Читать книгу Zur Kritik der deutschen Intelligenz - Hugo Ball - Страница 9
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ОглавлениеEine der wichtigsten Aufgaben der Intelligenz ist es, den Blick der Nation dorthin zu lenken, wo die großen Ideen herkommen; Raum zu schaffen für diese Ideen und dem Lauf der Geschichte mit tausend offenen Sinnen knapp auf den Fersen zu folgen. Die Geister, die Deutschland zu bilden versprachen, jene Musiker der Kriterien und Maßstäbe, die in Philosophien wie in Partituren zu lesen verstanden, sind nicht Legion. Sie fanden ihre Aufgabe erschwert. Sie fanden sich von Anfang an in einer Umgebung, die ihre Aufgabe nicht stützte, sondern ihr höhnisch und krass widersprach, ja sie unmöglich machte. Die Idee des Imperium Romanum, die das ganze Mittelalter erfüllte, Verbindung und Widerstreit zwischen Kaiser und Papst, ließ Deutschland als Vormacht der Welt erscheinen. Das Heilige Römische Reich Deutscher Nation und die Heraldik gotischer Kaiser prägten dem Volk ein Bewusstsein ein, das im Waffenklirren, im Richteramt, im Henken, Zerschmettern und in der Gewalt einen Gottesdienst und die Mission sah. Kein entscheidendes nationales Erlebnis hat diese Meinung hinweggefegt: weder die Reformation, noch die große Französische Revolution. Deutschland empfindet noch heute sich als den „Genius des Krieges“ und zugleich als „moralisches Herz“ der Welt4, und war doch und blieb so lange grobknochiger Henker, betrunkener Vasall, hartmäuliger Landsknecht der Päpste. Damals redeten Priester ihm ein, kleines Gehirn sei Soldatentugend. Jenes egozentrische Delirium voll Arroganz und Bramabarsierens, das in den Schriften der Treitschke und Chamberlain auferstand – in den Kaisern des Mittelalters fand es sein erstes Symbol.
Die Geister, die Deutschland zu bilden versprachen, kamen sehr spät. Italien, Spanien, Frankreich hatten längst eine reiche Kultur. Deutschland war ungebrochen ein krüdes Barbarenvolk, dem Trunke ergeben, verroht und verblödet durch Kreuzzüge und endlosen Waffendienst, versklavt und verhärtet durch Junker und Pfaffen. Shakespeares Komödien schildern den Deutschen als einen Rüpel und Trunkenbold. Léon Bloy zitiert für die historische deutsche Verrohung und Korruption sogar Luther5. Die große Bewegung der Aufklärung brach hier nicht durch. Die Vox humana der Nachbarländer fand nur den spärlichsten Nachklang. Heute noch fehlt uns das Menschheitsgewissen. Heute noch schwanken die Geister und schwankt die Nation im Widerspruch zwischen Kulturbegriffen. Religiöse, moralische, ästhetische und politische Nenner wurden zur Geltung gebracht, doch keinem gelang es, die Einheit zu schaffen und alle bekämpften sich. Noch in unseren Tagen versuchte das kaiserlich-päpstliche Universalreich neu aufzuerstehen, und nur die Kriegsschuld, zu der das Übergewicht einer gewalttätig-verschlagenen Kaste führte, verspricht, die gefährlichen Atavismen hinwegzuräumen. Die Einordnung Deutschlands in eine Liga der europäischen Völker ist eine unabweisbare Forderung. Mit stürmischem Nachdruck muss sie erhoben werden. Wozu die Nation selbst zu träge und ihre Geister nicht stark genug waren: die Isolation zu sprengen, in die sich Deutschland drohend und eigensinnig begab: heute müssen die Nachbarvölker erzwingen, dass der veraltete Unfug des Waffenspektakels für alle Zeiten beseitigt werde.
Die Einreihung Deutschlands! Hier zeigt sich endlich die Einheitsidee, die Heiligung, Größe und Demut verbürgt. Das deutsche Volk soll die Augen öffnen. Sein Vorteil wird sein, dass es mit Schmerzen, Unglück und Opfern geschlagen wird. So wird es die Kraft in sich finden, zu fallen und aufzuerstehen. Wir verlangen die Demokratie. Der politische Geist ist der ordnende Geist. Keine Phrasen und Umschweife sollen mehr gelten. Deutschland ist schuldig und muss seine Schuld bekennen, soll sich der Aufbau Europas vollziehen. Die Proklamation neuer Menschen- und Nationalitätenrechte beendet den Krieg. Nicht mehr um Metaphysik – es handelt sich um die Erde und wie man sie einrichten soll, um zusammen leben zu können. In den Köpfen der Staatsmänner, wenn sie auch nicht das letzte Wort haben werden, lebt schon der Grundriss, auf dem sich das neue Gebäude der Menschheit erheben soll. Was bisher Fragment war und nur in wenigen Köpfen utopischen Ausdruck fand, wird gebunden werden und sich organisch entfalten. Mit Tod, Bankerott und Verderben rückt für Deutschland das erste politische Freiheitserlebnis umfassenden Sinnes heran, seit die christliche Korporationsidee Europa verloren ging. Sind aber erst die Wände gefallen, die heute das deutsche Volk noch im Getto halten, hat die Nation erst in einem elementaren Ausbruch von Enthusiasmus die Ketten zerrissen, die heute noch ihre Menschlichkeit lähmen, so werden sich auch die Geister finden, die ihr den Weg zeigen zu jenen Großtaten der Menschheit, mit denen man heute in Deutschland prahlt, ohne zu wissen, worin sie bestehen. Dann wird sich das Maß ergeben des Wissens, worin man stolz sein darf und wo man sich schämen muss.