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Luthers Tat emanzipierte die Nation von der Bevormundung eines europäischen Dogmas. Aber er übergab damit die Nation ihrer eigenen Verantwortung zu einer Zeit, in der sie dazu, wenn historische Folgen Beweis sein können, noch nicht reif war. Der Eigensinn Luthers, die Bibel selbst auslegen zu wollen, missglückte erbärmlich. Seine Anmaßung, die europäischen Gewissenskämpfe für sein Volk selbständig zu entscheiden, unter Missachtung einer hochweisen Tradition und einer illustren Reihe von Kirchenvätern, Konzilien, Päpsten und Philosophen, führte zu einer Begünstigung der gemeinen Gewalt und einem Primat dieser Gewalt über die Idee; führte zu einer ärgeren Knechtschaft, zu einer schlimmeren und verderblicheren Tyrannei, als die der dogmatischen Kirche in ihren intolerantesten Zeiten gewesen war80. Luther nahm den Feudalherren die Fesseln ab, die Karl der Große den Sachsenfürsten glücklich auferlegt hatte. Aus der deutschen Reformation wurde ein Rückfall ins Heidentum. Und hier spreche die Meinung eines Franzosen81: „Ohne Zweifel gab es Missbräuche in der Kirche: die Simonie, den Ablassverkauf. Das gibt es aber in der Laienregierung auch: Panamaskandale, Ordensschacher. Ein tüchtiger Papst hätte genügt, diese bedauerlichen Inkorrektheiten abzuschaffen. Luther und Calvin, ein Mönch und ein Pfarrer, entsetzliche Menschen, haben mit ihrem Protest nicht gegen die Missbräuche, sondern gegen die Kirche selbst, die Reformation gebracht, und das bedeutet: die Jesuiten, eine Verschärfung des Dogmas und für lange Zeit eine katholische Intoleranz, die derjenigen der Reformierten nichts nachgab.“

Führte aber Calvin die Reform in den Staat, so spielte Luther der Despotie ein Volk in die Hände, das keineswegs aller Segnungen und Weihen, die die Kirche zu vergeben hatte, bereits teilhaftig geworden war82. Zu spät erriet das übrige Europa, was Luthers Stellungnahme im Kampf zwischen Papst und Kaiser bedeutete. Luther konservierte die Feudalität, indem er geistige Waffen an sie verriet, mit denen sie heute einen der zynischsten Kämpfe führt, die je eine Welt sah. Luther verhinderte ein großes reales Freiheitserlebnis von der Art der englischen und französischen Revolution und trägt so die Schuld, dass es in Deutschland noch heute nicht ein nach außen wirkendes politisches Gewissen gibt. Luthers eigentliche Schöpfung ist „der Gott der Ordnung, der die Obrigkeit eingesetzt hat“; ist die Heiligung des Staates durch die Christlichkeit der Knechtschaft. Damit verlieh er Regenten und Oberfeuerwerkern das gute Gewissen, machte er die Deutschen zum geflissentlich reaktionären Volk, zu Hütern der „sittlichen Weltordnung“ aus Gründen der Theokratie, zu Bekämpfern jeglicher Freiheitsregung aus Gründen eines verruchten, scheelsüchtigen „Gottesbefehls“. Res publica wurde Polizeistaat, Aufsichtsstaat, dessen Sendung es ist, vom Nordkap bis Bagdad, von Finnland bis Spanien unter Berufung auf Bibel, Jehova und Jesus zu strafen, zu richten und zu henken. Der moralische Liberalismus, den Luther schuf, wurde zur Farce der Freiheit und eine Ermutigung zum Genuss unter staatlichem Protektorat.

Doch der Staat um des Staates willen besteht nur aus Verderbnis, sei es Verderben oder Verdorbenheit seiner Bürger. Ein vergötterter Mönch hat seine Nation in finsterste Zeiten zurückgeworfen, hat das Streben aller Nationen um ihre Befreiung zur einzigen Demokratie verzögert und niedergerissen; hat den Grundstein einer Immoralität gelegt, die 1914 zur Kriegserklärung Englands und damit zum Weltkrieg führte83.

Man legt Luther zur Last, er habe durch einen neuen Ernst in Glaubensdingen die schöne Renaissance zerstört, die dekorative Renaissance verhindert. Aber Ideen lassen sich nicht zerstören, sie kehren zurück; das Wort Renaissance beweist es gerade. Luther hat Dinge verbrochen, die schlimmer sind. Er hat Gott verraten an die Gewalt. Er schuf eine Religion für den Heeresgebrauch. Er hat den Krieg ermutigt um des Krieges willen, aus „Gläubigkeit“. Eine Überlast individuellen „Gewissens“, das keine Ablenkung fand in den Staat, ließ die ganze Nation erkranken an Schwermut und Hypochondrie. Feierlich wurde sie, grillenhaft, launisch und missvergnügt. Jene „mit sich selbst unzufriedene Selbstzufriedenheit“, von der Bakunin spricht, Kritteln und Nörgeln und geistige Impotenz, wurden das Signum des Deutschen; eine linkische Ärmlichkeit, die ihn unmöglich machte. Goethe bemerkt noch bei Klopstock, dass große Menschen ohne würdigen und breiten Wirkungskreis sich in Seltsamkeiten entladen. „So aber“, fügt Nietzsche hinzu, „verzehrt sich unser ganzes Volk in Seltsamkeiten.“ Der rebellisch gebliebene Geist des übrigen Europa trat in Widerspruch zu den deutschen Institutionen, zu jenem feudalen Ethos des Heerwesens, der Vorrechts-Diplomatie, dem Gewissens-Militarismus.

Wie durch ein Wunder von Sinn erstand Luther ein Richter in seiner eigenen Zeit. Die Ehre der Nation kann gerettet werden, wenn sie sich heute entschließt, jenes Zeitalter umzutaufen auf den Namen der großen Revolution von 1525 und damit den Willen ausdrückt, die Superiorität des religiösen über den profanen Geist, das Recht der Zivil- über die Militärgewalt, des roten über das blaue Blut aufzustellen.

Zimmermann hat die Wirkung beschrieben, die Münzers Name allein auf Luther und auf das trefflich' Organon Lutheri, Melanchthon, ausübte: „Wo sie seinen Namen schreiben, ist ihnen, als ob er herein, als ob er vor sie treten könne, während sie von ihm schreiben. Auf fast allen Zeilen und Reden beider über Münzer liegt es unverkennbar wie eine Belastung, wie ein Alp, wie ein innerlicher Schauer, ob man's reden oder schreiben dürfe, ohne dass der an die Wand gemalte Geist erscheine.“ Etwas von diesem Schauer, von diesem Alp, scheint sich heute in Deutschland wieder zu regen. Die Geister erscheinen, die Toten erwachen. Die Idee meldet sich an wie Bancos Geist: Civitas pauperrimi et sanctissimi hominis. Werden die Bancos oder die Macbeths siegen?

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