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Der Horizont weitet sich

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Wenn man den künftigen Weg des jungen Roncalli in den Blick nimmt, darf man nicht ohne Erstaunen feststellen, dass er in dieser geistig doch recht engen Atmosphäre des Seminars von Bergamo keinen Schaden genommen hat. Trotz eines Korsetts von Regeln, trotz zahlloser frommer Pflichtübungen verkümmerte in ihm nicht das freie Atmen des Geistes. Es entstand vielmehr ein tragfähiges Gerüst der Treue und des Vertrauens, das von Angelo nie als Erwerb oder Verdienst nach erbrachter Opfer oder anderer Leistungen angesehen wurde. Vielmehr erkannte er darin die liebende Zuwendung eines väterlichen und – wie er es oft ausdrückt – mütterlichen Gottes. Dieses Bewusstsein ließ den Weg ins Freie einer reifen Geistigkeit offen, jenseits aller Enge statischer, ja statistischer Frömmigkeit.

Mit sicherem Gespür wusste Angelo aber auch, was für sein äußeres Fortkommen gut und wichtig war. So flüchtete er im September 1899 – wieder einmal – aus einer anderen, nämlich der familiären Enge am Hof seiner Sippe. Er wanderte eine Stunde lang in das benachbarte Dorf Ghaie di Bonate Sopra, um den Pfarrer Don Locatelli zu besuchen, bei dem Angelo nach dem Tod von Rebuzzini öfter während der Ferien sein Herz ausschüttete. Doch diesmal war dafür keine Zeit, denn Don Locatelli erwartete noch einen anderen Gast, den geistlichen Grafen und Domherren von St. Peter in Rom, Monsignore Giacomo Radini Tedeschi. Der war ein Jahrgangskollege von Pfarrer Locatelli, und man sagte ihm eine große Karriere an der römischen Kurie voraus. Angelo war fasziniert von der impulsiven Geistigkeit und der weltgewandten Erscheinung des Prälaten, hätte sich aber nicht träumen lassen, dass er in wenigen Jahren dessen Sekretär sein werde, der »Schatten« des zukünftigen Bischofs und »Löwen von Bergamo«. Jedenfalls war Angelo überglücklich jetzt ein Mitglied der Kurie persönlich zu kennen, hinge doch bei einer »kirchlichen Laufbahn sehr viel von guten Beziehungen und ›zufälligen‹ Begegnungen« ab, wie der Biograph Hebblethwaite etwas boshaft anmerkt. Welchen Eindruck der bäuerliche, aber keinesfalls auf den Mund gefallene Angelo auf Monsignore Radini Tedeschi damals machte, ist nicht überliefert. Es dürfte aber nicht der schlechteste gewesen sein. Vermutlich war diese Begegnung sogar eine Initialzündung der Vorsehung für die wichtigste Periode im Leben des jungen Roncalli.


Don Angelo mit Klerikern im „Apollinare“ in Rom, 1905

Die erste Eintragung Angelos im Heiligen Jahr 1900, geschrieben während der Februar-Exerzitien, beginnt höchst pathetisch mit den drei Grundfragen der Philosophie: »Wer bin ich? Woher komme ich? Wohin gehe ich?« Seine ebenso pathetische Antwort: »Ich bin ein Nichts.« Aber dann folgt eine viele Seiten lange Betrachtung über den Sinn seines Lebens als beseeltes Geschöpf Gottes, alle möglichen Höhen und Tiefen der Gottesbeziehung durchmessend: »Wenn ich meinen Stolz, meinen Hochmut, meine Eigenliebe nicht bekämpfe, so erwartet mich die ewige Verdammnis! Habe ich nicht schon vielmals die Hölle verdient? […] In Betrübnis und Mutlosigkeit ist dies mein Trost: der Hoffnung das Herz weit öffnen, und dann zum Himmel aufschauen. […] O Himmel, Himmel, du bist schön, und du bist für mich!« Immer wieder wird die Betrachtung unterbrochen von einem Gebet, das passagenweise an die Schönheit der »Bekenntnisse« des heiligen Augustinus erinnert: »Du, mein Gott, der du am Anfang und vor allen Zeiten warst, hast mich aus dem Nichts emporgehoben, mir Natur, Leben, Seele, alle körperlichen und geistigen Fähigkeiten geschenkt; du hast meine Augen diesem Licht geöffnet, das um mich her seinen Glanz verbreitet; du hast mich erschaffen. Darum bist du mein Herr, und ich bin dein Geschöpf. Nichts bin ich ohne dich, und durch dich bin ich alles, was ich bin. Wenn du mich nicht jeden Augenblick trägst, sinke ich ins Nichts zurück, aus dem ich gekommen bin. […] Ich besitze eine Seele! Ich bin kein Stein, keine Pflanze, auch nicht irgendein Tier; ich bin ein Mensch, ein Mensch, dank der Seele, die mich belebt. Dank der Seele leuchtet ein Strahl des göttlichen Antlitzes über mir, durch das Gedächtnis bin ich dem Vater ähnlich, durch den Verstand dem Sohn, durch den Willen dem Heiligen Geist. […] O mein Gott, möge, wer will, deine anderen göttlichen Eigenschaften verherrlichen, ich werde niemals aufhören, deine Barmherzigkeit zu besingen!«

In dieser Zeit werden Angelo von der neuen Seminarleitung einige Ämter anvertraut. Er hatte sich um die Pflege des Gregorianischen Gesanges zu kümmern. Außerdem wurde er zum Präfekten bestellt, hatte also eine gewisse Verantwortung für jüngere Seminaristen.

Ein Heiliger kann jeder werden

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