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Kapitel 18

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Natürlich war sie wie immer viel zu früh dran. Typisch deutsche Pünktlichkeit. Das musste sie sich hier im Süden langsam mal abgewöhnen.

„Zwölf Uhr“, hatte Franca gesagt. „Ich muss noch die Abschlussbesprechung mit Le Blanc abhaken.“

Auf dem Krankenhausgang, nach gefühlten zwei Kilometern, zog sich Marie einen Pappbecher Kaffee aus dem Automaten und setzte sich ins Wartezimmer. Sie nippte an dem Becher und verzog das Gesicht. Es war der schlechteste Kaffee, den sie je getrunken hatte, er schmeckte wie Spülwasser, und das in einer sogenannten Spezial-Privatklinik. Nun musste sie damit auch noch fast eine geschlagene Stunde auf Franca warten. Aber sie wollte ja Tacheles mit der Freundin reden. Schließlich waren sie seit gut dreißig Jahren beste Freundinnen, hatten eine richtig geile Zeit miteinander verbracht, die beste ihres Lebens. Marie schossen Tränen in die Augen. Wieso wurde sie nur so verdammt sentimental, bloß weil offenbar seit Kurzem so ein blöder Kerl zwischen ihnen stand? Sie blinzelte das Nass unter ihren Lidern schleunigst fort und griff nach einer Hochglanzillustrierten, die auf einem kleinen Tischchen vor ihr lag. Sie blätterte sie durch, alles in Französisch, ansonsten der gleiche Schmus über „Königs“, die neueste Mode, das aktuellste Make-up und die Topmodels. Diese Boulevardblätter waren doch in allen Ländern und Sprachen gleich und veränderten sich nie. Außer vielleicht, dass bei „Königs“ heute auch bürgerlich geheiratet werden durfte und Models nur noch selten auf der Straße entdeckt, sondern in Castingshows aus Hunderten anderer Mädels herausgefiltert wurden dank blödsinniger und teilweise gefährlicher „Challenges“.

„Ich habe heute leider kein Foto für dich!“

Marie warf die geisttötende Zeitschrift auf das Tischchen zurück und sah auf die Uhr. Erst eine halbe Stunde vergangen. Sie stand auf und schaute in den Gang. Tür an Tür, dazwischen fahrbare Untersätze mit medizinischen Geräten, Desinfektionsflaschen und Verbandmaterial neben Servierwagen mit Teekannen und Tassen. Marie holte tief Luft; Krankenhäuser hatten seit damals etwas sehr Beklemmendes für sie. Vor zehn Jahren hatte sie auf genau so einem Gang in einer Kölner Klinik gesessen und auf den Arzt gewartet, der ihr dann sagen musste, dass die Auswertung all ihrer Untersuchungen eine bösartige Geschwulst an der rechten Niere zutage gebracht hatte. Die Nachricht traf sie wie ein Schlag aus heiterem Himmel, und sie konnte erst wieder klar denken, als vierzehn Tage später nach der Operation feststand, dass der Tumor nicht gestreut hatte und sie sich zukünftig als geheilt betrachten konnte.

Eilige Schritte auf dem Linoleum holten Marie wieder zurück nach Montpellier. „Ihre Freundin ist jetzt abholbereit“, sagte eine Schwester und führte sie den Gang hinunter bis zu einer geöffneten Türe. Franca saß angezogen auf ihrem Bett und lächelte ihr unsicher entgegen.

„Hast du abgenommen? Du siehst echt scheiße aus, da haben wir ja allerhand zu tun, um dich wieder aufzupäppeln.“

Franca sah sie entsetzt an. „Die Spitze hättest du dir sparen können.“

„War doch nur ein Scherz.“

„Haha, ich lach mich tot.“ Aber dann umarmte sie die Freundin erleichtert, und Marie setzte sich ebenfalls auf die Bettkante.

„Warum ausgerechnet ich?“, fragte Marie schließlich vorwurfsvoll und sah Franca tadelnd an.

„Warum was?“, fragte diese erstaunt zurück.

„Na, warum sollte gerade ich dich abholen, wo du doch jetzt Paul hast.“

„Na hör mal, den habe ich sofort in den Wind geschossen, nachdem mir Cécile erzählt hatte, wie mies er mit dir umgegangen ist.“

„Ach, so viel Einsicht?“

„Also, ehrlich gesagt hatte ich schon länger darüber nachgedacht. Wir fünf Mädels, das ist es. Schluss mit den Beziehungskisten. Nur …“

„Ja?“

„Er steht immer wieder in regelmäßigen Abständen auf der Matte. Neulich hat er sogar vorgeschlagen: Wenn es anders nicht ginge, dann könnten wir doch auch zu dritt …“

„So ein Macho!“ Marie war empört. „Das ist kein Mann, das ist höchstens ein Bumerang!“, beendete sie die Diskussion. „Und nun packen wir deine Sachen …vergiss den Rollator nicht.“

„Ach, lieber doch“, stöhnte Franca.

„Ach, lieber nicht“, antwortete Marie streng. „Ich habe nämlich keine Lust, dich immer wieder vom Boden aufzulesen, solange dein Bein noch nicht ganz standfest ist. Und nun komm endlich, die anderen wollen mit uns auf deine Genesung und Wiederheimkehr anstoßen.“

Eine Viertelstunde später rollten sie vom Klinikparkplatz und bogen auf die Route ein, die letztendlich über Isle-sur-la-Sorgue nach „Les Genets“ im Kreis Gordes führte. Und aus dem Kofferraum schaute, auf- und abwippend, ein Stückchen des verschmähten, auf Zeit ausgeliehenen klinikeigenen Rollators heraus.

Als sie „Les Genets“ erreichten, war die Küche bereits voller Stimmengewirr und Gelächter. Franca wurde stürmisch begrüßt und ließ sich von Cécile völlig erschlagen zu dem bequemen Lehnstuhl führen, der sonst als Kuschelplatz für lange Gespräche neben dem Telefontischchen stand und nun das Kopfende der Tafel einnahm. Julie hatte den alten Holztisch liebevoll mit bunten Blumen aus dem Garten und dicken grünen Kerzen dekoriert. Auf der Anrichte vor dem Kamin stand ein eindrucksvolles Buffet à la provencale. „Alles aus köstlichen Rezepten meiner Urgroßmutter, einer begnadeten Köchin vor dem Herrn“, sagte Cécile stolz.

Franca war so gerührt, dass sie feuchte Augen bekam. Marie stieß sie freundschaftlich in die Rippen: „Willst du jetzt heulen oder deine anderen Gäste begrüßen?“

Paul, Alain und Madame Hélène, die Nachbarin, überreichten ihr strahlend die Begrüßungsmitbringsel. Und während Julie den Riesenblumenstrauß von Paul in mehrere Vasen verteilte, brauchte Franca eine ganze Weile, um alles auszupacken: Shampoo, um graue Strähnchen im Haar zu verdecken, von der Nachbarin und Gesichtscreme gegen vorzeitiges Altern, die sie eigentlich schon seit Längerem benutzte, leider ohne Erfolg. Von Julie und Alain bekam sie eine Zwölferkarte für Physiotherapien in der Nähe von Apt.

„Zeig mal her“, sagte Cécile neugierig. „Ich seh wohl nicht recht. Das ist ja ein wahrer Luxusschuppen dort, mit Wellness, Kosmetik und so …“

„Na ja“, strahlte Alain von einem Ohr zum anderen, als wäre er Le Blanc persönlich, „wir wollen doch, dass unsere operativen Maßnahmen auch weiterhin Früchte tragen.“

„Tata, und jetzt der Höhepunkt“, sagte Marie und überreichte Franca ein hinreißend eingepacktes Etwas. „Cécile und ich haben auch zusammengeschmissen.“ Der Inhalt des Päckchens entpuppte sich als wahrscheinlich einer der teuersten Düfte Frankreichs: „Seductrice“ von Chanel. „Du Verführerin. Aber damit betörst du keine auswärtigen, vergebenen Herren mehr, meine Liebe, sondern gefälligst nur noch uns Mädels hier in der WG, compris ?!“

Fünf strenge Blicke trafen Ex-Paul, den Bumerang. Der grinste verlegen, während Cécile endlich die Champagnerkorken knallen ließ und die wertvollen, geschliffenen Gläser, auch von ihrer Uroma, mit dem köstlichen Gesöff füllte. „Salut , liebe Franca, auf dein ganz besonderes Wohl!“

Salut !“, riefen auch die anderen und man stieß klangvoll miteinander an.

Franca saß wie eine Diva am Kopfende und fühlte sich ganz besonders. Rechts von ihr saß Madame Hélène, daneben Paul und Alain. Marie saß an ihrer linken Seite, daneben Julie. Cécile hatte die Bedienung übernommen, Maries Hilfe aber energisch abgelehnt: „Bleib sitzen, du hast heute schon genug geleistet. Du hast uns Franca wiedergebracht und bist dafür über vier Stunden mit dem Auto durch die Gegend gegurkt, und das Ganze auch noch ohne Navi in einem fremden Land. Ich bin echt stolz auf dich.“

Am Tisch wurde sich mittlerweile laut und lebhaft unterhalten, jeder redete mit jedem und alle durcheinander. Franca und Alain unterhielten sich über Wirbelsäulenerkrankungen im Allgemeinen und im Besonderen. Paul und Julie erinnerten sich quer über den Tisch hinweg an Umbau und Einzug vor drei Monaten in „Les Genets“ und die Nachbarin gab ein paar Histörchen über den WG-eigenen Zoo zum Besten, die die Freundinnen noch nicht kannten. Cécile mischte hier und da immer wieder etwas mit. Als sie sich schließlich an den Tisch setzte, klopfte Franca mit einem kleinen Löffel vorsichtig an ihr kostbares Glas. Irritiert sahen die anderen hoch. Marie hob die rechte Hand: „Haltet mal alle den Rand. Franca will eine Rede halten.“

„Schaut bloß nicht so erschreckt“, sagte diese und lachte. „Ich wollte mich nur bei euch noch mal ganz besonders herzlich bedanken, für alles, was ihr in letzter Zeit so für mich getan habt. Also encore : merci, grazie und saluto! Aber nun muss ich mich aufs Ohr legen, sonst war die ganze Krankenhausarie womöglich für die Katz.“ Sie erhob sich stöhnend und stützte mit der Hand ihren Rücken ab.

Marie sprang auf und zog den großen Lehnstuhl nach hinten. „Nehmen Sie bitte meinen Arm, Gnädigste, ich begleite Sie persönlich in Ihre Kemenate. Und der Schmeichler dort“, sie zeigte auf Paul, „wird Ihren ungeliebten fahrbaren Untersatz leer hinter Ihnen herschieben.“ Lachend verschwanden die drei samt Rollator durch die barrierefreie Galerie in Francas Appartement.

Als Marie Anstalten machte, zu den anderen zurückzukehren, hielt Paul sie vor der Tür zur Küche sanft am Arm fest. „Warte mal, chérie , ich möchte dir gerne die Sache mit Franca erklären und mich für mein unsensibles Verhalten entschuldigen.“

„Ach, lass das mal lieber“, sagte Marie. „Franca und ich tragen es mit Fassung und du guckst nun sowieso in die Röhre. Jetzt sollten wir alle drei einfach nur noch darüber lachen und Freunde bleiben, n’est-ce-pas?“

Dem überraschten Paul blieb nichts anderes übrig, als zustimmend zu nicken.

Als sie in die Küche zurückkehrten, räumte Julie gerade die Geschirrspülmaschine ein.

„Wo sind denn die übrigen Gäste geblieben?“

Cécile begann die antiken Urgroßmuttergläser von Hand abzuwaschen. „Madame Hélène ist zurück in ihr eigenes Haus gegangen und hat netterweise unseren Zoo mitgenommen, damit wir in Ruhe aufräumen können. Alain hat sich ein Taxi zum Bahnhof in Avignon bestellt, er hat morgen Frühdienst“, erklärte sie.

„Na, dann will ich auch mal verschwinden“, sagte Paul, „es ist ja schon weit nach Mitternacht.“ Er verteilte wie immer Handküsschen in die Runde und verschwand nach draußen zu seinem Wagen.

Marie griff sich ein Trockentuch und fing schweigend an, die geschliffenen Gläser zu polieren, die Cécile ihr hinstellte.

„Das ist ja hier wie auf einer Trauerfeier“, sagte Julie da plötzlich. „Was haltet ihr davon, wenn wir noch eine Flasche köpfen und uns vom Rest des Büfetts bedienen?“

„Klasse Idee!“ Marie legte das Handtuch beiseite und Cécile trocknete sich die Hände ab. Sie nahmen Champagner, einfache Wassergläser – „Die müssen wir nicht noch mal per Hand spülen“ – und wollten gerade mit ihren beladenen Tellern nach draußen zum überdachten Sitzplatz gehen, um den schönen Abend ausklingen oder besser den nahenden Morgen begrüßen zu können, da läutete das Telefon.

Merde“, sagte Cécile sauer und knallte ihre Sachen zurück auf den Küchentisch, „es ist fast zwei Uhr in der Früh!“ Sie nahm den Hörer ab. „Ich möchte bloß mal wissen, welcher Kretin um diese Zeit sich traut bei uns anzurufen … Allôôô ?!“

„Befehl ausgeführt: Wohnung samt Möbel an Kollegin vermietet, Rest gepackt, jetzt muss ich eigentlich nur noch meinen Flug buchen!“, teilte Eleni aufgeregt mit.

„Weißt du, wie viel Uhr wir haben?“

„Nee, aber warte mal, ich gehe schnell nachschauen!“

„Eleni!“ Cécile schaute zu Julie und Marie hinüber und verdrehte die Augen.

„Wir haben jetzt genau fünfzehn Minuten vor drei Uhr morgens … hier in Griechenland.“

„Das weiß ich“, sagte Cécile, nun doch lachend, „meine Frage war auch keine Frage, sondern eher eine Drohung. Wir freuen uns auf dich, aber ein paar Stunden später wäre die Freude auch nicht kleiner gewesen … Apropos: Wieso willst du den Flug nur ‚eigentlich‘ buchen, ich denke, das ist eine sichere Sache?“

„Entschuldige bitte wegen der frühen Stunde“, antwortete Eleni geknickt, „aber ich wollte unbedingt noch etwas mit euch klären, bevor ich Haus und Hof verlasse.“

„Und das wäre?“ Cécile schaltete das Telefon auf Zimmerlautstärke, so konnten Marie und Julie mithören.

„Tja“, Eleni zögerte, „ich …äh … ich wollte euch fragen, ob ich … äh … meinen Diogenes mitbringen darf.“

„Den ollen Philosophen?“ Nun prusteten die Freundinnen los.

Eleni musste auch lachen. „Wo denkt ihr hin. Das ist mein kleiner Hund.“

„Seit wann hast du denn einen Hund?“ Allgemeines Erstaunen am anderen Ende der Leitung.

„Der ist mir vor zehn Tagen sozusagen zugelaufen, das heißt, er lag völlig verängstigt in einer alten verrosteten Tonne …“

„Ach, deshalb der große Name“, begriff Cécile.

„Eben! Nun ist er entwurmt, geimpft und gechippt. Ich wollte ihn ja eigentlich hier lassen, aber meine Kollegin mag keine Hunde, sie sagt, sie reagiere allergisch auf Diogenes. Und das stimmt sogar. Sobald er zu ihr auf den Schoß springt, bekommt sie kurz danach juckende rote Flecken. Und aussetzen will ich ihn auch nicht wieder, da landet er nachher noch in einer dieser grässlichen Tötungsstationen. Darf ich ihn also mitbringen?“

„Das ist doch keine Frage“, antworteten Cécile, Marie und Julie sofort. „Franca schläft zwar schon, aber die hat bestimmt nichts dagegen. Vielleicht freut sich dein Kleiner ja über unseren bereits vorhandenen Zoo und der über ihn. Was ist dein ‚Philosoph‘ denn für eine Rasse, groß, klein, kurzhaarig, langhaarig oder …?“

„Wartet mal. Wir legen jetzt auf und ich skype euch an. Dann kann ich Diogenes gleich bildlich vorstellen. Vielleicht holt ihr in der Zwischenzeit auch euren Zoo vor den Computer, haha.“

Cécile stellte den Laptop auf den Küchentisch und klappte ihn auf.

Dann harrten die Freundinnen gemeinsam vor dem Bildschirm der Dinge, die kommen sollten.

„Hallo“, sagte da auch schon Eleni und hielt ihr Hündchen vor das Kameraauge. „Ist er nicht süß?“

„Oh“, sagte Marie überrascht, die sich mit Hunderassen gut auskannte, „das ist ja ein entzückendes Mitglied der Familie Chihuahua!“

„Ja, einfach goldig“, freuten sich Julie und Cécile.

„Moment, Moment“, stoppte Eleni die Begeisterung, „hinten ist er …“, und sie drehte den Kleinen mit der Kehrseite Richtung Provence, „... also hinten ist er so was wie ein Zwerg-Kurzhaardackel-Pinscher und vielleicht noch ein bisschen Jack-Russell-Terrier.“

Marie, Julie und Cécile rangen nach Fassung, doch dann platzte als Erste Marie los: „Ich will ihn ja nicht beleidigen, ich glaube jedoch, der echte Diogenes würde sich in seiner Tonne umdrehen, wenn man ihn mit deiner hinreißenden Straßenmischung äußerlich vergliche. Das war bestimmt so ein großer, ästhetischer, gottähnlicher Grieche, oder?“

„Na, wenn schon“, Eleni musste ebenfalls lachen, „auf das Herz kommt es an. Und da hat mein Diogenes bestimmt weit mehr zu bieten als der olle Philosoph – schaut mal, wie freundlich er mit seinem Dackel-Pinscher-Jack-Russell-Schwänzchen wedelt.“

„Alles klar.“ Die drei Freundinnen kicherten immer noch. „Und nun buch so schnell du kannst euren Flug und sag uns Bescheid, wann und auf welchem Flugplatz wir euch dann abholen können.“

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