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Thomas Münzer gehört zu jener Ordnung von Geistern, denen nach einem Wort René Schickeles „ihre mystischen und nationalistischen Antriebe gleich teuer sind in der Hoffnung, dass beide eine höhere und wollüstig zusammengesetzte Einheit des Gefühlslebens, die bunte Schönheit und den verhaltenen Wohlklang des inneren Lebens herbeiführen werden. Zur Tat fühlen sich diese Ideologen mit Schmerzen hingezogen; ohne Erfüllung laufen sie Gefahr, zu zerfallen oder wie Orpheus in Stücke zerrissen zu werden. Die Tat bestätigt sie, denn sie sind von Natur haltlos.“54

Thomas Münzer Stolbergensis wurde der Führer der deutschen Bauernrevolution von 1525. Nie hat ein sublimerer, nie ein reinerer Geist eine Revolution geleitet. Lassen wir uns von einer jahrhundertelangen Lutherpropaganda den Blick nicht mehr trüben! An der Spitze der Nation steht derjenige, der ihre besten Kräfte zum Ausdruck bringt. An der Spitze der Nation stand beim ersten Eintreten deutschen Geistes in die Geschichte der Neuzeit ein Mann, der Prophet und Heiliger, Philosoph und Revolutionär in einem war. Eine Franziskusnatur, die sich in die weltlichen Händel warf, als die offiziellen Vertreter des Volkes versagten; nicht eher, dann aber mit unerbittlicher Energie.

Alle großen Katholiken waren Mystiker. Sie säkularisierten die Transzendenz der Kirche, um sie dem Leben zuzuwenden: Pascal und Baader. Was ist Geist? Gewissen, auf die Kultur angewandt. Was ist Kultur? Eintreten für die Ärmsten und Geringsten, als solle aus ihnen das Höchste und aller Himmel sich gebären. Der Geist der Musik und ihre Ordnung, ins Irdische übersetzt: das ist die Aktion solcher Männer. Die gotische Ordnung der Dinge bringt die weltliche ins Wanken, wirft sie um und lässt eine neue Kausalität erstehen, die über die Gegenwart lächelt und ferne Jahrhunderte grüßt. Die gotische Ordnung der Dinge, die ihre Parodie bekämpft in der politischen, und ihre Afterparodie in der polizeilichen. Was sagen Eigenschaften wie Kühnheit, Kindlichkeit und Phantastik aus über solche Geister? Ihre tiefe Symmetrie, das, was Walter von der Vogelweide „die maasse“ nennt, sieht sich im Widerspruch mit dem bestehenden Irrwisch; das ist ihr Leiden, ihr Witz, ihre Tragik. Sie treten hervor, und alle Pseudologie ist gerichtet. Franz von Baader und Schopenhauer waren von dieser Art. Ganze Generationen von Dunkelmännern sind nötig, um dem panischen Schreck zu begegnen, der sich des Alltags bemächtigt. Die Tragik liegt nicht im persönlichen Schicksal derer, die das Erlebnis bringen, sondern im plötzlichen Aufleuchten einer Vernunft, die von sich selber am tiefsten erschüttert ist. Die kathedralische Ordnung der Dinge verlangt ans Licht. Pessimismus ist nur ein Wort für den Zwiespalt des Möglichen mit dem Erschauten. Prophet sein heißt um den Grundriss wissen, den kommende Völker zum Dombau vollenden.

Münzer war ein Prophet. Ganz Russland nahm er voraus und die Aufklärung, die er geheiligt hat vor ihrem Erstehen. Er hatte keinen glücklichen Biographen. Melanchthon, der Freund Luthers, sinistrer Redakteur der Augsburgischen Konfession, der bald zwei, bald sieben, bald neun Sakramente annahm, war nicht geboren, das Leben dieses Mannes zu deuten, in dem sich ein glühender Phantasieschwung paarte mit eiserner Energie, unbändige Freiheitslust mit demütigster Liebe zur leidenden Kreatur. Noch fand sich niemand, der alle Äußerungen, Briefe und Schriften Münzers vorurteilslos gesammelt hat in Archiven und Urkunden seiner Zeit. Gleichwohl ist so viel überliefert, dass wir ein Bild haben seiner Persönlichkeit.

Das Studium der Bibel, mystischer und apokalyptischer Schriften erzog ihn. Er soll keine profanen Bücher gelesen haben mit Ausnahme der Schriften Luthers. Als seinen Lehrer nennt er den calabresischen Abt Joachim, einen Propheten des 12. Jahrhunderts, der da lehrte, „es werde das Zeitalter des Geistes kommen und mit ihm die Liebe, die Freude und die Freiheit. Alle Buchstabengelehrsamkeit werde untergehen und der Geist frei hervortreten aus der Hülle des Buchstabens. Das Evangelium des Buchstabens sei etwas Zeitliches, seine Form etwas Vergängliches, Vorübergehendes; das Evangelium des Geistes sei das ewige Evangelium. Dann werde eine Gemeinschaft von Brüdern auf Erden sein, von Spiritualen, Söhnen des Geistes. Nach ihrem Geiste sei das lebendige Wasser jene Schrift, die nicht mit Tinte und Feder auf Papier geschrieben worden, sondern durch die Kraft des heiligen Geistes in das Buch des menschlichen Herzens. Wenn aber die Erhabenheit der himmlischen Dinge sich offenbare, werde alle irdische Hoheit zuschanden werden.“55 Einfluss auf Münzers Entwicklung hatte gewiss auch die Libertinagetradition der Dombauhütten. Und seinen Enthusiasmus nährten jene politischen Schwärmer von Zwickau, unter denen Niklas Storch eine besondere Stellung einnahm. Niklas Storch betrachtete die Errichtung des tausendjährigen Reiches als seine ihm vom Himmel gewordene Aufgabe. Er predigte von der nahen Verwüstung der Welt und von einem eintretenden Strafgericht, das alle Unfrommen, Gottlosen austilgen, die Welt mit Blut reinigen und nur die Guten übrig lassen werde56. „Es schien fast“, sagte Ranke, „als wollten sie selbst das Werk einer gewaltsamen Umkehr beginnen.“

Münzer verwarf die Gottesgelehrsamkeit. „Was Bibel, Bubel, Babel“, rief er aus, „man muss auf einen Winkel kriechen und mit Gott reden.“57 Er betonte die unmittelbare Gemeinschaft mit Gott, der sich kundgebe in Erscheinungen, Träumen und Offenbarungen. Kirche und Staat sollten im Reiche der Freien und Heiligen ganz aufgehen und das wahre Priestertum, das des ganzen Menschengeschlechts, anheben.

Er entwirft die Methodik einer noch heute modernen geistigen Disziplin: Aufgabe alles Tuns sei, nach Verzicht auf alle Lüste und Vergnügungen, durch Einsamkeit und Zerknirschung, innige Betrachtung, sich Rechenschaft über den Grund seines Glaubens zu geben. Dem zerquälten und zerfolterten Menschen gibt Gott Zeichen. Wer mit Kühnheit, Ungestüm und Ernst diese Zeichen fordere, dem gebe sie Gott. Die christliche Kirche geht auf Christus, nicht auf Paulus zurück. Man muss auf den inwendigen Christus dringen. Luther habe nur halb reformiert: es muss eine ganz reine Kirche von lauter echten Kindern Gottes gesammelt werden, die mit dem Geiste Gottes begabt und von ihm selbst regiert werden, ein Reich der Heiligen auf Erden. Gottlos sei, nicht durch Leiden Christus ähnlich werden zu wollen. Alles Böse, alles die freie Entfaltung jedes Einzelnen Hemmende solle abgetan werden. „Der Sohn Gottes sagte: die Schrift gibt Zeugnis. Diese Schriftgelehrten aber sagen, sie gibt den Glauben.“ Jeglicher Mensch, auch ein Heide, ohne alle Bibel, könne den Glauben haben58.

Er greift Luthers Rechtfertigungslehre an: Eine tote Glaubenslehre sei dem Evangelium schädlicher als die Lehre der Päpste. „Des Ziels wird weit gefehlt, so man predigt, der Glaube mache rechtfertig und nicht die Werke.“ Der Himmel, in den der Mensch versetzt werden soll, sei in diesem Leben noch zu suchen und zu finden. Den heiligen Geist hat jeder Mensch, denn er ist nichts anderes als unsere Vernunft und unser Verstand. Es gibt keine Hölle oder Verdammnis und sündigen kann nur, wer den heiligen Geist, das heißt Vernunft hat. Die Natur wolle, dass man dem Nächsten tun soll, was man sich selbst wolle getan haben. Solches Wollen sei der Glaube59.

Er verwirft die „wollüstige Lehre“, dass Christus für alle Sünden genug getan habe; verwirft den Heiligenkult, die Lehre vom Fegfeuer und die Fürbitte für die Toten. Christus sei nicht Gott, sondern allein ein Prophet und Lehrer. Münzer aß „die Herrgötter“, wie er die Hostien nannte, ungeweiht, und erregte damit sogar Carlstadts Entsetzen, der ihm schrieb: „Ut autem cesses hostiam sustollere, et hortor et obsecro, quod blasphemia est in Christum crucifixum.“60

Eine Blasphemie gegen den gekreuzigten Christus? Münzer mag gelächelt haben, als er den Brief las. Ihm war Christus „Vorbild des höchsten Leidens, wo der Mensch erkennt, dass er ein Sohn Gottes ist“. Christus sei „der oberste unter den Söhnen Gottes“ und „sofern der Mensch in die Empfindlichkeit göttlichen Willens kommt, ist es nimmermehr möglich, dass er wahrhaftig wieder an den Vater, an den Sohn oder heiligen Geist glaube“61

Mir sind keine tieferen und freieren Sätze über Christentum, Leiden und Gottesglaube bekannt. Diese Sätze Münzers enthalten mehr als eine Philosophie der Qual und Verzweiflung, sie enthalten eine hierarchische Ordnung der Geister nach Maßgabe ihrer Leidensfähigkeit. Sie bedeuten die Überwindung des ganzen Mittelalters und sind der höchsten Spiritualität Europas verwandt. Mit Tolstoi verbindet ihn sein religiöser Anarchismus, mit Mazzini das „dio e popolo“, mit Jules Vallès die Konföderation der Schmerzen, mit Erneste Hello die Heiligenlehre.

Wie stellte sich Luther zu diesen Sätzen seines Zeitgenossen? Sie erschienen ihm als „eitel mutwillige Frevelartikel“, „als ein seltsames Gespenst des Teufels“. An Spalatin schrieb er, Münzer bediene sich „solch ungewöhnlicher und der heiligen Schrift widersprechender Worte und Reden, dass man ihn für einen sinnlosen, betrunkenen Mann halten könne“62.

Am 13. Juli 1523 sieht Münzer sich genötigt, an den Herzog Johann zu schreiben: „Wollt ihrs haben, ich soll vor denen von Wittenberg verhört werden, so bin ich nicht geständig. Ich will die Römer, Türken, die Heiden dabei haben. Denn ich spreche an, ich tadle die unverständige Christenheit zu Boden. Ich weiß meinen Glauben zu verantworten. Wollt ihr darauf meine Bücher erscheinen lassen, so sehe ichs gern. Wo aber nicht, so will ichs dem Willen Gottes befehlen. Ich will euch getreulich alle meine Bücher zu verlesen geben.“63 Luther hatte in einem Sendschreiben an die Fürsten von Sachsen die Landesherren aufgefordert, dass sie „mit Ernst sollten zu solchem Stürmen und Schwärmen tun, auf dass allein mit dem Wort Gottes in diesen Sachen gehandelt und Ursach des Aufruhrs verhütet werde“. Denn: „Es seien nicht Christen, die über das Wort auch mit Fäusten dran wöllen und nicht vielmehr alles zu leiden bereit sind, wenn sie sich gleich zehn heiliger Geist voll und abervoll rühmten.“64 Nur durch Flucht kam Münzer seiner Verhaftung zuvor.

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