Читать книгу Antiheld - I. Tame - Страница 11

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Die ‚Nachtbar‘ liegt eine gute Viertelstunde zu Fuß von Absinths und Jacksons Wohnhaus entfernt. Abs marschiert wie ein aufgezogener Zinnsoldat. Er atmet laut keuchend durch seinen geöffneten Mund. Ab und zu schüttelt er den Kopf als hätte er Wasser in den Ohren. Was genau mit seinem Körper passiert, könnte er gar nicht exakt in Worte fassen. Er ist zu überrascht. Der Typ hat mich voll überrumpelt. Was ist das nur?

Und wieder reibt er sich mit den Handballen kurz über seine Ohren. Irgendwie klingen die Straßengeräusche ziemlich intensiv. Vorbeifahrende Autos rauschen lauter. Anders als üblich. Sein durch zu laute Musik verletztes Gehör scheppert üblicherweise bei Belastung. Das hat sich irgendwie gewandelt. Der Lärm scheint ungefiltert in seinen Kopf einzudringen. Langsam stellen sich leichte Kopfschmerzen ein.

Da drüben liegt die ‚Nachtbar‘. Da hilft Jackson heute dem dicken Barry beim Umräumen seines Lagerraumes. Irgendein Notausgang musste freigeräumt werden. Diese Gelegenheit nutzt Barry, um sein gesamtes Lager umzuorganisieren. Sein kleiner Kellner kann ihm nicht helfen, weil dessen Hand gebrochen ist und so hatte Barry sich an Jackson gewandt.

Schwungvoll betritt Abs den Schankraum. Gott sei Dank! Jacks sitzt schwitzend an einem der Tische, ein Glas Cola in der Hand. Er lächelt.

„Hey, Abs! Du kommst zu spät. Wir sind schon fertig.“

Sein Shirt klebt verschwitzt an der Brust und Jacksons dunkelblaue Haare glänzen durch den Schweiß wie mit Lack besprüht. Absinth findet seinen Freund einfach nur schön; da kann er noch so verschwitzt und fertig aussehen. Jetzt lächelt er ebenfalls, während er sich einen Stuhl heranzieht.

„Ich muss dir dringend was erzählen … über deinen Mitbewohner“, setzt er aufgeregt an.

„Ja?“ Anzüglich zieht Jackson eine Augenbraue hoch. „Dann leg‘ mal los. Bin auf alles gespannt.“

Abs presst leicht angepisst die Lippen aufeinander. Der ist sowas von scharf auf den Typen. Mist!

Doch dann konzentriert er sich wieder auf die unglaubliche Geschichte, die er Jackson zu erzählen hat.

„Weißt du eigentlich was der so macht? Und warum er sozusagen auf der Flucht ist?“

Jackson verzieht ratlos den Mund und zuckt einmal mit den Schultern.

„Nee, wollte er nicht drüber reden.“

Absinth reibt einmal sein rechtes Ohr gegen die Schulter.

„Dann pass mal auf! Ich hab‘ heute seinen Namen gegoogelt. Luca Denero. Und weißt du was ich da rausgefunden hab‘?“

„Spuck’s endlich aus, Abs!“, erwidert Jackson, während er sich mit beiden Händen die nassgeschwitzten Haare aus der Stirn kämmt.

„Der ist Heiler! So einer, der den Leuten die Hände auflegt und angeblich schwerste Krankheiten heilt. Einfach so. Manchmal von jetzt auf gleich. Da wurden Leute zitiert, die geradezu ehrfurchtsvoll über ihn sprachen. Wenn du mich fragst, hat der einfach nur einen geilen Weg gefunden, den Idioten die Kohle aus der Tasche zu ziehen.“

Er hält inne; seine Erzählung stockt. „Aber trotzdem …“, setzt er langsamer an und blickt Jackson mit gerunzelter Stirn in die Augen. „Irgendwas stimmt mit dem nicht. Denn … eben war ich unten bei dir; hab‘ ein bisschen mit ihm geplaudert und ihm erzählt, was ich über ihn rausgefunden hab‘. Als ich ihn gefragt hab‘, wie er das denn so macht – seine Heilungen – da hat er mir die Hände auf die Ohren gelegt und jetzt … jetzt … irgendwas ist anders.“

Erneut schüttelt er leicht den Kopf und steckt sich anschließend pulend den kleinen Finger in einen Gehörgang.

Aufgeregt beugt sich Jackson vor. „Kannst du besser hören?“, fragt er neugierig.

„Ich weiß nicht!“, erwidert Absinth gequält. „Alles erscheint mir lauter, intensiver … aber nicht unbedingt angenehm.“ Kläglich blickt er seinen Freund an. „Das war beängstigend, sag‘ ich dir. Kaum hatte der seine Hände auf meine Ohren gelegt, als mein ganzer Kopf anfing zu kribbeln und dann wurden meine Ohren so heiß, als ob ich den Schädel auf die Heizung gelegt hätte. Warum hab‘ ich das nur zugelassen?! Der hat mich total hypnotisiert mit seinen schwarzen Augen.“

Jackson mustert den zierlichen Punk, der durch seine jammernde Erzählung und sein Mißempfinden noch zerbrechlicher als üblich wirkt.

„Jetzt beruhige dich erstmal. Hier! Nimm einen Schluck!“

Auffordernd schiebt er sein Glas in Absinths Richtung. Dieser nimmt es dankbar entgegen.

„Wenn er tatsächlich was an deinem Gehör verbessert hat, dann ist es doch eigentlich logisch, dass du erst einmal alle Geräusche als zu laut empfindest, oder? Ich meine, du hast dich doch an das Scheppern und das schlechte Hören mit der Zeit gewöhnt. Am besten gehst du morgen zum HNO und lässt alles abchecken. Vielleicht ist ja was dran und er hat dir einen unglaublichen Gefallen getan. Auf jeden Fall kann ich mir nicht vorstellen, dass er dir schaden wollte.“

Nachdenklich starrt Abs vor sich hin, bevor er schließlich zustimmend nickt; wenn auch nur zögerlich.

„Du hast wohl recht. Mal abwarten.“ Nicht auszudenken, ich könnte ohne Geschepper mein Saxophon spielen, denkt er sehnsüchtig.


In der Zwischenzeit hat Luca seine Vorräte verstaut und einiges an Gemüse vorbereitet, um später daraus eine Gemüsepfanne zuzubereiten. Während er einen der appetitlichen Äpfel verspeist, die er ebenfalls erstanden hat, sitzt er nachdenklich auf der Wohnzimmercouch. Absinths plötzlichen Abgang hat er erst einmal verdrängt. Ungewöhnliche Reaktionen ist Luca gewohnt. Nicht jeder kommt damit klar, wenn sich von jetzt auf gleich seine Beschwerden bessern oder gar verschwinden. Irgendeine Reaktion erzielt Luca immer. Er weiß nicht genau wie es funktioniert. Er weiß nicht genau was in dem Moment der Heilung passiert. Und er ist sich nicht sicher, wie tiefgreifend die Heilung jeweils ist. Doch eines steht fest: noch niemals hat jemand vor ihm gesessen oder gelegen, der in diesem Moment keinen physischen Effekt verspürt hätte.

Noch erstaunlicher reagieren Tiere auf ihn. Als wüssten sie, dass ihnen geholfen wird; als spürten sie auf einer anderen Ebene, dass Luca Heilung bringt. Hunde schmeißen sich ihm vor die Füße. Katzen drängeln sich reibend und schnurrend gegen seine Beine. Und selbst ein Graupapagei ließ sich von ihm behandeln; sprang wie selbstverständlich auf Lucas Arm, den er ihm vor die geöffnete Käfigtüre hielt. Die Besitzerin war alleine von dieser Szene dermaßen beeindruckt, dass sie sich während der gesamten Sitzung nicht mehr beruhigen konnte. Noch nie hatte ihr Papagei einem fremden Menschen gestattet, ihn anzufassen. Und dann saß er geduckt auf Lucas Unterarm, fast angekuschelt und ließ zu, dass dieser Mann die andere Hand auf seinen kahlgerupften Körper legte.

Und ja, natürlich macht Luca mit seinen Sitzungen eine Menge Geld. Sonst wäre doch ein Typ wie Joey nicht so dermaßen darauf erpicht, Lucas Zeit bis auf die Minute zu verplanen.

Die Menschen bekommen erklärt, dass sie unentgeltlich behandelt werden. Niemand wird gezwungen, eine Gebühr oder ähnliches zu entrichten. Freiwillig können sie ein ‚Geschenk‘ in beliebiger Höhe geben. Keine Spende, keine Gebühr. Wie Joey das mit dem Finanzamt regelt, will Luca gar nicht so genau wissen.

Man sollte meinen, dass die Leute jemanden wie Luca ausnutzen und übers Ohr hauen würden. Doch das Gegenteil ist der Fall. Kaum einer verlässt ihn, ohne ein Geschenk zu hinterlassen. Und sollte seine Heilsitzung bei einem Menschen einen durchschlagenden Erfolg haben, zum Beispiel eine Krebsheilung oder ähnliches, setzt schon mal im Nachhinein ein Geldsegen ein, der seinesgleichen sucht. Aber das meiste Geld verdienen sie, indem Luca so viele kranke Menschen wie möglich behandelt. Joey hatte ihn schon sehr oft bearbeitet, dass sie gezielt betuchte Kundschaft ansprechen sollten, doch bisher war er damit bei seinem Goldesel auf taube Ohren gestoßen. Jedesmal, wenn Luca ‚Nein‘ sagt, jammert Joey genervt herum. Er hat sehr gute Verbindungen in die Upper Class der Gesellschaft und stirbt bei Lucas Weigerung fast den Heldentod, weil er keine eigenen Termine machen darf. Luca besteht weiterhin auf der Praxis der ‚offenen Türe‘. Wer zuerst kommt, wird zuerst behandelt.

Jetzt seufzt er, während er lustlos an seinem Apfelrest knabbert. Also los! Bring’s hinter dich, befiehlt er sich selbst in Gedanken. Er zieht sein Handy hervor, schaltet es ein und wählt wie von selbst Joeys Nummer. Hat es überhaupt geklingelt? Luca kommt es vor als hätte Joey abgenommen, bevor die Leitung überhaupt steht.

„Luca?! Luca, wo bist du!! Du kannst doch nicht einfach abhauen! Du machst dir keine Vorstellung davon, was hier los ist! Die Leute sind sowas von enttäuscht und einige auch ganz schön sauer. Hier drängeln sich die Menschen vor der Türe und ich muss sie alle wegschicken. Wo bist du denn nur? Warum haust du bei Nacht und Nebel ab?“

Bewusst langsam atmet der Angesprochene ein und aus, während er sich in die Polster zurücklehnt. Typisch Joey. Nicht EINE Frage nach seinem Befinden.

„Ich kann nicht mehr!“, setzt Luca leise an. „Ich kann einfach nicht mehr, Joey.“

Jetzt hält sich sein Manager doch zurück. Man merkt wie schwer es ihm fällt. Ein mitfühlendes langgezogenes Geräusch entfährt ihm. Doch handelt es sich dabei tatsächlich um Mitgefühl? Es könnte auch Joeys genervte Anspannung zum Ausdruck bringen. Er seufzt herzzerreißend.

„Jetzt hör‘ mal, Luca! Ich weiß, dass die letzte Zeit anstrengend für dich war. Doch wir haben auch richtig gut Geld verdient. Wir wollten doch über einen Hauskauf nachdenken; da ist gerade ein schöner alter Landsitz am Stadtrand auf dem Markt, in dem man unten helle Praxisräume einrichten könnte. Das wolltest du doch auch. Wir könnten wie die Könige wohnen und hätten ein adäquates Umfeld für deine Heilungen. Doch das erfordert harte Arbeit und da kannst du nicht einfach von heute auf morgen alles hinschmeißen. Guck mal, ich könnte doch vielleicht einige separate Termine machen. Da haben wir schon so oft drüber gesprochen. Das sind Leute, die sich ihre Gesundheit wirklich was kosten lassen. Und wenn sich das in dieser Gesellschaftsschicht rumspricht, dann glaub‘ mir, Luca … dann sind wir bald Millionäre. Dann kannst du auch kürzer treten. Du arbeitest weniger, die Leute reißen sich um dich und überbieten sich geradezu, dich zu treffen. Wenn die Frauen dich sehen …“ Er gibt ein bewunderndes Geräusch von sich. „Die flippen aus, von einem Typen wie dir behandelt zu werden.“

Luca reibt sich über seine schmerzende Stirn. So oft hat Joey ihn bereits belabert. So oft Bilder einer berauschenden Zukunft gemalt; quasi sorgenfrei. Doch wenn Luca länger darüber nachdenkt, sieht er sich immer mehr als Scharlatan. Als jemand, der vielleicht am Ende nur noch wie ein reizendes Accessoire unter den oberen Zehntausend herumgereicht wird. Das stößt ihn ab. So will er nicht sein. Doch die Aussicht auf weniger Arbeit mit mehr Verdienst … wer könnte da auf Dauer abgeneigt sein?

„Joey, ich mach‘ jetzt erst mal eine Zeit lang Urlaub. Ich bin völlig fertig. Ich ertrage das alles gerade nicht, verstehst du das? Jeden Tag dermaßen viele Menschen. Ich werd‘ nur noch mit Leid konfrontiert. Und die ganzen Hoffnungen, die Erwartungen … Ich bin so dermaßen ausgepowert.“ Seufzend bricht er ab und wischt sich mit dem Handrücken über die feuchten Augen. „Es tut mir wirklich leid, dich zu enttäuschen, Joey … wirklich.“

„Ist ja gut, Luca. Ganz ruhig!“, fällt sein Manager ihm ins Wort. So langsam scheint Joey aufzugehen, wie fertig sein Geschäftspartner tatsächlich ist. „Nimm‘ dir ein paar Tage. Aber lass mich zu dir kommen, ja? Ich möchte nicht, dass du alleine im Hotel rumsitzt und Trübsal bläst.“

„Ich bin hier privat untergebracht“, murmelt Luca müde. Die Gespräche mit Joey ermüden ihn immer. Kein Wunder, dass er sich davor am liebsten drückt.

„Wo bist du denn überhaupt?“, hakt Joey nach.

„Ich … Joey sei mir nicht böse, aber ich möchte nicht, dass du hierher kommst. Ich ruf‘ dich bald wieder an, ja?“

„NEIN!“, brüllt Joey erbost. „Das kannst du doch nicht machen! Luca! Sag‘ mir wo du bist! Du kannst mich nicht einfach so aus deinem Leben ausschließen.“

Kann ich doch! beschließt Luca und mit einem „Bis bald“ beendet er das Gespräch. Anschließend schaltet er sein Handy aus. Er kommt sich ziemlich schäbig vor, doch gegen Joeys entnervend zähe Art kommt Luca auf Dauer nicht an. Er ist sich sicher, dass sein Manager höchstens einen Tag vor Ort sein müsste und der Heiler Luca Denero wäre eingenordet und auf Linie gebracht.

Nein, denkt Luca entschieden. Ich brauche mehr Zeit! Und die werde ich mir nehmen. Es geht hier um mein Leben, meine Gesundheit, meine Seele. Ich brech‘ zusammen, sollte ich jetzt wieder nach Hause fahren müssen. Außerdem ist da dieser Typ mit den eigenartigen Augen. Den will ich näher kennen lernen.

Bei dem Gedanken an Jackson und seine eigenwillige Art sein Leben zu meistern geht es Luca direkt besser und er lächelt leise vor sich hin.

Antiheld

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