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Ein neuer Lebensabschnitt

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Endlich war die ersehnte Schulentlassung da. Das Abschlusszeugnis war auf den 20. März 1940 datiert. Die Entlassungsfeier fand in Bürgel in der „Schärbelschänke“ statt. Die Rede vom Schulleiter war vorbei und es war gegen 19.00 Uhr. Der Wirt, Herr Heller, stellte das Radio lauter, weil Nachrichten kommen sollten. Die Zeugnisse hatten wir schon erhalten. Jedenfalls kamen nun die Nachrichten vom Radio und wir erlebten eine große Enttäuschung. Hatten wir doch gedacht, dass für uns nun viele Dinge erlaubt sind, so wurde an diesem Tag ein neues Jugendgesetz verkündet, was uns große Einschränkungen auferlegte. Zum Beispiel wurden Tanzveranstaltungen verboten. Das begründete man damit, dass man in der Heimat nicht sorglos tanzen könne, während die Soldaten „im Felde“ stehen. Laut diesem Jugendgesetz durften wir uns nicht mehr ohne Erziehungsberechtigte nach 21.00 Uhr auf der Straße oder in Gaststätten aufhalten. Rauchen war auch verboten. Erst ab 18 Jahren war alles, außer Tanzen, gestattet. Alkohol brauchte man nicht zu verbieten, den gab es sowieso nicht. Nur besonders dünnes Bier.

Mit einem Zeugnis der miesen Mittelmäßigkeit wurde ich eingestellt. Das Warten darauf war fast wie eine Folter. Alle meine Schulkameraden traten ihre Lehrstelle an oder wussten, wann sie beginnen sollten. Erst am 1. April 1940 kam die Mitteilung, dass ich eingestellt werde und am 8. April die Lehrzeit begänne. Wenn ich im Lehrlingsheim wohnen möchte, sollte ich am 7. April anreisen und mich in Suhl, in der Hohenfeldstraße 68 melden. Mein Lehrvertrag lautete auf „Technischer Zeichner“.

In der Mitteilung stand auch, wie ich mich auszurüsten hätte, wenn ich im Lehrlingsheim wohnen möchte. Dort war es billiger, also, kam für mich nur das Lehrlingsheim infrage. Meine Ausstattung wurde ganz schön teuer: Drei Braunhemden, zwei kurze schwarze Hosen, eine lange Winterhose mit Winteruniformbluse der Hitlerjugend, sechs Paar graue Kniestrümpfe, ein Paar braune Halbschuhe, ein Paar schwarze hohe Schuhe und noch viele andere Sachen. Wir hatten kein Geld und unser Vater war im Krieg. So wurde alles gepumpt. Mit Ach und Weh hatte ich am Sonnabend vor meiner Abreise alle Sachen beisammen. Nun fehlte noch die Bestätigung, dass ich in der Hitlerjugend sei. Bei der Übernahme von den Pimpfen zur Hitlerjugend hatte ich mich gedrückt. Mit etwas Schiss in den Hosen ging ijoch zu Neuschäfer in die Villa am Bürgeler Südgraben. Das ging alles glatt. Und nun war ich reisebereit.

Am Sonntag, dem 7. April 1940 gegen sieben Uhr, fuhr der Zug. Meine Mutter brachte mich zum Bahnhof in Bürgel. Auf der Straße vorm Bahnhof gab sie mir noch einen Schmatz auf die Wange, als der Zug von Eisenberg kommend zu hören war. Das war das einzige Mal, dass ich so etwas von meiner Mutter bekam, seit ich mich erinnern konnte.

Am Nachmittag kam ich in Suhl an und fragte mich durch, wie ich zum Lehrlingsheim der „Gustloff-Werke“ komme. Dabei erfuhr ich, dass der Betrieb auch „BSW“ genannt wurde. Als ich in die „Hohe Feldstraße“ wollte, wurde ich mehrmals berichtigt, dass da kein Lehrlingsheim sei. Man schickte mich zu einer grünen Villa, wo aber niemand zu hören und zu sehen war. So fragte ich nur noch nach der „Hohen Feldstraße“. Endlich bekam ich den richtigen Hinweis. Das Lehrlingsheim war nämlich umgezogen. Nun fand ich die Straße und lief von Nr. 1 bis zur 68. Dort befand sich ein großes Tor, was gleichzeitig die ganze Straße versperrte. Es stand aber die richtige Nummer daran. Eine Tür stand offen, durch die das Sonnenlicht strahlte. Von weitem hörte ich Musik, erzeugt mit einer Schrammel oder wohl richtig Waldzither genannt. Je näher ich dem Tor kam, um so lauter wurde die Musik. Als ich durch die offene Tür trat, war rechts ein kleines Häuschen mit einem großen geöffneten Fenster. Hinter diesem saß ein Mann an einem Tisch, der dort auf der Zither spielte. Auch er hatte wieder so eine graublaue Uniform an, wie ich sie schon bei den Betriebswachen gesehen hatte.


Deckblatt einer Werbebroschüre aus dem Jahr 1942

Als er mich gewahrte, unterbrach er sein Spiel und forderte mich auf, ein Stück weiter die große und breite Treppe hinaufzugehen, wo mich „der Ehrhard“, der Heimleiter, schon erwarten werde. Ich ging über eine geschotterte Straße auf die Treppe zu. Etwas geblendet von der Sonne stieg ich die Stufen hinauf und stolperte an einem kleinem Pfahl, der vor den Brettern steckten, welche die Stufen bildeten. Mein Persil-Karton, in dem ich statt einem Koffer meine Habseligkeiten untergebracht hatte, kullerte die Stufen wieder hinunter. Gleichzeitig kam der Heimleiter in Hitlerjugend-Uniform einen schrägen Weg herunter, der hinter einem Schotterplatz nach links unter einer Baracke entlang führte. Verschämt holte ich meinen Persil-Karton zurück.

Der Heimleiter kam heran und sagte: „Du hast ja das Knie aufgeschlagen. Du gehst gleich mal zur Susi – das ist meine Frau – und lässt dich verbinden. Ich bin der Heimleiter und Gefolgschaftsführer und heiße Ehrhard Haider.“ Er nahm mir gleich meinen Persil-Karton ab und führte mich den schrägen Weg hoch, von wo ein Weg zu der in der Mitte stehenden Baracke abging. Ich sollte an die Tür klopfen, doch im gleichen Moment erschien eine schlanke, nette und hübsche Frau mit großen, blauen Augen. Das sah ich erst genauer, als ich dann bei ihr ankam. Der Heimleiter rief ihr zu, sie möge mich verbinden. Zu mir sagte er, ich möge dann hoch kommen zur Stube Eins. Dabei deutete er mir den Weg an, der zu einer seitlich, fast am Zaun entlang führenden Treppe führte. Die Treppe war ebenfalls aus Brettern und davor eingeschlagenen Pflöcken hergestellt, der Tritt der Stufen war mit dunkler Schlacke geebnet.

Während der Heimleiter mit meinem Persil-Karton weiterging, bog ich ab zur Susi. Die lotste mich in den Vorraum der Baracke, in dem es erst an einer Brüstung entlang ging. In dem Vorraum stand in einer Ecke ein Schemel, auf den ich mich setzen sollte. Susi besah sich mein Knie und sagte dann, dass das halb so schlimm sei. Sie betupfte die Wunde mit Jod, wobei ich bald durch die Decke der Baracke gefahren wäre, denn so brannte das. Aber vor so einer schönen Frau biss ich die Zähne fest zusammen. Während Susi mich versorgte, ein Mullstück auf die Wunde legte und über kreuz zwei Pflasterstreifen, sagte sie: „Du bist nicht der erste, dem das passiert. Sind ja auch verrückte Stufen.“ Dann durfte ich gehen.

Als ich die schon erwähnte Treppe hochgegangen war, ging es an einer langen Baracke entlang, in deren Mitte ein Turm stand, der ebenfalls, wie die Baracken, aus Holz war. An der anderen Seite der Baracke waren nummerierte Türen. In die Nummer Eins sollte ich eintreten. Als ich durch die Tür trat, kam ich erst in einem kleinen Vorraum. Dann kam eine weitere Tür. In der nächsten Stube befanden sich der Heimleiter und ein anderer junger Mann, der eine Hitlerjugend-Uniform trug. Er hieß Robert Kleingünter und erwies sich als Stubenältester. Er war im zweiten Lehrjahr. In der Stube standen zwei große Tische mit Bänken und an den Stirnseiten je ein Schemel. In der Mitte des Raumes befand sich ein Stützbalken und neben diesem ein großer Kanonenofen, dessen Rohr durch das Dach ging. Vorn neben dem Eingang stand ein großer Schuhschrank. Der Heimleiter und der Stubenälteste zeigten mir mein Bett und wie es herzurichten sei. Während sie gerade demonstrierten, wie der Bezug über die Decke zu ziehen sei, kam ein weiterer Bewohner. Es war Waldemar Hüsing aus Göttingen. Er bekam das Bett unter mir und den Spind neben meinen, der gleich neben dem Bett stand. Hüsing sagte zu den beiden Bettenbauern, dass sie gleich mit seinem Bett weitermachen könnten. Das taten sie aber nicht. Waldemar Hüsing war schon 18 Jahre alt und kein regelrechter Lehrling. Er hatte das Abitur abgelegt und wollte studieren. Vorher sollte er ein Jahr als Volontär im Werk arbeiten. Was das war, wusste ich damals nicht. Er musste sich jedenfalls so verhalten wie wir Lehrlinge.

Die Stube hatte an jeder Seite zwei Fenster. Der vordere Tisch stand an der Türseite quer vor den beiden Fenstern, während der andere Tisch mit einer Stirnseite vor den anderen beiden Fenstern stand. So stand er auch an den Fußenden der Doppelbetten, man hatte aber noch genügend Platz zum Sitzen am Tisch. Die Baracken gehörten zum ehemaligen Arbeitsdienstlager von Suhl.

Der Heimleiter kam später mit weiteren Neuankömmlingen, von denen nur einer zu uns hereingeschickt wurde. Es war Hans Syndermann aus Lüneburg. Robert Kleingünter, der Stubenälteste wies ihn ein. Gegen 19.00 Uhr ertönte draußen ein langer Pfiff mit einer Trillerpfeife und der Pfeifer rief: „Raustreten zum Abendessen!“, was dann noch einige Male wiederholt wurde.

Robert Kleingünter führte uns herunter zum Speisesaal. Zu ihm gelangte man durch eine Mitteltür oder eine Tür neben der Küche, die praktisch über dem Wachhäuschen lag. Von der Küche her wurden die Tische, die mindestens für 16 Mann Platz boten, nach den Stubennummern besetzt, wodurch wir als erste an der Küche sitzen konnten. Der letzte und zwölfte Tisch befand sich in der Nähe einer kleinen Bühne.

Der Heimleiter stellte uns die Köchin vor. Sie war eine stramme, große Frau mit blonden Haaren, hatte ein ovales Gesicht, war freundlich, aber bestimmt. Sie ließ nichts durchgehen, wie wir später feststellten. Gundula war ihr Name. Ihr zur Seite stand eine etwas ältere Frau aus Dresden. Während Gundula noch keine vierzig war, hatte ihre Küchenhilfe die Fünfzig schon überschritten. Sie bedauerte uns immer, wenn wir schwere Stunden zu überstehen hatten. Dafür hatte uns Gundula fest im Griff. Das Geschirr war derb und nicht so leicht zerbrechlich. Vor allem die Tassen waren recht stabil. Die ganze Küchenausrüstung entsprach der vom Reichsarbeitsdienst, wie auch alles andere im Heim vom Reichsarbeitsdienst stammte. Gundulas Kakao schmeckte uns und das Essen ebenso. Ich war zufrieden.

Nachdem wir abgeräumt hatten – es wurde auch gleich ein Tischdienst für jeden Tisch bis zur nächsten Woche eingeteilt –, erklärte uns der Heimleiter wie der weitere Ablauf unseres Wohnens im Heim vonstatten gehen sollte. Um 21.00 Uhr war Zapfenstreich. Jeder hat dann im Bett zu liegen. Der Stubenälteste hat dem „Führer vom Dienst“ bei dessen Erscheinen in der Stube eine Meldung zu machen, in der besondere Probleme wie Krankheiten oder das Fehlen einer Person, auch Schäden in der Stube, in die Meldung einzubeziehen waren. Die Meldung habe in Ausführung des „Deutschen Grußes“ zu erfolgen. Am Morgen würde gegen 4.30 Uhr geweckt. Daran anschließend erfolge in Turnhemd und Turnhose Frühsport. Nach dem Frühsport sei Waschen, Bettenbau und Stubendienst dran. Gegen 5.30 Uhr sei Frühstück, wozu jeder seine Brotbüchse für drei Doppelstullen mitbringen und füllen müsse. Fragen würden die Stubenältesten sicher beantworten können. Der Heimleiter wünschte uns eine gute Nacht und entließ uns auf die Stuben.

Kurz vor 21.00 Uhr ging Robert Kleingünter als Stubenältester an seinen Spind und holte ein Horn heraus, mit dem er zum Zapfenstreich blasen wollte. Wir betrachteten der Reihe nach das Horn und dann ging Robert los. Kurz darauf hörten wir ihn blasen. Er blies die Melodie vier mal hintereinander. In jede Himmelsrichtung ein mal. Bald darauf kam Robert wieder und scheuchte uns ins Bett. Für viele von uns war das neu, so hoch in einem Bett zu liegen und man fragte sich, ob man da nicht heraus und herunterfallen könne. Oben schliefen auf unserer Stube Hans Syndermann und ich. Unter mir lag Hüsing und unter Syndermann lag Franke. Die beiden voll belegten Betten standen an der Fensterwand, von wo man durch die Fenster noch besser als im Speisesaal ins Tal oder nach Suhl schauen konnte. Nun aber nicht mehr, denn die Fensterläden waren zugeklappt, weil verdunkelt werden musste. Das war der Schutz vor feindlichen Flugzeugen, die in der Nacht kommen könnten.

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