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»Angelo, du liebst mich nicht mehr!«

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Viele Erwartungen, die Marianna an ihren geistlichen Sohn hatte, waren ihr ohne Zweifel von der familiären, vor allem aber von der nachbarlichen Tratsch- und Klatschgesellschaft ins Ohr gesetzt. Neugier und Neid nährten auftretende Verstimmungen zwischen der Mutter und dem geistlichen Sohn, dazu Verleumdungen, etwa durch einen benachbarten Pater, die sogar bis zur Leitung des Seminars drangen und behaupteten, die Mutter zöge Angelo den anderen Geschwistern vor und er käme sich überhaupt als etwas Besseres vor.

Im Jänner 1905, Angelo war kaum ein halbes Jahr Priester, kam es zu einem Höhepunkt der Mutter-Sohn-Krise. Da machte sich Marianna einmal Luft und kritzelte »auf einen Zettel« alles, was sie gekränkt hatte: Angelo habe ihr kein Geld geschickt, der Vater halte ihr gegenüber Angelos Briefe zurück, Angelo habe zwar dem Gemeindepfarrer sein Porträt als Neupriester geschenkt, ihr aber nicht. Und überhaupt: »Du liebst mich nicht mehr, Angelo!«

Don Angelo antwortet »umgehend auf Euren Zettel, den ich mit dem Brief des Vaters und des Bruders Severo erhalten habe. Es tut mir überaus leid, dass Ihr an meiner Liebe und an meinem Andenken, das ich für Euch bewahre, habt zweifeln können. Wer ist – nach Gott, nach den himmlischen Dingen – für mich der liebste Mensch, wenn nicht Ihr? Auch wenn ich verheiratet wäre, würdet Ihr für mich immer die großartigste Frau der Welt sein, das teuerste für mein Sohnesherz. Nein, um Gottes willen, zweifelt nicht an meiner Liebe und an dem innigsten Andenken, das ich stets für Euch bewahre!« Und weiter im Rechtfertigungsbrief von Don Angelo: »Wenn ich jeden Morgen beim Sanctus der Messe die liebsten Menschen dem Herrn empfehle, seid Ihr immer die erste, die mir in den Sinn kommt, zusammen mit dem Vater. Ich denke immer an Eure Arbeit, an Eure Mühen und begleite Euch mit dem Herzen. Ich möchte alles tun, um Euch zufrieden und glücklich zu sehen.« Zum Abschluss kann es sich der junge Herr Hochwürden nicht verkneifen, noch eine Moralpredigt anzuhängen: »Ich empfehle Euch, viel zu beten und der Familie ein Beispiel an Sanftmut und Geduld zu geben. Gewöhnt Euch nach und nach an, nie die Geduld zu verlieren. Euer Schweigen, Euer Sich-Abfinden mit allem wird dazu dienen, allem Murren zu begegnen. Wir alle haben unsere Fehler und müssen uns gegenseitig ertragen. Glaubt nicht denen außerhalb des Hauses, hört nicht auf sie und schenkt ihnen kein Vertrauen!«

Als Don Angelo 1921 zum Päpstlichen Hausprälaten – Monsignore! – erhoben wurde, redeten die Nachbarinnen Frau Marianna an, was denn das sei, dass ihr Sohn jetzt auf einmal so viel Violett an seinem Talar hätte. Sie konnte es entweder wirklich nicht genau sagen oder antwortete recht diplomatisch: »Das sind so Sachen, die sich die Geistlichen unter sich ausmachen!«

Eine Sorge der Mutter war die Zukunft der beiden Töchter Ancilla und Maria. Der Vater sorgte sich natürlich genauso um die materielle Zukunft der Kinder wie Marianna, aber er blieb in der Familienkonstellation – wie der heilige Joseph in der Bibel – immer eher im schweigsamen Dunkel. Da sich für keine der beiden Schwestern der Ehestand ergeben hatte und der geistliche Bruder sich anfangs 1921 in Rom – als Präsident der Missionswerke und als Theologieprofessor – häuslich niederzulassen gedachte, nahm er die beiden Schwestern zu sich. Doch die Idylle währte nicht lange, denn bereits 1925 wurde Roncalli, inzwischen Erzbischof, nach Bulgarien abkommandiert. Für die Schwestern fühlte er sich aber weiterhin verantwortlich, also mietete er für seine Heimaturlaube und für die beiden Schwestern in Sotto il Monte das Haus Camaitino. Im väterlichen Anwesen Colombera walteten drei Schwägerinnen und die Mutter – sechs Frauen auf engem Raum! Das, so fand der Erzbischof, war zu viel. Aus dem fernen Sofia schickt er nun immer wieder Anweisungen, wie dieses oder jenes am Haus Camaitino repariert und verbessert werden solle, auch wenn es nur gemietet war, und er überwies auch das nötige Geld dazu. Bereits zu Weihnachten 1926 wollte er alle Geistlichen des Dekanats zum Panettone-Essen einladen, »ich werde einen von Mailand eigens mitbringen«. Roncalli war gerne Gastgeber. Immer, wenn er im Spätsommer für einige Wochen nach Sotto il Monte kommen wollte, kündigte er dies oft schon im Winter an, allerdings mit einem recht irdischen Hintergedanken, den er in den speziellen Gruß an Mamma Marianna verpackte, »der ich empfehlen möchte, die Bruthenne für die Küken anzusetzen, damit es in den Ferien schöne Hähnchen gibt.« Meist wurden dazu alle geistlichen Herren im Umkreis eingeladen. Und ein anderes Mal schrieb er: »Sagt der Mutter, dass ich mich schon auf die Hähnchen freue, die sie mir zubereiten wird.« Marianna kochte ja nicht nur die beste Polenta das Jahr über, sondern auch – bei besonderen Anlässen – die schmackhaftesten Brathähnchen.


Die Brüder Saverio, Giuseppe und Alfredo Roncalli, vor 1958

Besondere Ergebenheitsadressen an die Mutter gab es natürlich jeweils zum Namenstag, den Marianna am Festtag der heiligen Anna, also am 26. Juli, feierte. Als am 28. Juli 1935 der Vater starb, tröstete Roncalli die Mutter: »Seht, Eure Kinder sind um Euch, um Euch zu trösten, um Euch beizustehen. Macht Euch nicht zu viel Sorgen um sie! Ruht Euch ein wenig aus! Mein Haus in Camaitino steht Euch ganz zur Verfügung. Geht dorthin mit den Schwestern. Lasst Euch dort von den anderen besuchen! Ihr wisst, dass Euer bischöflicher Sohn nicht reich ist. Doch wird er eher sein Kreuz verkaufen, als dass er es Euch an etwas fehlen ließe in Euren Wünschen oder Bedürfnissen. […] Euer Battista hat Euch mit einundachtzig verlassen. Ihr werdet daran denken, uns zu verlassen, wenn Ihr über neunzig seid. Und ihr werdet die Freude und die Liebe von uns allen sein.«

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