Читать книгу Ein Heiliger kann jeder werden - Hubert Gaisbauer - Страница 16

Ein Bericht des Wachsens

Оглавление

Viele Jahrzehnte später, in einer Predigt an seinem achtzigsten Geburtstag, blickt der Papst dankbar zurück auf diese »Jahre der Unschuld« im Seminar und verweist damit auch all die skrupelhaften frühen Selbstbezichtigungen in den Rang der Nichtigkeit. Vieles davon darf man wohl als Imitation jener geistlichen Sprachattitüde ansehen, die sich sogar ein wenig gefiel in ihrem Hang zur Selbsterniedrigung. Doch im Laufe der Jahre tauchen Begriffe wie Strafe, Gericht, Buße in den Schriften immer seltener auf, das Wort Hölle kommt später so gut wie überhaupt nicht mehr vor. Zu Recht nennt der Roncalli-Biograph Peter Hebblethwaite das Geistliche Tagebuch einen »Bericht des Wachsens«. So rücken an die Stelle von Pflicht und Leistung, Strenge und Disziplin zusehends Vertrauen und Ergebung, Barmherzigkeit und Güte, Geduld und Liebe. »Gott weiß ja«, schreibt er im dritten Seminarjahr, »dass ich ihn auch in meiner Armseligkeit liebe. Er möge mich segnen und nicht verstoßen. ›Herr, du weißt, dass ich dich liebe.‹« Dieses Wort des Petrus aus dem Johannesevangelium (Joh 21,17) wird sich auch später in den Aufzeichnungen des Papstes immer wieder finden.

Einmal bekennt er geradeheraus, er wolle seinem Namen Ehre machen und »wirklich wie ein Engel werden«. Vorbilder waren ihm dafür die drei »engelgleichen« Jesuitenjünglinge Aloisius von Gonzaga, Stanislaus Kostka und Johannes Berchmans. Sie werden bei allen möglichen Gelegenheiten angerufen und zu ihrer größeren Ehre werden die alltäglichen Demütigungen ertragen. Angelo rief den heiligen Aloisius öfter auch an »als Zeugen von Versprechen« wie etwa den Hochmut zu bändigen oder »die Zeremonien besser zu studieren«. Inzwischen ist er ja bereits zum Ostiarier (früher ein Dienst als Türhüter oder Glöckner) und zum Lektor geweiht worden. Die Heiligen, denen sich die Seminaristen gerne anvertrauten, waren in der Darstellung des 19. Jahrhunderts süßliche, blutarme Gipsfiguren, die als Vorbilder hingestellt waren. Im geistlichen Reifungsprozess des Angelo Roncalli sollte es aber noch einige Zeit dauern, bis er den Mut fand, den Gips der leeren Konvention zu zerschlagen und die wahre Substanz dessen zu entdecken, was diese Heiligen wirklich ausmacht.

Das Leben verlief in dem gewohnten und ruhigen Fahrwasser der Einübung in das angestrebte Ideal klerikalen Lebens. Er wusste, dass »Treue zu dem erkannten Willen Gottes den Kern des Evangeliums« traf. Das glückte Angelo im Seminar bedeutend besser als zuhause in Sotto il Monte. Immer wieder klagt er über Unstimmigkeiten in der Familie während der Ferien.

Am Samstag, dem 24. September 1898 hat sich Angelo in Sorge um seinen offensichtlich schwer erkrankten siebenjährigen Bruder Giovanni der verzweifelten Familie gegenüber »recht unmanierlich benommen«, dabei wollte er eigentlich nur sein »Bestes tun«. Am Abend besuchte er noch Pfarrer Rebuzzini, vermutlich, um sein Versagen mit ihm zu besprechen, vielleicht auch um zu beichten. Zuhause, in seiner Studierkammer vertraute er sich dem Tagebuch an und seufzt: »Selig, tausendmal selig, sind die Ordensleute, die fern von den Sorgen der Welt nur in Gott leben. Ich beneide euch so sehr!« Das Gespräch mit Don Rebuzzini schien ihn aber doch beruhigt zu haben, denn er beschließt den Tag mit den Worten: »Wenn ich so bedrückt bin, scheint es mir, als könnte ich mit größerem Vertrauen in die Arme Gottes sinken, und ich bin glücklich dabei.«

Am Sonntagmorgen darauf, als er in der Kirche Santa Maria Assunta alles für den Gottesdienst vorbereiten wollte, fand er Don Rebuzzini tot auf den Stufen zum Altar. Ein unglücklicher Sturz infolge eines Schwächeanfalls. »Er starb, als er dabei war, sich selber, seine Krankheit zu bezwingen, nur um die heilige Messe feiern zu können«, schreibt Angelo am Abend ins Tagebuch. »Gestern hat er mir noch Arrivederci gesagt. […] Mögen die Gebete, die der gute Pfarrer für mich, seinen Benjamin, immer aufgeopfert hat, mich zu seinem getreuen Nachfolger werden lassen, damit das Arrivederci von gestern Abend in Erfüllung gehe.« Dass der Tod von Don Rebuzzini für den siebzehnjährigen Angelo eine entscheidende Markierung auf dem Lebensweg bedeutet hat, beweist auch, dass sich im Original des Tagebuchs eine handschriftliche Ergänzung des Papstes aus dem Jahr 1962 findet, die er einfügte, als sein Sekretär mit ihm über eine mögliche Veröffentlichung des Geistlichen Tagebuchs sprach: »Geistliche Notizen bei der Monatseinkehr / nach dem Tode von Pfarrer Rebuzzini / das heilige Zeichen meiner Kindheit / und meiner Berufung.«

Ende 1898 starb noch eine wichtige Bezugsperson, Luigi Isacchi, der Spiritual des Seminars von Bergamo. Er hatte den geistlichen Weg Angelos mit viel Wohlwollen begleitet, hatte ihn bestärkt über Fortschritte oder Rückschläge sein Tagebuch zu führen und war ihm ein vertrauter Seelenbegleiter. Der neue Spiritual, Don Quirino Spampatti, hielt nicht viel von der Gewohnheit Angelos, seine »kleinen Angelegenheiten zu Papier zu bringen.« Vielleicht war er auch den ständigen Selbstanklagen gegenüber etwas skeptisch eingestellt. Nach einer zweimonatigen Abstinenz, wahrscheinlich aus Gehorsam, drängte es Angelo doch wieder zu regelmäßigen Eintragungen. Der 19. März, das Fest des heiligen Josef, schien ihm das geeignete Datum dafür. Offenbar hatte er sich mit dem neuen Spiritual bereits arrangiert, denn plötzlich stellt er sich unwissend, »ob ich selber oder jemand anderer« an dieser Schreibpause »schuld war«.

Ein Heiliger kann jeder werden

Подняться наверх