihr Euch von mir abwendet, wenn Ihr von meiner Krankheit erfahrt. Die Leute sagen, es wären Dämonen in meinem Körper. Niemand will etwas mit mir zu tun haben, selbst die Gassenjungen gehen mir aus dem Weg.«
Ihre Stimme klang dabei so verzagt, dass Robert sie nur noch in den Arm nehmen wollte, trotzdem verstand er nicht, was sie meinte. Wieso sprach sie plötzlich von Dämonen? Was sollte ausgerechnet Marie mit Dämonen zu tun haben? Allein der Gedanke war absurd.
»Was ist das für eine Krankheit, von der Ihr sprecht? Hat die Frau, die ich bei Euch gesehen habe, etwas damit zu tun?«
Marie schüttelte den Kopf. Sie wünschte sich nichts sehnlicher, als sich Robert anzuvertrauen, aber ob sie es wirklich wagen konnte?
Er war so gelehrt und klug, und sie vertraute ihm. Vielleicht würde er verstehen, wofür sie selbst keine Erklärung fand, doch dann fiel ihr ein, wie verständnislos Katharina reagiert hatte, und sie wurde wieder unsicher.
Robert spürte, wie sie mit sich rang.
»Ich werde Euch nicht eher gehen lassen, bevor Ihr mir nicht alles erzählt habt«, sagte er bestimmt.
»Ich habe nur gesehen, dass die Frau große Schmerzen hatte, dann ist mir schwindelig geworden, und ich kann mich an nichts mehr erinnern«, begann sie vorsichtig und wartete gespannt auf seine Reaktion.
Robert legte seinen Arm um ihre Schulter und zog sie ganz nah zu sich heran. »Ich werde Euch beschützen und nicht zulassen, dass Euch jemand verletzt. Ich schwöre es bei Gott«, versprach er.
Marie hatte das Gefühl, vor Glück zu zerspringen, doch dann fiel ihr siedend heiß ein, dass sie Robert noch nichts von ihrer Verlobung erzählt hatte. Sie durfte es ihm nicht verschweigen.
»Mein Vater hat mich mit dem Sohn eines seiner Geschäftspartner verlobt und den Hochzeitstermin für das kommende Frühjahr festgesetzt«, gestand sie ihm mit gepresster Stimme.
Robert fühlte sich, als ob ihm gerade jemand mit einem Dolch mitten ins Herz gestoßen hätte. Er dachte nicht länger an die junge Frau, und auch Maries Andeutungen über ihre Krankheit waren in diesem Moment ohne jede Bedeutung für ihn.
»Und was ist mit Euch? Ist es ebenfalls Euer Wunsch, diesen Mann zu heiraten?« Er stellte die Frage doch heftiger, als er vorgehabt hatte, aber es gelang ihm nur mit sehr viel Mühe, seine Eifersucht auf Maries Verlobten zu beherrschen.
Marie schüttelte empört den Kopf.
»Ich würde lieber gar nicht heiraten als einen Mann wie ihn. Er hat mich mit seinen kleinen stechenden Augen gemustert, als wäre ich ein Stück Vieh, es war entsetzlich«, brach es aus ihr heraus.
Alles in Robert sträubte sich dagegen, Maries Verlobung kampflos hinzunehmen. »Ich werde meinem Vater noch heute einen Brief schreiben, und dann werde ich mit Eurem Vater sprechen und ihm ein Angebot machen, das er nicht ausschlagen kann.« Entschlossen fasste er Marie an beiden Schultern.
»Bis zur Hochzeit ist es noch lange hin, und wir dürfen die Hoffnung nicht aufgeben«, setzte er drängend hinzu, als Marie noch immer schwieg.
Marie wusste, dass Robert sich etwas vormachte, denn ihr Vater würde sein einmal gegebenes Wort niemals brechen, doch sie brachte es nicht über sich, ihm die Hoffnung zu nehmen.
Robert schien ihre Zweifel zu spüren. Es hielt ihn nicht länger auf der Bank, und er begann unruhig auf und ab zu gehen, um besser nachdenken zu können. Der Gedanke, Marie zu verlieren, nachdem er sie gerade erst gefunden hatte, machte ihn rasend, und er hatte das Gefühl, sofort etwas unternehmen zu müssen.
»Ich muss jetzt gehen, aber vorher möchte ich Euer Versprechen, dass Ihr nie wieder vor mir weglaufen werdet.«
Marie versprach es und sah ihm nach, wie er mit großen Schritten davonging und durch den Park eilte. Roberts Verhalten hatte ihr gezeigt, dass er sie ebenso sehr liebte wie sie ihn, und doch durfte diese Liebe nicht sein. Obwohl sie wirklich war, war sie gleichzeitig doch nur ein Traum, den sie nicht leben, den ihr aber auch niemand nehmen konnte und den sie für immer tief in ihrem Herzen verschließen wollte.