Читать книгу Zur Kritik der deutschen Intelligenz - Hugo Ball - Страница 16
5
ОглавлениеDie eigentliche Tat Luthers war eine mönchische Bußlehrenrevolte. Nietzsche hat ihn den „unmöglichen Mönch“ genannt. Luthers jähes und heißblütiges Naturell geriet im Verzweiflungskampf gegen die fleischlichen und geistigen Anfechtungen des Teufels auf den Ausweg, die Notwendigkeit einer unerfüllbaren Klosterdisziplin prinzipiell in Zweifel zu ziehen. Vergebliches Wüten gegen sein Temperament und die Ordensregel brachten ihn dazu, die Mönchskutte abzuwerfen und auf die Heilaussichten einer vollendeten Kasteiung zu verzichten. Er brach das Ordensgelübde und vertrat von nun an die Anschauung, man brauche nicht Mönch oder Nonne zu sein, um selig zu werden. Die Zelle war ein Gefängnis für ihn, die Bußlehre eine Tortur.
Als er aus der Kutte sprang, unternahm er mit Ungestüm den Versuch, eine Rechtfertigung seiner Handlungsweise zu finden und fand sie, wie er glaubte, im Glauben, dass der Glaube rechtfertige. Die Bibel allein ist Gottes Gebot. Vom Mönchswesen enthielt sie kein Wort. Christus am Kreuz starb für die Sünden der Welt und jedes Einzelnen. Das Eingeständnis der Sünde genügt. Es erwirkt dem Menschen die Gnade. Wer seine Sünden bekennt, kann und wird erlöst werden, gleichviel ob Laie oder Adept. Christi Kreuzestod und unendliches Opfer enthält die Versöhnung des von der Menschheit beleidigten Gottes.
Luthers Rechtfertigungslehre hatte für ihn den privaten Sinn einer Rechtfertigung seiner Handlungsweise, als er sein Mönchsgelübde brach. In diesem Versuch, sich zu rechtfertigen, lag aber zugleich eine Rache an der Institution, der er entfloh, weil er ihr nicht gewachsen war.
„Man braucht nicht Mönch oder Nonne zu sein, um selig zu werden.“ Das brauchte man gewiss nicht, sonst hätte der Laie ja nicht selig werden können. Aber das Klosterwesen und Zuchtideal, das Luther damit der Missachtung preisgab, hatte nicht nur den Sinn, Schauplatz von Bußübungen zu sein zur Erlangung der Seligkeit, grenzenloser Demut und göttlicher Vergebung. Die Mönchsorden enthielten die Geheimlehren des Christentums. Die geistlichen Übungen der Mönche zielten ab auf ein Freimachen aller geistigen und wundertätigen Kräfte der menschlichen Natur. Großsiegelbewahrer der Mysterien von der Selbstaufopferung, von der unio mystica mit der Gottheit, von der sinnlichen und moralischen Ideologie des Abendlandes waren die Mönche. Die körperliche Disziplin war nicht nur Vorbereitung für den Zustand der Gnade und Erlösung, sondern Vorstufe einer Disziplin des Geistes, einer ars magna der seelischen Sensationen, die den Triumph des inneren Lebens über die Körperfesseln und allen Zwang der Kausalität bezweckte. Das Vorbild Christi machte die Mönche zu Begründern einer hohen Schule in spiritualibus, deren eminente Bedeutsamkeit noch für uns Heutige nicht erloschen ist.
René Schickele hat in einem eindringlichen Essay „Lehrmeister wider Willen: Loyola“36 die Bezüge nachgewiesen, die die spanische Mönchsdisziplin noch mit der heutigen Intelligenz verbinden. Das heroische Demutsideal eines heiligen Franziskus, eines heiligen Dominikus, das langsam in Qualen und Demütigungen zur eigenen Gottesnähe und damit zur Überwindung des doktrinären Katholizismus führte – wie sehr unterschied es sich von der platten und materiellen Weltfreudigkeit Luthers! „Für uns bleiben“, schreibt Schickele, „ihre Werke Dokumente der eigenen Disziplin, Beispiele, wie man schmiegsam, empfindlich und doch gefasst wird, und auch dann, wenn ihr Egoismus in die Gewalttätigkeit einer moralischen Mission ausläuft, sehen wir nur ihren eigenen inneren Kampf. Unser Gefühl verwandelt die Glaubenskämpfe in Kämpfe um die äußere Freiheit des Menschen, und die religiöse Meditation wird, während wir uns einer Disziplin unterwerfen, zur Kultur der inneren ewigen Schönheit.“
Die spirituelle und spekulative Macht des Papsttums war nicht damit überwunden, dass ein hartmäuliger deutscher Augustinermönch den Papst „des Teufels Saw“ nannte. Die Hierarchie als Kategorie der Geister war damit nicht aufgehoben. Was wusste ein diabolischer Mönch von den göttlichen Abenteuern des Lebens, jenem passiven Fanatismus, auf den die strenge katholische Mystik hinauslief! Was von der in glühender Askese erlangten Souveränität einer heiligen Therese oder eines Ortiz, der seiner Freundin Hernandez gottverschwärmt zu sagen wagen durfte, sie sei zu einer solchen Vollkommenheit gelangt, dass sie eine minderwertige Angelegenheit wie die Keuschheit sei, nicht mehr zu beachten brauche! Die Gottbesessenheit solchen Mittelalters hatte das System des offiziellen Katholizismus ebenfalls durchbrochen, wenn auch auf eine Weise, die dem treuherzigen Bruder Martin zeitlebens fremd blieb. In unendlichen Seelenkämpfen erfuhren jene Asketen die Auflösung der Religion in ihre Urelemente, in Tränen und Trauer, erfuhren sie die Sinnlosigkeit des Daseins, den irren Schrei menschlicher Qual und Vernichtung. In Franz von Assisi, dem reinsten Geiste des Abendlandes, erwuchs aller Spiritualität und wiedergewonnenen Lebensinbrunst ein göttliches Zeichen.
Luthers Protest war der Protest des „gesunden Menschenverstandes“, dieses ach so zweifelhaften philosophischen Arguments. Eine Intelligenzfeindlichkeit prägt sich aus in seinem Verrat der mönchischen Sache. Ich kenne die Regeln des damaligen Augustinerordens nicht; aber der Kirchenvater, auf dessen Namen der Orden getauft ist, war der Herrischsten einer im Dienste der Kirche. Er war kein Befürworter der Gnade. Er hat das System intolerantester Orthodoxie begründet. Die Spitzfindigkeit der persischen Metaphysik, die schwindelnden Fragen nach dem Ursprung des Bösen und dem Wesen der Seele, die er vergebens zu ergründen suchte, gaben ihm, nach Lecky, „einen Sinn für das Dunkel, das uns umgibt, das jeden Teil seiner Lehre färbte“. Als Feind des Zweifels schrak er vor keiner noch so erbitterten Folgerung zurück; „er schien sich zu freuen, die menschlichen Triebe in den Staub zu treten und die Menschen zur unterwürfigen Annahme der empörendsten Grundsätze zu gewöhnen“37. Etwas von diesem Geiste muss bei aller Entartung des damaligen Mönchswesens auch im deutschen Augustinerorden weitergelebt haben. Luther aber wich dem Wege strenger Observanz, auf dem die spanischen und italienischen Mönche zu unerhörter Geistigkeit gelangten, aus. Er warf beiseite, was er nicht durchdringen konnte. Er überwand die Kategorie nicht in sich selbst. Die Disziplin stieß ihn ab, weil er ihr nicht gewachsen war38.
Die Religion hausbackenen Bürgertums, die Religion der „tätigen Beflissenheit“, in der Luther mit profanem Ungestüm sich billigen Ersatz schuf, hatte zur Voraussetzung den Opportunismus; den Billigkeitsstandpunkt seinen natürlichen Bedürfnissen gegenüber. Seine zu Behäbigkeit und zu Genuss geneigte räsonable Einstellung konnte sich einen hämischen Rückblick auf unerreichbare spirituelle Ideale zeitlebens nicht verkneifen. Aber auch eine harmlose Bejahung der Sinne, wie sie der italienischen Renaissance geläufig war, und das gute Gewissen physischen und seelischen Wohlgefühls blieb ihm versagt. Daher das Misstrauen gegen Hutten, den Mann des offenen Paniers, und das Misstrauen gegen Erasmus, den ironischen aufgeklärten Humanisten. Daher jene intellektuelle Unsicherheit und die abergläubische Angst, mit der Luther sich an den Bibeltext als den Kompaß in allen Fährnissen und Problemen der Zeit anklammerte. Daher auch die pogromistische Voreingenommenheit gegen das Überhandnehmen des welschen Renaissancegeistes in Deutschland, trotzdem man ihm huldigte39.
Luther wurde der Prophet eines Bürgertums, das sich sein wohlbestalltes Schlaraffentum nicht verkümmern zu lassen gewillt war, und doch in geheuchelter Angst vor Gerichtstag und Abrechnung sich tiefe Verworfenheit und sündige Inferiorität suggerierte. Aller Pharisäismus des Protestanten und eine gewisse banausische Instinktverlogenheit zeigen auf den Mönch von Wittenberg zurück. Der Erfolg seiner zweifelhaften Lehre schuf jene unsichere Begehrlichkeit, deren politischer Ausdruck das heutige offizielle Deutschland ist, jene Unredlichkeit des Gewissens, die keine klaren Prinzipien schätzt; die ein beständiges Schwanken zwischen Moral und Appetit, zwischen Verboten und Erlaubt, zwischen Wahrheit und Heuchelei darstellt; eine Gesinnung, die Wilhelm Raabe vortrefflich, wenn auch mit mehr goldenem Humor, als sie verträgt, in seinem „Hungerpastor“ gekennzeichnet hat: „Mit dem Hunger nach der Unendlichkeit wird der Mensch geboren; er spürt ihn früh; aber wenn er in die Jahre des Verstandes kommt, erstickt er ihn meistens leicht und schnell. Es gibt so angenehme und nahrhafte Sachen auf der Erde, es gibt so vieles, was man gerne in den Mund oder in die Tasche schiebt.“