Читать книгу 1968 in der westeuropäischen Literatur - Ines Gamelas - Страница 11
1.5 Öffnung vs. Beharren: die Dissidenz der jungen Spanier in den 1960er-Jahren
ОглавлениеWie bisher ausgeführt setzten sich Ende der 1960er-Jahre die deutschen, französischen und italienischen jungen Frauen und Männer im Kampf gegen die Repression ein, um die akademischen und politischen Institutionen transparenter und demokratischer zu machen. Die junge spanische Generation ihrerseits befand sich schon seit Langem in einem dauerhaften Kampf gegen ein autoritäres und unterdrückerisches System. Geboren nach dem Ende eines blutigen Bürgerkriegs (1936–1939), der Republikaner traditionalistischen Nationalisten gegenüberstellte, kannten diese jungen Spanier der 1960er-Jahre nichts anderes als eine militaristische, despotische und repressive Diktatur, die gewaltsam gegen alle vorging, die sich zu widersetzen wagten. Das antiparlamentarische, antiliberale und antikommunistische Regime des General Franco stützte sich seit 1939 einerseits auf eine Allianz mit der katholischen Kirche und andererseits auf ein Einparteiensystem, um das Leben der Menschen zu kontrollieren.1 Selbst nach dem Zusammenbruch des Faschismus in Deutschland und Italien am Ende des Zweiten Weltkriegs und nach dem Demokratisierungsprozess in vielen Ländern Westeuropas gab das repressive System nicht nach und blieb bis 1975, dem Todesjahr Francos, an der Macht.
Neben der politischen und ideologischen Kontrolle machte sich die autoritäre Führung des Franquismus auch im sozioökonomischen Bereich bemerkbar. Francos Beharrung auf einer Politik wirtschaftlicher Autarkie (vgl. Tosstorff, 2008: 189) brachte die spanischen Familien in den 1940er- und 1950er-Jahren in große Existenznöte. Nach der Periode von Armut, Rationierung und wirtschaftlicher Depression in der Zeit des Bürgerkriegs und des Zweiten Weltkriegs dauerten die Entbehrungen fort, verschärft durch eine Situation internationaler Isolierung.2 Während der 1950er-Jahre gab es punktuelle Anzeichen von Fortschritt dank der Kredite, die die USA dem Franco-Regime gewährten (vgl. Tusell, 2005: 156), und dank der beschränkten Grenzöffnung für Industrielle und die Bourgeoisie.3 Nutznießer dieser Fortschrittsanzeichen blieben dennoch lediglich die Geldeliten der großen Städte wie Madrid und Barcelona, die entwickelter waren als der Rest des Landes.
Der Wendepunkt von der Stagnation zum wirtschaftlichen Boom erfolgte am Ende dieser Dekade. Er wurde in erster Linie ausgelöst vom wachsenden Einfluss der mit dem Opus Dei verbundenen Technokraten in der Regierung, die Vertreter einer größeren Liberalisierung der Wirtschaft waren (vgl. Gracia/Ruiz Carnicer, 2004: 237), und nach 1959 dank des in Kraft gesetzten Stabilisierungsplanes. Dieser Plan, der Neuerungen brachte, war den (unproduktiven) Maßnahmen der Selbstversorgung entgegengesetzt, die das Regime vertreten hatte. Er begünstigte die Privatwirtschaft, belebte die Industrie und zog ausländisches Kapital an. Auf diese Weise bekam die nachfolgende Generation mehr Kaufkraft und Zugang zu den Neuerungen der Massenkultur. Außerdem gab es andere wichtige Faktoren, die den Weg für eine Veränderung der rückständigen und isolierten Agrargesellschaft in den 1960er-Jahren öffneten: das Aufkommen des Massentourismus (besonders in den Küstenregionen), die Migrationsbewegungen aus den ländlichen Gebieten in die großen Städte und die Emigration vieler Erwerbstätiger nach Frankreich, Belgien und in die Bundesrepublik. Letztere war entscheidend sowohl für Geldüberweisungen nach Spanien als auch für die Verbreitung internationaler Nachrichten aus demokratischen Ländern, die das Franco-Regime nicht mitteilte.
Es war die Erkenntnis des Widerspruchs zwischen dem Modernisierungsszenario und dem Beharren einer repressiven Politik, die den Aufruhr der jungen Generation jener Zeit ganz besonders im akademischen Milieu auslöste.4 Am Beginn der Dekade begann der Protest für die Autonomie der akademischen Strukturen hinsichtlich der Staatsorientierungen in Barcelona und sprang auf Madrid und andere Universitäten über (vgl. Gómez Oliver, 2008: 97).5 Für diese Generation war der wirtschaftliche und soziale Boom mehr als ein Vorwand, das Bildungssystem der Zeit nach dem Bürgerkrieg zu verändern. Dieses System war dem Nationalkatholizismus unterworfen und insistierte auf autoritären Konzepten wie der strikten Auswahl der Dozenten nach dem ideologischen Programm Francos (unabhängig von ihrem wissenschaftlichen Verdienst) und auf der Zwangsmitgliedschaft der Studenten in dem Sindicato Español Universitario (SEU), der einzigen vom Regime zugelassenen Studentengewerkschaft. Zwischen 1962 und 1966 gründeten die Studenten illegale Organisationen wie Federación Universitaria Democrática Española (FUDE) [Spanischer Demokratischer Studentenverband] und streikten, um so die Zulassung einer neuen Gewerkschaft zu erreichen. Diese sollte sie auf eine freie und demokratische Weise vertreten.6
Neben den Protesten im Rahmen der Arbeiterbewegung war es die Studentenbewegung, die wichtige Öffnungen in der Regierung erzwang. Diese wurden vom Informations- und Tourismusminister Manuel Fraga Iribarne vorangebracht, der im Laufe der 1960er-Jahre eine Reihe antiautoritärer Maßnahmen und die Überarbeitung des Pressegesetzes in Gang setzte (vgl. Kornetis, 2008: 256).7 Ab 1967 radikalisierten sich die Studentenproteste an den Universitäten und bis zu Francos Tod nahm die Repression gegen die jungen Oppositionellen durch Verhaftungen, Polizeieinsätze an den Hochschulen und Exmatrikulationen zu.
Die Franco-Diktatur unternahm alle Anstrengungen, um die Hochschulen unter Kontrolle zu halten – schwieriger war es aber, die Gegenkultur zu kontrollieren. Die Ablehnung der ultra-konservativen soziokulturellen Normen begann am Ende der 1950er-Jahre. Durch die jungen Menschen der oberen Mittelschicht verbreitete sich der Pop zunächst durch das Radio und den Musikimport aus Italien und den USA, danach durch Fernsehprogramme wie Escala en Hi-Fi. Einerseits führte die Begeisterung für Gruppen wie El Dúo Dinámico, Los Brincos und Los Bravos zu einem Wechsel in der Musikszene: Anstelle von früher geliebten traditionellen Stilen wie Copla, Bolero und Ranchera hörten die jungen Männer und Frauen Rock und Beat (vgl. Tusell, 2005: 188f.). Andererseits trug die Popmusik zur Aufsässigkeit der jungen Menschen bei, zur allmählichen Frauenemanzipation, zum Austesten von Drogen, zur sexuellen Befreiung und zur Hippiebewegung, die aus dem Ausland kam.8
Die Unterschiede zum Werterahmen der Elterngeneration wurden überdeutlich: Die jungen Spanier trennten sich sowohl vom traditionellen Nationalkatholizismus als auch von der durch die schnelle Industrialisierung geschaffenen Scheinwelt und schmiedeten aus Musik, Mode und freien und unverbindlichen Liebesbeziehungen ihre Protestwaffen gegen die alte Gesellschaft. Es ist damit eher den kulturellen als den politischen Veränderungen zu verdanken, dass diese junge Generation am Geist der Liberalisierung von jenseits der Pyrenäen teilhaben konnte:
Las experiencias que les aportaba el vivir su época, o si se quiere, el pertenecer a la generación de los Beatles emblemáticamente, los distanciaba por fuerza de sus mayores, a quienes les extrañaban sus actitudes y su talante en cambio, sus costumbres y maneras más libres y espontáneas […], sus gustos musicales, sus lecturas, sus aficiones y afecciones… Las inquietudes, expectativas y actitudes ante la vida se manifestaron en una especie clara de ruptura generacional. (Hernández Sandoica et al., 2007: 180; Hervorhebung im Original)
[Die Erfahrungen, die sie auf der Höhe ihrer Zeit machten, oder anders gesagt, die symbolische Zugehörigkeit zur Beatles-Generation, entfernten sie zwangsläufig von den Älteren. Diese wiederum empfanden die Verhaltensweisen und den Willen zum Wandel, die freien Sitten und spontanen Aktionen […], den Musikgeschmack, die Lesetexte, die Vorlieben und Tendenzen der jungen Menschen als fremd. Die Unruhe, die Erwartungen und Lebenseinstellungen zeigten sich in einem deutlichen Generationenbruch.]
Trotz der Einschränkungen bei äußeren Protesten versuchten die jungen Spanier der Mittel- und Oberschicht, ihren Veränderungswillen kundzutun. Dabei wandten sie sich gegen die Komplizenschaft ihrer Eltern mit einem Regime, mit dem sie nicht übereinstimmten. Außerdem hielten sich diese jungen Menschen an ihre politischen und kulturellen Idole, um es derem revolutionären Impetus gleich zu tun und sich auf diese Weise von einer ihrer Meinung nach vielfach in Isolation und sterilem Traditionalismus verharrenden Gesellschaft abzugrenzen. So wurde die junge Generation in den 1960er-Jahren zu einer bedeutsamen Antriebskraft für eine Vision von einem veränderten Spanien.