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Man hat Luther den ersten großen Durchbrecher des mittelalterlichen Systems genannt, und gewiss mit Recht, wenn man damit das religiöse System meinte. Die 95 Thesen, die Luther an die Schloßkirche zu Wittenberg nagelte, handelten von der „freien Gnade“, und der Ablassstreit, der daraus entstand, entwickelte sich rapid zum Streit um das Recht des Papstes. „Wenn die Gnade Gottes frei wirkte“, sagte Naumann, 29 „hörte alle Zentralverwaltung der Heiligtümer auf.“ Und sie hörte in der Tat auf. Freie Gnade hieß freies Gewissen, hieß über Seligkeit, Recht und Unrecht, Diesseits und Jenseits, von nun an selbständig denken zu dürfen. Freiheit eines Christenmenschen: das bedeutete, dass das bürgerliche Individuum gewillt war, von nun an die Entscheidung über letzte Fragen des Daseins auf sein eigenes Gewissen zu nehmen. Es wäre zu wünschen, dass wir in diesem Punkte noch heut Lutheraner wären.

Das Religionssystem, das Luther durchbrach, war der Kollektivbegriff in Glaubensdingen, war die Zentralverwaltung der Gewissensfragen, nicht nur der Heiligtümer; war der religiöse Militarismus, der Disziplinarkomplex. Der Einzelne wagte es, den Gehorsam zu verweigern aus Gründen seines persönlichen Seelenheils. Davon allerdings ist in Naumanns sanftmütiger Schrift nicht die Rede. Die demokratische Gewissheit, mit der Luther auftrat, tritt klar zutage, wenn man das tolle Selbstgefühl achtet, mit dem er zunächst alle Seelenkämpfe, alle metaphysische Sorge um Gedeih und Verderb, und die ganze Last der vielfältigen, haarspalterischen religiösen Probleme seiner Zeit auf die Schultern des Einzelnen legte. Die ganze Sündenlast des Jahrhunderts trug nun das Individuum, aber auch aller Seelen Seligkeit leuchtete aus seinen verzückten Augen. „Der Papst“, sagte Luther in den Schmalkaldischen Artikeln, „will nicht lassen glauben, sondern spricht, man solle ihm gehorsam sein; das wollen wir aber nicht tun oder darüber sterben in Gottes Namen.“ Wo hat gegen die Zensur und den Belagerungszustand des heutigen Disziplinarsystems jemand solche Worte gewagt? Ist die Propaganda für die Kriegsanleihe so sehr verschieden vom mittelalterlichen Ablasshandel? Ist ein so großer Unterschied zwischen den Pfaffen des alten und den Professoren des neuen Systems, zwischen Tetzel und Sombart? Herr Naumann mag antworten darauf. Der Unterschied zwischen Gesetz und Evangelio, zwischen der äußeren und der inneren Autorität, den der Luther von 1517 aufstellte – wo ist er geblieben? In Russland wurde er wiedergeboren, in Deutschland aber ist er nicht mehr zu finden.

Den nötigen Unterschied zwischen Gesetz und Evangelio statuiert zu haben, hat Luther sich selbst gerühmt. Noch 1534: „Ich muss immer solchen Unterschied der zwei Rechte einbleuen und einkäuen, eintreiben und einkeilen, ob's wohl so oft, dass es verdrießlich ist, geschrieben und gesagt worden. Denn der leidige Teufel hört nicht auf, diese zwei Reiche ineinander zu kochen und zu brauen. Die weltlichen Herren wollen immer Christum lehren und meistern, wie er seine Kirche und geistlich Regiment soll führen. So wollen die falschen Pfaffen immer lehren und meistern, wie man solle das weltliche Regiment ordnen.“30 Deutlicher konnte die Trennung zwischen Staat und Kirche nicht formuliert werden, und doch haben wir sie heute noch nicht.

Aber Luther rühmte sich auch, „seit der Apostel Tage habe kein Doctor noch Skribent, kein Theologus noch Jurist, so herrlich und klärlich die Gewissen der weltlichen Stände bestätigt“31. Als er auftrat, habe niemand etwas von der weltlichen Obrigkeit gewusst, woher sie käme, was ihr Amt und Werk sei und wie sie Gott dienen solle. Und diese letzte Äußerung gibt die Bestätigung, welche furchtbare, dem Mittelalter unbekannte Macht er dem Staate verlieh. Marsilius von Padua und Machiavell hatten dem Staate lange vorher seine eigenen Aufgaben zugewiesen. Die Gelehrten aber hatten die Obrigkeit für etwas Heidnisches, Ungöttliches gehalten, hatten sie als einen für die Seligkeit gefährlichen Stand bezeichnet. Luther als erster nahm, gestützt auf die Bibel, den göttlichen Ursprung nun auch für die staatliche Obrigkeit in Anspruch. Damit war, als die Landesgewalten erst begannen, sich mit den Spolien der Kirche zu bereichern, die staatliche Omnipotenz garantiert: Luther erwies sich nach seinen eigenen Worten als „falschen Pfaffen“, der lehrte und meisterte, „wie man solle das weltlich Regiment ordnen“. Er gab dem Staate eine nie geahnte „Gewissensfreiheit“ und Macht, und erklärte doch das Desinteressement des religiösen Individuums an der Ordnung der Staatsaffären. Alle Weltfremdheit deutscher Dichter, Gelehrter und Philosophen hat hier ihren Ursprung. Die verächtliche Geringschätzung, mit der noch heute der feudale deutsche Staatsmann auf die Vertreter der Intelligenz seines Landes herabsieht, die ihn doch überwachen müssten, – auch sie geht auf Luther zurück. Die Naivität eines zweideutigen Doctoren der Theologie lieferte das Volk zu endloser Maßregelung auf Treu und Glauben seinen Junkern, Beamten und Fürsten aus. Und die politisch-soziale Unproduktivität aller deutschen Geistestaten bis auf die heutige Zeit wurde höchste Verpflichtung.

Der Weimarer Kanzler Müller erzählt, Napoleon habe 1813 auf einem Ritt nach Eckardsberge geäußert: „Karl der Fünfte würde klug getan haben, sich an die Spitze der Reformation zu stellen; nach der damaligen Stimmung würde es ihm leicht geworden sein, dadurch zur unumschränkten Herrschaft über ganz Deutschland zu gelangen.“32 Gewiss, das lag nahe. Man darf aber aus diesen Worten nicht schließen, dass das Haus Habsburg nicht zu Luthers Lebzeiten schon sein Wirken sehr aufmerksam verfolgte und wenigstens auszubeuten gedachte. Jovial richtete Kaiser Max, der Vorgänger Karls V., an den kursächsischen Rat Degenhardt Pfeffinger die Gelegenheitsfrage: „Was macht euer Mönch zu Wittenberg? Seine Sätze sind traun nicht zu verachten.“ Und er gab den Rat, „man solle den Mönch fleißig bewahren, denn es könne sich zutragen, dass man seiner bedürfe“33. Luther wurde zum Propagandisten der unabhängigen Fürstengewalt und wenn die damaligen Kaiser nach Bahrs Wort „die große Tat verschmähten“, so verschmähte man sie doch 1871 nicht, als die Zeiten reif geworden; der Protestantismus wurde Geschäftsträger für die diplomatischen Beziehungen preußischer Kaiser zum lieben Gott. Die Polyphonie aber, aus der heraus Luther den „tönenden Weg bahnte für ein Volk, das Genies gebären wird“, wurde eine Polyphonie der moralischen Zwei- und Vieldeutigkeiten. Nicht nur die Obrigkeit hat er bestätigt – „wenn die Obrigkeit sagt, zwei und fünf sind acht, so musst Du's glauben wider dein Wissen und Fühlen“34 –, auch den Krieg sanktionierte er. In einer Untersuchung „ob Kriegsleute auch im seligen Stande sein können?“ finden sich die schlimmen Sätze: „Dass man viel darüber schreibt und sagt, welch eine große Plage der Krieg sei, das ist alles wahr... So muss man auch das Kriegs- und Schwertamt, wenn es so würgt und greulich tut, mit männlichen Augen ansehen. Dann wird es von selbst beweisen, dass es ein an sich göttliches Amt ist, der Welt so nötig und nützlich wie Essen und Trinken oder sonst ein andres Werk.“35

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