Читать книгу 1968 in der westeuropäischen Literatur - Ines Gamelas - Страница 9
1.3 »Sois jeune et tais toi«:1 der Ausbruch des Mai 68 in Frankreich
ОглавлениеWährend in der Bundesrepublik die Hauptphase der 1968er-Studentenbewegung die Jahre 1967 und 1968 umfasste und von unterschiedlichen Ereignissen geprägt wurde, die den Revolutionsenthusiasmus der Studenten ständig erneuerten, kristallisierte sich in Frankreich der Höhepunkt des Aufruhrs in den Vorkommnissen des Mai 68. Die Intensität der Proteste, die hohe Zahl der Beteiligten, die auf beiden Seiten der Barrikaden standen – Studenten und Arbeiter vs. Staatsmacht und Polizisten –, das beispiellose Medieninteresse für die Widerstandsaktionen und die Verbreitung aufgeheizter Reaktionen in der öffentlichen Meinung trugen zum Stilisieren des Mai 68 als Mythos bei und machten sie zur Standarte der Studentenbewegungen in Europa.2 Der Mai 68 war jedoch kein isoliertes Ereignis im Kampf der jungen Franzosen für eine Veränderung des Establishments: So wie in anderen westeuropäischen Ländern fanden die jungen Franzosen die Triebkraft für ihre révolution in einer Wirklichkeit mit zahlreichen politischen, wirtschaftlichen und sozialen Problemen.
1967 erlebte Frankreich eine Verlangsamung des seit dem Zweiten Weltkrieg andauernden wirtschaftlichen Wachstums, was zur Implementierung eines Sparmaßnahmenkatalogs im öffentlichen und im privaten Wirtschaftssektor führte. Die Befürchtung, dass eine Krise und eine Rezession, wie sie auch andere große Mächte wie die Bundesrepublik, das Vereinigte Königreich und die USA erlebten, sich auf das unternehmerische und industrielle französische Netz ausbreiten würden, führte zu einer Zügelung in der von General de Gaulle betriebenen politique de grandeur – eine Politik, die neben der Betonung der Autonomie Frankreichs in Bezug auf die Außenpolitik auf ständigen ökonomischen Fortschritt basierte. Die Implementierung dieser Maßnahmen führte zu allgemeiner Unzufriedenheit der Arbeiterklasse, die unter Kaufkraftverlust und geringen Möglichkeiten in der Karriereentwicklung litt. Die junge Generation, besonders die Studenten und Studienabsolventen, spürte ebenfalls diese Unzufriedenheit und sah sich in einer prekären Lage wegen der fehlenden beruflichen Perspektiven auf dem Arbeitsmarkt und den steigenden Arbeitslosenbeiträgen.3
Entscheidend für die Zuspitzung der Jugendproteste im Verlauf des Jahres 1968 waren die von der jungen Generation gefühlte Ausgrenzung von der Gesellschaft und die Krise im Hochschulwesen.4 Trotz der seit einer halben Dekade vorgenommenen Änderungen infolge der Bildungsreform der Minister Christian Fouchet und Alain Peyrefitte, die eine Umgestaltung des Hochschulwesens anhand einer hauptsächlich ökonomischen Perspektive beabsichtigten, sahen sich die französischen Studenten am nde der 1960er-Jahre in einem defizitären Bildungswesen.5 Die Überfüllung der Hörsäle, ein zu kleiner Lehrkörper gegenüber der hohen Studentenzahl, die Wertlosigkeit der akademischen Abschlüsse und Diplome, sowie der autoritäre und elitäre, obsolet gewordene Lehrstil, waren allgemeine Probleme der Universitäten. Diese Probleme bestanden seit Langem sowohl innerhalb der Universitäten als auch auf den neuen Campus, die im Verlauf der 1960er-Jahre in der Peripherie der großen Städte entstanden waren, um der wachsenden Zahl der Studenten zu begegnen.6 Trotz der modernen Bauweise waren diese Universitätsgelände nicht geeignet, die Erwartungen an eine Erneuerung der Ausbildungsstrukturen zu erfüllen und wurden durch den Gegensatz von moderner Architektur und akademischer Stagnation selbst zu Gründen weiterer studentischen Proteste.
Es war auf dem Campus von Nanterre, einer Dependance der geisteswissenschaftlichen Fakultät der Sorbonne in der Umgebung von Paris, wo die Studentenrevolte begann, bevor diese sich in die Hauptstadt verlagerte. Am 22. März 1968, im Anschluss an die Festnahme von Aktivisten durch die Polizei bei einer Demonstration gegen den Vietnamkrieg in Paris, entschieden sich Cohn-Bendit und unterschiedliche kommunistische Gruppen, Trotzkisten, Marxisten und Anarchisten aus Nanterre, dazu, in den Verwaltungsturm der geisteswissenschaftlichen Fakultät einzudringen und den Raum des akademischen Rats zu besetzen. Dabei forderten sie die Einrichtung einer sogenannten kritischen Universität (vgl. Gilcher-Holtey, 2008: 112), d.h. eines neuen Universitätsmodells, das auf kritischem Denken und auf freier Meinungsäußerung basierte.7 Im Verlauf der Monate März und April erlebte Nanterre eine Eskalation des Aufstands. Die Studenten organisierten Demonstrationen, Examensstreiks und Boykotts der Lehrveranstaltungen im Protest gegen die Universität, gegen die Polizei und auch gegen einen stark bürokratisierten und zentralisierten Staat, der traditionell aus geschlossenen Institutionen bestand, welche staatlichen Anordnungen unterstanden (vgl. Judt, 2010: 411). Jedoch war es erst Anfang Mai, als sich die Bewegung aus der Umgebung zur Sorbonne und in die Straßen der Hauptstadt verlagerte, dass die Jugendproteste größere Ausmaße annahmen: Die Verwandlung von Paris in ein »Schlachtfeld« – ein Ereignis, das seinen Höhepunkt in der »langen Nacht der Barrikaden« fand8 – sowie die Solidarität zwischen Studenten und Arbeitern während der Generalstreiks, die das Land wochenlang lahmlegten, sind Ausdruck der Radikalisierung des Protestes gegen die Polizeigewalt und den Autoritarismus eines von de Gaulles dominierten Staats.9
Während der Maiaufstand die Abgrenzung der jungen Menschen von den konservativen Werten der Fünften Französischen Republik – mit ihrem schon 77-jährigen General de Gaulle an der Spitze – deutlich machte, trug er auch dazu bei, die Unzulänglichkeiten der nationalen und internationalen Politik der damaligen Regierung offenzulegen. Dafür war der Protest der Studenten gegen den Vietnamkrieg ein Beleg. Trotz seiner offiziellen Stellungnahme, in der de Gaulle den Krieg verurteilt, zeigte er sich unfähig, diese Position gegenüber den US-Amerikanern mit Nachdruck zu vertreten, und lehnte es sogar ab, das Vietnam-Kriegsverbrechen-Tribunal auf französischem Boden stattfinden zu lassen (vgl. Fauré, 1998: 19). Da die junge Generation den Algerienkrieg um die Unabhängigkeit von Frankreich nicht vergessen hatte, entschied sie, ihre Empörung in Bezug auf den US-Imperialismus und auf die unterwürfige Haltung anderer Großmächte nicht zu verschweigen.10 Dem Schweigen des gaullistischen Frankreichs auf der internationalen Bühne entgegneten die jungen Protestler mit der Unterstützung der Befreiungsbewegungen der sogenannten Dritten Welt. Darüber hinaus solidarisierten sie sich mit den Bürgern aus ehemaligen Kolonien oder diktatorischer Regime, die in beklagenswerten Umständen in den Vororten großer französischer Städte lebten.11
Noch bevor die Streitfälle in den Universitäten und die Tumulte in Paris zu Sinnbildern der Utopie des Wandels der jungen Franzosen wurden, hatten diese schon andere Barrikaden gegen die vorherrschenden Gebräuche der konservativen gaullistischen Gesellschaft errichtet. Beeinflusst von der Kultur des Rock’n’Rolls ahmten die jungen Menschen im Verlauf der 1960er-Jahre den Stil der Stars des yéyé wie Johnny Hallyday, Sylvie Vartan und Claude François nach – eine von den anglosächsischen Rhythmen inspirierte Musikrichtung, die das Bewusstsein der Teenager und Twens jener Zeit revolutionieren sollte (vgl. Joffrin, 2008: 39) – und ließen sich von den Drogen und der Hippiebewegung anstecken. Ende der 1960er-Jahre wurde auch in den großen Metropolen die Herausbildung unterschiedlicher Jugendkulturen, die sich der Massenkultur und -ideologie widersetzten, deutlich (vgl. Capdevielle/Rey, 2008: 140). Die Unangepasstheit der jungen Generation in Bezug auf die von der Konsumgesellschaft aufgezwungenen Moderichtungen fand auf unterschiedlichste Art und Weise Ausdruck, zum Beispiel durch die Zugehörigkeit zu künstlerisch-literarischen Gruppierungen wie den Beatniks, den Surrealisten oder den Existentialisten oder selbst durch die Zuschaustellung von Bärten und langen Haaren, den Stil Che Guevaras und Fidel Castros nachahmend.12
Zu diesem soziokulturellen Umsturz kamen auch andere Themen im Rahmen der sexuellen Revolution: Die Kämpfe für die Legalisierung von Verhütungsmitteln (durch das Neuwirth-Gesetz von 1967 umgesetzt) und für die Aufhebung der Geschlechtertrennung in Studentenheimen waren als eine offene Konfrontation dessen gedacht, was aus Sicht der jungen Menschen eine oberflächliche und obsolete Koketterie der Elterngeneration war.13
Mit dem Appell an die Phantasie, die Kreativität und Veränderung der Wirklichkeit versuchten die jungen Franzosen, sowohl das Schweigen, zu dem sie sich in politischer und medialer Hinsicht gezwungen fühlten, zu brechen als auch das Recht auf Andersartigkeit und Teilhabe an der Gesellschaft einzufordern.14 Die Ereignisse vom Mai 1968 waren im Laufe der Jahre Gegenstand verschiedenster soziologischer Interpretationen und noch heute ist man sich nicht ganz einig in Bezug auf die sozialen, politischen und kulturellen Auswirkungen des Geschehens dieser Zeit.15 Eins ist dabei jedoch unbestritten: Die »expérience utopique« (Morin et al., 2008: 41) [utopische Erfahrung] der jungen Menschen stellt sich sowohl als ein Meilenstein der soziopolitischen und kulturellen Geschichte Frankreichs im 20. Jahrhundert als auch als eine Referenz im Rahmen der Studentenbewegung der 1960er-Jahre in Europa dar. So wie die Geschichtswissenschaftler Marcello Flores und Alberto De Bernardi behaupten: »È a maggio che il 1968 diventa il ‹Sessantotto›« (Flores/De Bernardi, 2003: 71) [Im Mai wurde 1968 zur 1968er-Jugendrevolte].