Читать книгу Zur Kritik der deutschen Intelligenz - Hugo Ball - Страница 13
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ОглавлениеWir, die wir dieses System bekämpfen, sind gezwungen, seine Heroen zu revidieren. Mit nationalen Vorurteilen muss aufgeräumt werden wie mit individuellen. Es geht nicht an, dass noch heutzutage ein Sozialist von der Bedeutung Camille Huysmans von Deutschland als der „généreuse Allemagne de Luther“ spricht18. Luthers Deutschland war nichts weniger als generös. August Bebel hat in seinem „Bauernkrieg“ ein Bild des damaligen Deutschlands entworfen; das Werk kann nicht nachdrücklich genug empfohlen werden19. 1517 wurden durch die Tat eines politisch und geistig gleich unvollendeten Mönchs Europa und die christliche Kultureinheit zerrissen, und dieser Luther gilt heute der großdeutschen Feudalpolitik als erster europäischer Exponent ihres „divide et impera“20. Heute, vier Jahrhunderte später, hieße es Europa nur dürftig zusammenflicken, wollte man den Glauben an die offiziellen Heroen und Propheten bestehen lassen.
Der Ideenstreit um eine neue Menschheit ist entbrannt, und in der Lösung der Menschheitsfrage wird auch die politische beschlossen liegen.
Die mittelalterlichen Probleme sind noch heute nicht ausgetragen. Noch fehlt Europa eine neue Hierarchie, eine Hierarchie von Geistern, fähig und stark genug, jene mittelalterliche geistliche Hierarchie zu ersetzen; eine Rangleiter der Leistungen und Vermögen, sowohl zwischen den Völkern wie zwischen den Individuen; eine unsichtbar abgestufte geistige und moralische Gesellschaft, fähig, wieder die Oberhand zu erlangen über den Satanismus der in rudimentären Einrichtungen und Formeln vereinigten Profanität, die heute ihre entsetzliche Todesorgie feiert. Dann erst wird das Mittelalter überwunden sein.
Uns Deutsche führt die Beteiligung an dieser Aufgabe, der eine Elite hervorragender Männer des letzten Jahrhunderts gedient hat, tief bis ins Mittelalter und in die Zeit Luthers zurück. Die Revision unserer intellektuellen Geschichte soll uns neue Impulse geben, und manches wird fallen müssen, an das wir glaubten und glauben gemacht wurden.
Ein neues Gut und Böse. Neue Gewissenskämpfe. Göttlich und teuflisch nicht mehr klerikales Symbol, doch deshalb beileibe nicht Hohn und Verachtung. Die Aufgabe aber dieser Hierarchie aller gutgesinnten Geister und Werke soll sein: eine Syntax der neuen Gottes- und Menschenrechte. Keine civitas dei ohne eine civitas hominum! Die neue Gemeinschaft soll dienen der Verbreitung eines Reichs aller Menschen, die eines guten Willens sind.
Wenn das Wort von der deutschen Universalität wahr ist, so mögen die Deutschen herauskommen aus ihrem politischen Getto, um zu zeigen, was sie zu sagen haben. Nicht aber mit der Trägheit prügelnder Waffen, sondern mit der Energie klarer Gedanken. Nicht auf das Verantwortungsgefühl gegenüber der Menschheit kommt es an, wie Prinz Max von Baden zu glauben scheint21, sondern auf die Verantwortung mit und inmitten der Menschheit. Der Übermensch muss dem Mitmenschen weichen. Nicht Leiden schaffen, sondern Leiden beheben. Nur so besteht die Hoffnung, dass das automatisch eingetretene Schicksal einer automatisch gewordenen Welt der Selbstbestimmung des Einzelnen und damit der Freiheit weicht.