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Vorausgesetzt, dass die Bibel ein Buch ist wie alle andern, das ehrwürdigste Buch, aber ein Buch unter Büchern: haben dann nicht am Ende die Philologen mehr Veranlassung, Luther dankbar zu sein, als jene Geister, denen die Emanzipation am Herzen lag? Ist die Freiheit eines Christenmenschen vielleicht identisch mit der Freiheit, die Bibel lesen und sie nach eigenem Gutdünken sich auslegen zu dürfen? Ist der protestantische Bibelglauben unter Philologen ein religiöses Missverständnis? Luther als rector magnificentissimus der philologischen Fakultät seines Volkes, und der Protestantismus eine Philologenbewegung – wird man sich entschließen, diesen Vorschlag anzunehmen? Herr Professor Naumann, der eine gute Wetterfahne ist, hat sich bereits entschlossen und spricht nur noch von „Professor Luther“. Die Gelehrtenrepublik sieht in dem Mönch ihren Stifter. Er war der Patriarch aller Schriftgelehrten oder Philologen der Nation40.

Luthers Glaube an das Geschriebene war unendlich. Den Papst verwarf er, weil er in der Bibel nicht vorkam. Die Mönche und Nonnen ebendeshalb. Den Kaiser aber, und die Obrigkeit und den Krieg nicht, denn sie standen drin. Kann man sich einen abergläubischeren Text-Fetischismus oder wenn man will, eine liebevollere Hingabe denken? Nie ist ein Buch seit Luthers Zeiten so gelesen worden wie die Bibel. Sie gehörte von nun an dem Volke. In einer Überschwemmung von gottesgelehrten Wortklaubereien, Dissertationen, Kommentaren und Traktaten erhob sich die von mehr als einem Standpunkte aus tief bedauerliche Tatsache, dass die Nation sich von nun an an die Bücher halten wollte, statt an das Leben. Von einer Sensation sagt man in Deutschland: sie macht „Aufsehen“. Da sieht man, wie sie alle ängstlich schwitzend mit den Nasen in den Büchern stecken. Den einfachen Mann überkamen die krausesten Probleme, denen er nur mit Stirnrunzeln und Verbitterung sich unterzog. Und da Luther gleichzeitig die ganze theologische Tradition der Klöster in den Alltag warf, wurde das ganze Volk von unverdaulichem Wust überschwemmt, ein einzig Volk von Gottesgelehrten. „Es wird gelehrt“, „Es wird gelehrt“, beginnen die einzelnen von Melanchthon redigierten Schmalkaldischen Artikel41. Und es wurde gelehrt, das ganze Volk, jeder Einzelne wurde gelehrt. „Der deutsche Freiheitsbegriff, gleichsam eine Schöpfung der Gelehrsamkeit“, gesteht sogar Rathenau42. Wann wird man endlich Reinlichkeit einführen in kategoriellen Dingen? Der Protestantismus ist eine Philologie, keine Religion. Luthers Revolte sagte zum Papst: Wir glauben dir nicht mehr. Wir wollen das Dokument einsehen. Wir glauben nur an das Dokument43. Liegt darin aber etwas schöpferisch Neues, eine neue Religion? Dann wäre heute eine neue Religion, vom Papst in Berlin die Dokumente zum Weltkrieg zu fordern und auf der Übersetzung der ausländischen Dokumente zu bestehen, die sich damit beschäftigen. Gibt es noch Protestanten? Wo bleibt die Gewissensfrage? Auch die Bibel ist ein Fetzen Papier, wenn man will. Internationale Verträge sind heute wichtiger geworden als die Bibel. Wenn man solche Verträge zerreißt, kostet es mehr Blut, als zwanzig Herrgötter vergeben können. An die Schuldfrage sollt ihr euch halten. Um die Schriftmoral braucht euch nicht bange zu sein. Ein neues Europa ist die Moral.

Um die Kulturbasis ging in Europa damals der Streit. Dies wieder war eine pädagogische Frage. Arabische, griechische und jüdische Bildungselemente kämpften um den Vorrang. Die italienische und französische Renaissance entschied sich für den Hellenismus und brachte dadurch Europa eine Lichtflut von Aufhellung, Aufklärung. Luther und die Deutschen entschieden sich für die Bibel und damit für die jüdische Tradition. Dies bedeutete unendliches Dunkel, eine Vergiftung mit Theologie für das ganze Volk, schlimmer als sie unter den Päpsten gewesen war, denn nun wurde ausdrücklich jedes einzelne Individuum Theologe. Damit war ein jüdisch-deutscher Geheimbund gegründet, dessen Band die gemeinsame Theologie, dessen Ausdruck der heutige Kriegswucher ist44. Die Reformation soll dem ganzen Erdteil einen neuen Ernst in Religionsfragen auferlegt haben. Sie legte ihm aber nur einen neuen Ernst im Bücherlesen und eine vergröberte Priesterschaft auf.

Was bedeutet uns heute die Bibel? Noch Zimmermann nennt sie die „heiligste Verfassungsurkunde der Menschheit“45. Doch muss man nicht unterscheiden? Das Alte Testament ist despotisch, das Neue republikanisch. Die Erklärung der Menschenrechte durch die Französische Revolution hat uns zu dieser Entdeckung verholfen. Gott offenbart sich nicht mehr. Der Mensch offenbart sich. Naumann, derselbe Naumann, der sich noch 1918 in Deutschland so wohl fühlte, dass er vorschlug, einen „gemeinsamen deutschen Freiheitston“ einzuführen46, nennt nun die Bibel sogar die „Magna carta der Freiheiten“47. Wie ist das möglich? Er leidet an jener Verwirrung von Despotismus und Evangelium, von Altem und Neuem Testament, an dem seit Luther ganz Deutschland erkrankte. Denn man könnte ebenso gut den Nachweis erbringen, dass der teuflische Einfall ich weiß nicht welches jüdischen Theologen, das Alte und das Neue Testament buchbinderisch in Zusammenhang zu bringen, dazu führte, aus der Bibel eine Magna carta der Unfreiheiten und Zweideutigkeiten zu machen, die eine tausendjährige Sonnenfinsternis über Europa verhängten. Nicht nur das Alte Testament – auch die Erlösungslehre ist uns fremd geworden. Wenn wir uns nicht selbst erlösen, werden wir zugrunde gehen. Die Gnade ist sinnlos geworden. Denn für die Verbrechen, die wir begangen haben und täglich begehen, kann es keine Gnade geben, ohne dass Gott aufhört zu bestehen. Die rührende Legende aber von einem Genie der Demut und Liebe, das man gekreuzigt hat – wer versteht sie heute noch? Der mehr oder weniger feiste Bürger – glaubt er und will er denn glauben, dass er erlöst werden kann? Wer soll erlösen? Von welchem Übel? Wozu schleppt man die Bibeln herum? Die heutige Reformation handelt von Kriegsschuld und Kriegsursachen48.

Eine der schlimmsten Ursachen des Weltkrieges war die Reformation des 16. Jahrhunderts. Das Zurückgreifen aber auf das paulinische Christentum war das Allerschlimmste. Paulus, der von der Obrigkeit sagte, ein jeglicher habe ihr „untertan“ zu sein „mit Zittern und Beben“; Paulus, der „Journalist Christi“, wie Hatvany ihn nennt; Paulus, der jene jüdische Legende vom erlösenden Genie der Demut als erster durch Theologenbeiwerk übertrieb und veränderte, er scheint auch jenen Versöhnungsfrieden zwischen Altem und Neuem Testament, zwischen einem Richtergott und seinem rebellischen Sohne, eingeführt zu haben, indem er Unversöhnliches vereinte und den rebellischen Christen, vom Schinder gekreuzigt, dem alten Judengott unterwarf. Es würde zu weit führen, hier den Nachweis zu liefern. Man lese aber die Psychologie des Rabbi Paulus nach, die Nietzsche in der „Morgenröte“ gegeben hat49. Von Paulus leitete Luther den jüdischen Defaitismus der Moral ab, „christlich Recht sei nicht, sich sträuben wider Unrecht sondern dahin zu geben Leib und Gut, dass es raube, wer da raube. Leiden, Leiden, Kreuz, Kreuz sei des Christen Recht.“

Und die Lehre vom göttlichen Individuum? Glauben wir noch, dass der Einzelne uns zu erlösen vermag? Sind wir nicht im Begriffe, zu brechen mit einem bequemen Geniekult, der alle Kräfte des Volkes aufsaugt und jeden, der kein Genie ist, der eigenen Trägheit überlässt, weil ja der andere, das Genie, es für ihn tut oder getan hat? Die abgöttische Verehrung, die den Verstand der Nation aufzehrt, heiße der Halbgott Wagner, Bismarck oder Hindenburg – ist sie nicht eine Nachwirkung des Erlösergedankens? Jedes einzelne Glied der Gesellschaft muss beurteilen können, worum es sich handelt. Gebrochen muss werden mit jeder Art Erlösungssystem, zeige es sich in der Geheim-Philosophie, der Geheim-Musik, der Geheim-Dichtung oder der Geheim-Diplomatie. Alles das sind Rudimente eines mysteriösen Erlösungsgedankens und Erlöseraberglaubens, der Fiasko gemacht hat, in Deutschland mehr als anderswo50. Wenn etwas recht geheimnisvoll geschieht, muss es deshalb schon göttlich sein? Erlösen wir uns von den Erlösern!

„Eure Werke taugen nichts“, sagte Luther zu einem versunkenen, mittelalterlich mystischen Volk, und verschrieb sich dem orientalischen Geiste der Bibel. Wo blieb da die „teutsche Nation“, die sonst doch so antisemitisch ist? Wo bleiben die Zionisten, die ihr mosaisch Gesetz reklamieren? Kulturbasis ist heute das Neue Testament seit seinem Beginn, der Bergpredigt; denn es handelt sich um Europa51.

Hierfür lassen sich von Luthers philologischer Tätigkeit folgende Maximen ableiten:

Als deutscher Prophet muss man laut schreien und deutlich reden. Denn das Volk ist schwerhörig. Unendliche Wiederholungen weniger Gedanken verfehlen schließlich ihre Wirkung nicht.

Man muss Übersetzungen herstellen von Büchern, die wichtig sind, und sie dem Volke geben.

Man soll genau und wenig lesen; ein Buch aber, das einem zusagt, wie ein Heiligtum bewahren.

Über ein wichtiges Buch kann nicht genug geschrieben, gepredigt, disputiert und gesprochen werden.

Man soll sich an das erlösende Wort halten und darauf sehen, dass ihm erlösende Taten folgen.

Die Bevormundung ist Büchern gegenüber, die Dokumente sind, abzuschaffen. Die Zentralisation dieser Heiligtümer in den Händen einer lügnerischen Propaganda ist aufzuheben.

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