Читать книгу Ein Heiliger kann jeder werden - Hubert Gaisbauer - Страница 11
Seminarist und Kleriker
ОглавлениеUm der Quälerei im Konvikt von Celana ein Ende zu bereiten und vielleicht auch, um einem Verweis von der Schule wegen schlechter Lernerfolge zuvorzukommen, entschied die tatkräftige Mutter, ihren Buben von der Schule zu nehmen. Der Vater schöpfte wieder Hoffnung auf die Arbeitskraft in der Landwirtschaft und Angelo schlich mit hängendem Kopf zur Feldarbeit. Aber wann immer er konnte, verzog er sich mit einem Buch in einen Winkel, wo ihn niemand sah. Hätten Don Rebuzzini – und mit ihm Mutter Marianna – damals aufgegeben, Kirche und Welt hätten nie einen Johannes XXIII. und vermutlich auch kein II. Vatikanisches Konzil bekommen. Aber der Pfarrer und mit ihm die Mutter glaubten an Angelos priesterliche Berufung und trieben in der Person des Bergamasker Domherrn Morlani einen Wohltäter auf, der sich bereit erklärte, die notwendigen Mittel dafür bereitzustellen, dass Angelo das Kleine Seminar in Bergamo beziehen konnte. Die Grafen Morlani waren die Besitzer der von den Roncallis gepachteten Liegenschaften. Am 3. November 1892 trat also der elfjährige Angelo Roncalli ins Kleine Seminar von Bergamo ein. Tags darauf besuchte er mit Freunden das Grab von Don Palazzolo, der ihm seit jener Predigt Don Rebuzzinis vor fünf Jahren als Priester und als »Heiliger« im Gedächtnis geblieben ist, um davor zu beten.
Eintragung der Taufe in den Kirchenmatriken von Sotto il Monte
Ein Jahr später übersiedelten die Eltern Roncalli mit Großonkel Zaverio und dessen Bruder, dem Großvater Angelos, und anderen Verwandten in die angrenzende Colombera, ein Gut mit ca. 4 ha Land, das ebenfalls den Grafen Morlani gehörte.1 Angelo kam jetzt nur mehr in den Ferien nach Hause, der Fußmarsch von Bergamo nach Sotto il Monte nahm immerhin gut drei Stunden in Anspruch. Doch was alles hat er nicht schon als Kind auf sich genommen um der Erfüllung seines und vielleicht auch der Mutter sehnlichsten Wunsches willen, nämlich Priester zu werden: die Ohrfeigen von Don Bolis, Entbehrungen und Ungerechtigkeiten vieler Art, Mobbing und Spott von Schulkameraden.
In der geordneten Atmosphäre des Knabenseminars fiel es ihm dann allerdings leicht zu zeigen, was in ihm steckte: ein ausgezeichneter Schüler, der gerne lernte und leicht auffasste. Im Jahr 1895, mit vierzehn Jahren, war er seinem Ziel auch äußerlich sichtbar einen Schritt näher gekommen: Angelo trat vom Konvikt des Kleinen Seminars ins Große Seminar von Bergamo über. Er erhielt – man stelle sich vor: mit vierzehn und wahrscheinlich noch vor dem Stimmbruch – als verbindliche Kleidung Talar, breitkrempigen Klerikerhut und die sogenannte Erste Tonsur, bei der ihm ein Büschel aus dem Kopfhaar geschnitten wurde, als Zeichen des Eintritts in den geistlichen Stand. Wenn er in den Ferien nach Hause kam, begegnete man ihm im Dorf und in der Familie plötzlich mit einer merkwürdigen Hochachtung. Er bekam eine kleine Kammer zugewiesen, damit er auch in den Ferien »ungestört studieren« konnte. Er saß mit allen am langen Mittagstisch und aß die tägliche Polenta mit Kohlsuppe oder Bohnen; nur manchmal habe ihm die Mutter »etwas Besseres« zugesteckt, berichtete später einmal einer seiner Brüder. Hier, am heimatlichen Familientisch kam es immer wieder zu kleinen Unstimmigkeiten, da Angelo erst lernen musste, seinen Hang zur Besserwisserei zu erkennen und dann konsequent zu bekämpfen. Mit Beginn seines Lebens als Kleriker führt er auch ein Tagebuch, um seine geistliche Selbsterziehung, seine Frömmigkeitsübungen, seine Erfolge und Misserfolge festhalten zu können.